Tränen rollen Minnies Wangen hinab. Sie schaut auf den Kalender über dem Bett. Dieser Tagebucheintrag ist nun gute zehn Monate alt. Eine verspätete Antwort auf ihre damaligen Fragen. Jake war der eine Mann, den sie heiraten wollte. Bis er von heute auf morgen verschwand und ihr das Herz brach. Jetzt zu lesen, dass genau das nie seine Absicht war, versetzt ihr einen tiefen Stich. Gleichzeitig ist sie erleichtert. Mit zitternden und Händen blättert sie den letzten Tagebucheintrag auf.
Montag, 03. April 2015
Liebe Minnie, dieser Eintrag ist nur für dich! Hast du das Buch gelesen? Damals durfte ich dir zu deinem Schutz nicht erzählen. Ich war wie gelähmt über das unerwartete Ausmaß und habe mich strickt an alles gehalten, was die Staatsanwaltschaft mir gesagt hat. Die Beweislage für die Geschäftsführer ist mittlerweile so erdrückend, dass ich nicht mehr viel zu befürchten habe. Deshalb stelle ich dir jetzt eine wichtige Frage: Kannst du dir ein Leben mit mir in Bolivien vorstellen? Du fehlst mir! Ich werde am 21. Mai in der Ankunftshalle am Flughafen von La Paz auf dich warten. Dieses Datum hat uns schon einmal zusammengebracht – vor genau sechs Jahren. Ich liebe dich!
Dein Jake
Minnies Magen krampft ich zusammen. Sie beginnt heftig zu weinen und schnappt nach Luft. Plötzlich geht die Schlafzimmertür auf und ein Mann setzt sich zu ihr: „Schatz, was hast du? Warum bist du noch wach?“
Minnies Verlobter, Alejandro, nimmt sie sofort in den Arm. Das lederne Notizbuch rutscht bei der Umarmung von der Bettdecke und landet lautlos auf dem Teppichboden weit unter dem Bett. Minnie bringt kein Wort heraus. „Liebling, sag‘ doch bitte was. Ist etwas mit unserem kleinen Jungen?“ Besorgt streicht der Spanier mit einer Hand über ihren mittlerweile leicht sichtbaren Babybauch.
„Nein, es ist alles in Ordnung. Ich konnte nicht einschlafen und die Hormone spielen verrückt. Geh‘ du ruhig schon duschen. Du bist sicherlich erledigt von deiner Nachtschicht im Krankenhaus. Ich mache uns Frühstück.“
Auf dem Weg in die Küche wird Minnie bewusst, dass ihr Alejandro nie begegnet wäre, wenn das Notizbuch vor dem 21. Mai bei ihr angekommen wäre. Dieses Päckchen hätte ihr Leben verändert.
Grün oder braun?
Christine Alexander
„Feldsalat!“
„Entschuldigung?“ Gianni Bologna sah von der Zeitung auf.
Er sah zu Franzi Schneider hinüber. Die hübsche, rot-gelockte Dame war die Frau von Avvocato Schneider, für den er manchmal Recherche-Jobs erledigte. Paolos Espresso, der beste nördlich von Neapel, führte sie fast allmorgendlich hier im Café P zusammen.
„Ich habe gerade Feldsalat verstanden.“
„Gianni, ich überlege gerade, was ich heute Abend zum Essen mache, solange dieser blöde, Klaus-Jürgen noch nicht da ist.“
Klaus-Jürgen, den Namen hatte er hier noch nie gehört.
Franzi Schneider schien seine Gedanken zu lesen:
„Klaus-Jürgen ist ein Kommilitone von mir. Wir haben ein gemeinsames Projekt. Einen kleinen Feldversuch.“
„Und der kommt zu Ihnen zum Essen um Feldsalat zu testen?“
„Um Gottes, willen, den könnte ich nicht zu uns einladen. Uwe würde wahnsinnig.“
„Sieht der so gut aus?“
„Natürlich nicht so gut wie du, falls du das hören wolltest –
Im Gegenteil, er ist ein total zotteliger Typ, irgendwo zwischen Alm-Öhi und Alt-Achtundsechziger. Perfekt für unseren Versuch.“
„Mit Feldsalat?“
„Nein - aber wenn du es unbedingt wissen willst, erzähle ich es dir.“
Giovanni überlegte, ob er wirklich wissen wollte, was Frau Schneider so in ihrem späten Soziologie-Studium trieb. Von Feldern und von Versuchen darauf wusste er genug, schließlich hatte seine Familie in der Toskana ein großes Anwesen und früher mussten er und sein Bruder täglich mit dem Vater aufs Feld.
„Ok, hör zu“, sagte die Unverdrossene und setzte sich etwas näher an ihn heran. Er kehrte wieder in die Gegenwart zurück und atmete unmerklich tief durch.
„Also, Klaus-Jürgen und ich haben ein etwas längeres Projekt im Rahmen eines Politik-Seminars – Paolo, kannst du Gianni bitte noch einen Espresso bringen?“ Sie hatte es gemerkt.
„Du, das ist total interessant.“ Auch das noch. Er blickte hilfesuchend zu Paolo hinüber, der ihm gerade mit stoischer Miene den Espresso brachte.
„Es geht da um eine Untersuchung im Schrebergarten-Milieu.“
Jetzt musste Gianni doch grinsen. Die beiden Worte Schrebergarten und Milieu fanden in seinem Kopf zu einem sehr skurrilen Bild zusammen.
„Lach nicht, da könntest du eine Menge über die Deutschen lernen“, sagte sie todernst.
„Die Deutschen?“ Giovanni überlegte, aber nur ganz kurz.
„Ok, dann will ich sofort da hin.“ Er strich sich durch die schwarzen Locken und schenkte seiner Tischnachbarin sein offenstes Lächeln. Franzi Schneider schaute ob dieser unerwarteten Charme-Attacke allerdings eher skeptisch als entzückt.
„Also, wenn es dort die Deutschen gibt, die es ja angeblich genauso wenig geben soll, wie die Italiener...“
„Oh, Gianni, super, danke schön.“
„Wie? Was? Wofür?“ Was hatte er denn jetzt gerade nicht mitbekommen?
„Ehrlich gesagt hatte ich mir schon Sorgen um Klaus-Jürgen gemacht.“ Plötzlich war sie sehr ernst.
„Warum?“ - Oh, Gott, das kannte er schon, jetzt hatte sie ihn.
Wenn Frau Schneider so ernst wurde, dann war sie absolut betörend. Dann musste man sich einfach für sie und ihr Problem interessieren. Und vor allem musste man es so schnell wie möglich lösen, um danach wieder in den ungefährlichen Plauder-Modus zurückzufinden.
„Klaus Jürgen ist, wie soll ich sagen“, sie schlug die Beine in den Prada-Jeans übereinander und verschränkte die Arme vor der weißen Bluse. „Also, er ist etwas labil.“
„Und was heißt das?“
„Er ist einfach ein unzuverlässiges A...“, sie bezähmte ihre plötzliche Wut.
„Er ist suchtgefährdet, um das einmal vorsichtig auszudrücken.“
„Wo ist jetzt genau das Problem?“, wollte Gianni wissen.
„Und worum geht es eigentlich bei der Untersuchung? – Und was habe ich damit zu tun?“
Franzi Schneider setzte sich auf.
„Wir wollen untersuchen, ob es bei Schrebergärtnern vorherrschende politische Ansichten gibt.“
„Und?“