Wilhelmina. Susanne B. Kock. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Susanne B. Kock
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844233919
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dem Jubel und Applaus der Freunde kletterte sie auf die Holzbank, schürzte ihr Kleid und begann ihre schlanken Beine zu schwingen, bis ihre Tischnachbarn sie unter dröhnendem Gelächter wieder auf den Stuhl zogen.

      „Noch ein Fläschchen zur Stärkung und dann geht’s ab“, verkündete Beatrix lauthals und schaffte es im Laufe kürzester Zeit, den Ober mit einem weiteren Eiskübel heranzulocken. Ohne zu wissen, woher es kam, hatte Wilhelmina plötzlich wieder ein volles Glas vor sich stehen. „Du, Trixi ich würde wirklich gerne noch mit, aber ich habe gerade wieder eine Predigt über mich ergehen lassen müssen und eigentlich auch nur was von Kino gesagt heute Abend, heute muss ich wohl mal vor Mitternacht nachhause. Du weißt, solange du die Füße noch unter unserem Tisch hast.“ „Ach du Ärmste, ich kenne das, aber heute habe ich frei. Mutter zur Kur, Vater in der Loge, das muss ausgenutzt werden!“ Wilhelmina arbeitete sich langsam aus der Sitzreihe heraus und wurde mit bedauernden Bemerkungen und unter lautstarken Gutenachtwünschen entlassen. Als sie aus dem erleuchteten Gartenlokal mit dem vielkehligen Gesprächen auf die stille dunkle Strasse trat und Trixis übermütigen Kampfruf allons enfants hörte, wäre sie am liebsten wieder umgekehrt. Ich bin doch wirklich alt genug, selbst über mein Leben zu bestimmen und darüber, wann es an der Zeit ist, ins Bett zu gehen, dachte sie trotzig. Nur weil ihre Mutter immer noch den Anstandsregeln des vorigen Jahrhunderts folgte, wenn es darum ging, was eine junge Dame zu tun und insbesondere zu lassen hatte, war sie gezwungen, die Klicke zu einem Zeitpunkt zu verlassen, wo der unterhaltsamste Teil des Abends gerade angefangen hatte. Besonders wenn Beatrix, versehen mit der rheinischen Frohnatur ihrer Mutter und dem soliden Taschengeld ihres Vaters, sich an die Spitze der abendlichen Unternehmung stellte, würde es auf jeden Fall nicht langweilig werden. Auf der anderen Seite hatte sie wenig Lust, sich morgen am Frühstückstisch eine weitere Moralpredigt ihrer Mutter anzuhören. Als Trostpflaster für den entgangenen Abend war da ja auch noch der große Ball im Yachtklub. Wenn sie sich jetzt bei ihrer Mutter ein bisschen Liebkind machte, dann würde sie ihr bestimmt die dreifache Perlenkette leihen, die Wilhelmina bereits heimlich zum neuen Kleid anprobiert hatte. Zusammen mit den neuen Satinsandalen würde sie eine strahlende Figur machen. Sie freute sich auf Gerhards Gesicht, wenn er sie in der Robe sah. „Darf ich Sie begleiten?“ Wilhelmina fuhr erschrocken zusammen, sie war so in ihre eigenen Gedanken vertieft, dass sie ihn nicht hatte kommen hören. „Laurids, mein Gott. Was wollen Sie denn! Wollen Sie denn auch schon nach Hause“, fragte sie ungewollt brüsk. Es hatte sie erschreckt und es war ihr peinlich, das ihm gegenüber einzuräumen.

      „Wissen Sie, ich bin nicht gerade das, was man einen begnadeten Tänzer nennt. Ich glaube, man wird mich in der Runde nicht weiter vermissen“, erwiderte er im gleichen spöttisch verlegenen Ton wie am letzten gemeinsamen Abend. „Für mich sah es eigentlich so aus, als würden sie sich glänzend amüsieren und ich bin mir sicher, dass Trixi Ihnen sicher gern auf die Sprünge geholfen hätte“, kam es ungewollt schnippisch. „Ach, ich glaube, dass die schöne Beatrix den Verlust eines einzelnen Anbeters verschmerzen wird.“ Er sah sie an und lächelte. „Und wenn nicht, dann kauft Papa ihr sicher einfach einen Neuen.“ Wilhelmina musste lachen. „Dafür, dass Sie neu in der Klicke sind, haben sie schon viel begriffen“. Er zuckte mit den Schultern. „Übung macht den Meister, darf ich Sie denn nun begleiten? Ich kenne den Weg.“

      Sie gingen schweigend durch die menschenleere Forstbaumschule. Ab und zu das Rascheln eines Vogels in den trockenen Blättern, ansonsten war es so still, dass sie den Kies unter den Schuhen knirschen hörte. Trotz der späten Stunde war es immer noch nicht richtig dunkel, die hellen Blüten in den Jasminbüschen leuchteten und sandten intensive Duftschwaden in die Sommernacht. Laurids versuchte mehrmals ein Gespräch anzufangen, verstummte aber stets nach einem einleitenden Räuspern. „Wollen wir uns nicht ein bisschen hinsetzen und den herrlichen Abend genießen“, sagte er endlich, als sie die grünlich schimmernde Apollonstatue in der Mitte des Parks passierten. Er griff nach ihrer Hand und zog sie auf eine der Bänke, die von einem Spalier blühender Rosen überdacht im Halbkreis um den Sockel der Statue gruppiert standen. „Netter als im Biergarten und mit einem entschieden angenehmeren Publikum.“ Er klopfte zwei Zigaretten aus der Packung. Wilhelmina nahm sie dankbar an. „Warum sind Sie eigentlich in Kiel, nur zum Segeln?“ „Nein, schön wär’s, ich bin hauptsächlich zum Arbeiten hier. Das Segeln ist nur eine Nebenbeschäftigung. Ganz genau genommen bin ich zum Forschen gekommen. Hier in Deutschland ist man bei der Erforschung von antibakteriellen Wirkungen gewisser Stoffe wesentlich weiter als bei uns in Dänemark. Und dieses Gebiet hat beruflich mein allergrößtes Interesse. Die Frage ist: Wie kann man bakterielle Infektionen wirkungsvoll und billig bekämpfen? Wie kann man das Kindbettfieber ausrotten, verhindern, dass Kinder an Diphtherie sterben, Epidemien aufhalten. Domagk, unzweifelhaft eine der größten Koryphäen auf diesem Gebiet hat zwar der Universität den Rücken gekehrt, aber deswegen ist der Forschungseinsatz in der Stadt hier immer noch beachtlich.“ Er zog an der Zigarette und für eine Sekunde tauchte die Glut sein Gesicht in ein weiches warmes Licht. „Ach und ich dachte, Sie wollten in den Urwald.“ Wilhelmina hörte sich fast enttäuscht an. „Urwald tja“, er lachte leise, ja ich will auf jeden Fall eine Zeitlang in Ländern arbeiten, in denen die Menschen nicht so privilegiert sind, dass sie an jeder Ecke einen Arzt oder ein Krankenhaus zur Verfügung haben. Ich möchte gerne etwas ausrichten, etwas für die Schwächsten tun, um die sich sonst niemand kümmert. Menschen, die schon von Geburt an benachteiligt sind, nur weil ihre Mütter arm oder krank oder ungebildet sind oder alles auf einmal, ich möchte“, er schlug mit der geballten Faust auf die Bank, „ich möchte mit den Mitteln, die mir zur Verfügung stehen, die Chancen für einige Menschen verändern, selbst wenn es sich nur um eine Handvoll handelt.“ Er holte tief Luft, strich sich mit der Hand durchs Haar und schickte Wilhelmina, die ihn nach diesem unerwarteten Ausbruch stumm und wie vom Donner gerührt ansah, einen trotzigen Blick. „Passt nicht ganz in die herrschende Ideologie, ist mir schon klar, aber ich…“ er stockte und suchte nach dem passenden Ausdruck. „Ich kann einfach nicht anders.” Wilhelmina betrachtete ihn, immer noch stumm. Nach diesem Redeschwall ließ er sich wohl kaum mit einer schlagfertigen Antwort, ihrer Standardlösung, wenn es galt sich ohne Gesichtsverlust aus einer gefühlsmäßig brenzligen Situation zurückzuziehen, abspeisen. „ Ähm, also ich … ich…“, sie blickte ihn hilflos an, bemerkte den Wechsel in seinem eben noch fast zornigen Gesichtsausdruck, spürte seine Hände und Sekundenbruchteile später seinen Mund auf ihrem. Sie registrierte, dass sein Körper, der sich an sie drückte schmal und sehnig war, schmeckte seine salzigen Lippen und fand mehr von dem schweren Moschusduft, den sie bereits am ersten Abend in schwacher Ausgabe an seinem Pullover wahrgenommen hatte. Wilhelmina wurde leicht schwindlig, sie fühlte, dass langsam der feste Boden unter ihren Füssen verschwand und durch Watte ersetzt wurde. Eine heiße Welle fuhr durch ihren Körper, sie spürte den Pulsschlag im Unterleib und dachte plötzlich an D.H. Lawrence. Mit bebenden Lippen hatte sie seine Romane verschlungen, ihre Lieblinsgabschnitte wieder und wieder gelesen, bis sie sie auswendig kannte. Und jetzt saß sie hier und erlebte am eigenen Leib, was sie nur in der Welt der Literatur für möglich gehalten hatte. „Jetzt bist du dran Wilhelmina“, fuhr es ihr durch den Kopf, als die Berührung von Laurids Händen erneut eine Welle heftiger Schauer in ihr auslöste und er ihr mit heiserer Stimme unverständliche Zärtlichkeiten ins Ohr murmelte. „Laurids, nein … bitte nicht.“ Sie setzte ihm mit der Andeutung einer abwehrenden Geste ihre Hände auf die Brust. „Wir dürfen nicht, wir… Laurids ich bin verlobt, du musst …“. „Psst“, er strich ihr behutsam eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sah ihr ernst in die Augen. „Wilhelmina, ich liebe dich! Seit ich dich bei Lüthjes zum ersten Mal gesehen habe, bist du mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Deine Augen, deine Stimme, dein Duft. Das Erste, was ich morgens beim Aufwachen denke ist, wie ich es wohl anstelle, dir zufällig zu begegnen und das Letzte, was ich vor dem Einschlafen denken kann, ist , wie wunderbar es wäre, dich für immer an meiner Seite zu haben.“ Wilhelmina öffnete den Mund, um zu protestieren, aber er legte ihr nur vorsichtig einen Finger auf die Lippen, nahm ihre Hand und fuhr fort. „Du bist die Frau, von der ich mein Leben lang geträumt habe, wir beide, wir könnten …Wilhelmina, willst du mit mir zusammen die Welt retten?" Trotz der dick aufgetragenen Ironie hatte er eine solche Inbrunst in diese Frage gelegt, dass Wilhelmina plötzlich aufging, dass es sich hier nicht um einen heftigen Flirt handelte, sondern dass es ihm Ernst war. Sie hatte gerade hier auf der Parkbank den zweiten Heiratsantrag ihres Lebens erhalten und im