Sie wies den Gästen den Weg ins Esszimmer, wo Milan bereits am Tisch Platz genommen hatte. „Das Essen ist gleich fertig“ erklärte sie und sprach dabei betont langsam.
„Ich möchte bitte küssen“, sagte Milans Mutter.
Sie war gerade dabei, eine Blumenvase aus der Glasvitrine zu nehmen, und hielt abrupt inne. Ihr Mann, der mit einer Weinflasche hantierte, war ebenfalls irritiert. „Wie bitte?“, fragte er.
„Küssen. Bitte.“, wiederholte Jolanka.
Sekunden verstrichen, in denen niemand etwas sagte, sogar die Kinder waren still.
Auf dem Gesicht ihres Mannes erschien der Anflug eines Lächelns. „Hier?“, fragte er Jolanka und deutete auf seine Wange.
„Nein“, erklärte Jolanka. „Hier“, und sie zeigte auf ihr Gesäß.
Die Vase klirrte, als sie sie zu schnell und aus zu großer Höhe auf den Boden der Vitrine zurück stellte. Ihr Mann erstarrte. Jolanka lief durch die offene Schiebetür ins Wohnzimmer und nahm eines der Sofakissen. „Küssen. Für Popo“ erklärte sie und schob das Kissen Milan unter das Gesäß, der zuvor kaum über die Tischkante hatte schauen können.
Ihr Mann sah erst Jolanka und dann sie an und dann schüttelte sich sein ganzer Körper vor Lachen. Sie fiel sogleich in das Lachen ihres Mannes ein und es fühlte sich an wie der erste Atemzug nach einem langen Tauchgang, wie das Lösen eines Hosenknopfes nach einem üppigen Essen. Dann erklärte ihr Mann Jolanka und Stanko unter dem Einsatz von gespitztem Mund und Schmatzgeräuschen den Unterschied zwischen „Kissen“ und „Küssen“ und Jolanka verbarg ihr Gesicht in ihren Händen, bis Stanko sie lachend an sich zog und ihr einen Kuss auf ihre Wange gab.
Als sie mit dem Dessert fertig waren und die Kinder schon längst nicht mehr hatten stillsitzen können, kam Milan mit einem alten Fotoapparat aus dem Wohnzimmer.
„Der Apparat ist leider kaputt. Das Objektiv klemmt“, sagte ihr Mann zu dem Jungen, der ihn nicht zu verstehen schien. „Keine Fotos“, sagte ihr Mann und schüttelte den Kopf.
Damit weckte er Stankos Interesse. „Ich kann sehen?“ fragte Stanko und ihr Mann gab ihm den Fotoapparat. Er drehte und wendete die Kamera und drückte einige Knöpfe. Dann zog er ein Taschenmesser hervor, löste geschickt ein paar Schrauben und nahm das Gehäuse ab. Er bog das Objektiv sanft ein wenig zur Seite und setzte dann alles wieder zusammen. Als er die Kamera einschaltete, fuhr das Objektiv mit einem leisen Summen vollständig aus. Milans Augen leuchteten. Sie fanden einen Film, den sie in den Apparat einlegten, und Milan lief mit der Kamera durch die Wohnung wie ein wildes Tier auf der Suche nach Beute. Dann dirigierte Milan die Erwachsenen und seinen Bruder für ein Gruppenbild auf das Sofa, blickte mit einem Auge durch den Sucher, während er das andere Auge zusammenkniff, und drückte sichtlich zufrieden auf den Auslöser.
Siebzehn Tage nachdem sie zusammen Mittag gegessen hatten, waren sie fort. Von einem Nachbarn erfuhren sie, dass man sie um fünf Uhr morgens abgeholt hatte. Mit acht Polizeibeamten waren sie gekommen. Alles, was von ihnen geblieben war, war eine Anschrift in Serbien, die sie vom Vermieter in Erfahrung bringen konnten. Der Straßenname klang wie der zärtliche Kosename einer uralten Großmutter.
Sie saßen in ihrem Wohnzimmer und hörten das Ticken der Uhr und das Surren des Kühlschranks. Es kam ihr vor, als würde er übertrieben oft mit der Zeitung rascheln, um die Stille zu überdecken. Als zwei Wochen vergangen waren, bauten sie das Planschbecken ab.
Anfang September kam ein Brief von der Drogerie, der sie höflich aber bestimmt dazu aufforderte, die entwickelten Fotos in der Filiale abzuholen. Gemeinsam sahen sie sich die Fotos an. Einige Fotos waren leicht verwackelt, aber die einzelnen Motive waren gut zu erkennen. Milan hatte ihre Schuhe im Flur fotografiert, die Parfumflakons im Bad und die Bücherrücken im Wohnzimmer.
Auf der überwiegenden Anzahl der Fotos hatte Milan durch ihre Fenster fotografiert. Der Blick auf die Straße. Der Blick zum Nachbarhaus. Der Blick in den Garten. Manchmal spiegelte sich dabei der Blitz in der Scheibe.
Dann kam das Gruppenbild. Es schloss oben mit dem Hals der Porträtierten ab. Keiner der Köpfe war auf dem Bild zu sehen. Sie mussten einige Zeit überlegen, wer wo gesessen hatte. Einem Außenstehenden wäre es unmöglich, sicher zu sagen, welche Hosenbeine auf dem Foto zum wem gehörten.
Während ihr Mann das Briefpapier holte, meinte sie, durch das geöffnete Fenster das Lachen eines Kindes zu hören.
Schicksalhaftes Päckchen
Kavitha Rasch
Marla schaltet den Staubsauger aus. Es läutet erneut an der Haustür.
„Sind Sie Minnie Murphy?“
„Ja.“
„Ich habe hier ein Päckchen für Sie.“
„Von wem?“
Der Postbote zuckt mit den Schultern und bittet um ihre Unterschrift. Dann verabschiedet er sich wieder.
Das braune Umschlagpapier schaut verschlissen aus. Als sei das Päckchen ewig unterwegs gewesen. Auch der Absender ist nicht mehr entzifferbar. Sie zieht an der ausgefranzten Kordel. Die Paketschnur lässt sich nicht ohne eine Schere öffnen.
Wenige Minuten später sitzt sie am Esstisch und starrt auf ein Notizbuch mit Ledereinband. Sie blättert es auf und hält fassungslos die Luft an. Die Schrift ist ihr vertraut. Es sind die Worte von Jake. Über ein Jahr ist es her, dass er sie verlassen hat.
Montag, 9. Juni 2014
Was für ein ätzender Flug. Bin heute in La Paz gelandet. Die Absteige, in der ich nun vorrübergehend wohnen muss, ist schrecklich. Überall sind Wasserflecken an den Wänden. Alles ist karg eingerichtet. Erinnert mich an eine spärlich möblierte Tiefgarage. Ich kann verstehen, dass der Staatsanwalt mich in Sicherheit wissen wollte. Nur warum in Bolivien? Mein Handy musste ich noch vor der Abreise abgeben. Kontakt zu Freunden ist mir strikt untersagt worden. Minnie fehlt mir! Es war schrecklicher, ihr vorzutäuschen, sie verlassen zu wollen. Immer wieder hat mir der Staatsanwalt gesagt, wie wichtig es ist, dass mein Untertauchen so real wie möglich wirken muss.
Minnie macht einen Tee. Ihre Hände zittern vor Aufregung. Sie fühlt sich Jake so nah wie schon lange nicht mehr. Damals dachte sie, er würde schnell wieder zu ihr zurückkommen. Mit der Zeit hat sie die Trennung letztendlich akzeptiert.
Dienstag, 8. Juli 2014
Die Zeit steht still. Ich vermisse mein altes Leben, meine gewohnte Umgebung und Minnie! Dieses Tagebuch ist meine kleine Welt geworden. Wenn das weiter so geht, drehe ich noch durch. Einzig positiv: Habe die Freizeit genutzt und mein Spanisch aus der Schulzeit wieder auf Vordermann gebracht. Es reicht jetzt um Unterhaltungen zu führen. Südamerikaner sprechen zum Glück deutlich langsamer als Spanier. Ich bin einsam.
Draußen wird ist es dunkel. Die ersten Lichterketten leuchten auf. Letztes Jahr brachte Minnie es nicht übers Herz die Weihnachtstage alleine zu verbringen. Dieses Jahr sieht ihr Feiertagsprogramm völlig anders aus.
Warum hat Jake ihr dieses Tagebuch geschickt? Sie brüht einen weiteren Tee auf, macht es sich im Bett bequem und liest weiter in Jakes Vergangenheit.
Donnerstag, 31. Juli 2014
Mittlerweile gehe ich in den vielen Gassen der Stadt nicht mehr verloren und habe feste Spazierstrecken. Auch die dünne Luft bei 6000 Meter überm Meeresspiegel macht meiner Lunge nichts mehr aus. Die Menschen sind freundlich. Ich werde oft gegrüßt. Vermutlich, weil ich durch meine beachtliche europäische Körpergröße schnell als Tourist entlarvt bin. Am liebsten esse ich diese Fladen aus Maismehl auf der Avenida los Fernandos. Diese Teigpuffer aus den heißen Tonpfannen haben es mir echt angetan. Auch