„Liebster Stefan, ich wollte Dich eigentlich anrufen aber“, nein, das hörte sich auch wieder total bekloppt an. Marthe riss entnervt die Seite aus dem Block, knüllte sie zusammen und warf sie in Richtung Papierkorb, um den sich mittlerweile ein Wall aus Papierbällchen gebildet hatte. Telefonieren ging nicht, Schreiben anscheinend auch nicht und zur persönlichen Konfrontation konnte sie sich ebenfalls nicht aufraffen, wenn sie endlich mal zusammen waren. Jetzt war sie auch noch wütend auf sich selbst, wo sie es lieber auf Stefan hätte sein sollen. Der saß jetzt bestimmt gerade im Kinderzimmer und las seiner Tochter Gutenachtgeschichten vor oder spielte den aufmerksamen Ehemann oder … Marthe hatte keine Lust diesen inneren Film fertigzusehen. Ihr war mehr nach Komödie als nach Problemfilm zumute. Egal wie sehr sie sich das Hirn zermarterte, konnte sie keine Lösung sehen. Ihre Freunde hatten Recht, er würde niemals seine Familie verlassen und seinen sozialen Status aufgeben, um mit Marthe zu leben. Und Marthe konnte einfach so nicht mehr weiterleben. Mit der ewigen Pleite auf dem Konto, wo ihr erkleckliches Gehalt regelmäßig bereits vor Monatsende vom Konto verschwunden war, weil ungestörtes Zusammensein mit dem Lover diverse Reisen pro Monat erforderte. Sie trafen sich oft im Anschluss an geschäftliche Meetings in München, London oder Amsterdam und genossen den Luxus gemeinsamer Nächte und unbekümmerter Spaziergänge, auf denen man nicht befürchten musste, Bekannten zu begegnen. Da es meistens Marthe war, die Stefan hinterher reiste, hatte er ihr mehrmals angeboten, die Tickets zu bezahlen. Marthe hatte das konsequent abgelehnt. Sie konnte und wollte sich nicht in der Rolle der bezahlten Liebhaberin sehen. Stattdessen überhäufte Stefan sie mit Geschenken. Im Badezimmer kämpften die phantasievoll kreierten Flakons mit Parfüms, Cremes und Duschgels in Zweierreihen um den sparsamen Platz auf den Glasborden, im Küchenschrank hatte die Hansen Rum Flasche, angeschafft und eingesetzt fürs Kuchenbacken und zum desinfizierenden Befeuchten der kleinen Cellophanhäutchen auf der selbstgemachten Marmelade, feine Gesellschaft bekommen. Eine Kolonie sternenübersäter Cognac- und Whiskyflaschen, die ganz offen mit ihrem hohen Alter prahlten. Die Lebensmittellage im Kühlschrank war zwar zumeist wie zu vor-Stefan-Zeiten eher traurig bis kritisch, dafür konnte man jedoch sicher sein, im Falle eines Falles stets einen gutgekühlten Veuve Cliquot zur Hand zu haben. „Kein Schwarzbrot, aber immer Schampus satt", kommentierte Margit einmal trocken, als sie unangemeldet und hungrig bei Marthe vorbeikam.
Realistische Margrit, die Stimme der reinen Vernunft. Wäre schön, jetzt mit ihr gemeinsam im Sofa zu sitzen und Job, Männer, Zukunft und alles Mögliche zwischen Himmel und Erde zu diskutieren. Sie zog das Telefon über den Tisch, nahm den Hörer ab, sah auf die Uhr unter dem Glassturz und legte umgehend den Hörer wieder auf. Beste Freundin oder nicht, wenn man eine berufstätige Mutter von zwei Kleinkindern nachts um halbeins weckte, dann musste man schon einen triftigen Grund haben. Das, was Marthe in diesem Augenblick hatte, waren Luxusprobleme gepaart mit massivem Selbstmitleid. Zudem würde Margit ihr auch dieses mal nur wieder ihr bekanntes Lösungsmodell vorschlagen. Vergiss ihn, such dir einen anderen. „Komm Gustav, kannst mir was ins Ohr schnurren.” Marthe legte sich fröstelnd die Strickjacke um die Schultern, scheuchte den dösenden Kater vom Sessel, schaltete das Licht aus und stieg die Treppe zum Gästezimmer hinauf. Der Wind hatte weiter aufgefrischt, sie hörte das energische Rütteln der Antenne auf dem Dach und das rhythmische Knarren der alten Ulme im Nachbargarten. Gustav miaute klagend, von der Heftigkeit der Lautkulisse unangenehm berührt. „Hört sich ganz schön unheimlich an, was?“ Marthe klopfte einladend auf das Fußende. „Komm Dicker, kannst ausnahmsweise heute auf der Bettdecke schlafen und morgen sehen wir dann weiter.” Gustav nahm Anlauf, zog sich dankbar schnaufend aufs Bett, rollte sich auf dem ihm zugewiesenen Platz zusammen und schlief umgehend ein. Wenige Minuten später knipste Marthe das Licht aus und tat es ihm nach.
Nein, das war kein Traum, das war die Türklingel. Der schrille Ton war trotz des Pfeifens und Rasens der Sturmböen nicht zu überhören. Das Schlafzimmer war stockdunkel und Marthe fühlte sich so benommen als wäre sie gerade erst eingeschlafen. Sie kniff die Augen zusammen, ohne deswegen die verschwommene Digitalanzeige des Radioweckers ablesen zu können und tastete nach der Brille auf dem Nachttisch. Halbdrei. Wer von der Handvoll Menschen, die sie in Kopenhagen kannte, kam sie um diese Zeit besuchen? Das Telefon war erfunden! Kurzzeitig überlegte sie, die Türklingel einfach zu ignorieren und weiterzuschlafen. Aber was nun, wenn das Einbrecher waren, die sich vergewissern wollten, dass niemand zu Hause war? Sie musste aus dem Bett. Zum ersten Mal verfluchte sie es, mutterseelenallein in diesem Riesenhaus zu leben. Noch mal die Türklingel. Diesmal lange und anhaltend. Sie wickelte sich in Tante Wilhelms geräumigen Bademantel, schlich sich Mut machend leise fluchend die Treppe hinunter und äugte vorsichtig durch die bunte Scheibe des Jugendstilfensters auf dem Treppenabsatz auf die menschenleere Strasse. Das Licht der einsamen Laterne war so schwach, dass Marthe außerhalb des blassen Lichtkegels nichts erkennen konnte. Erst als sie den schwarzen BMW in der Garagenauffahrt entdeckte, war sie plötzlich hellwach. Stefan! In zwei Sprüngen nahm sie die letzten Treppenstufen, riss die Tür auf und fiel ihm mit einem Jubelschrei um den Hals.
„Ich dachte schon, du würdest überhaupt nicht aufwachen und ich müsste mutterseelenallein in einem kalten Hotelbett schlafen … flotte Robe.” Stefan streichelte den flauschigen Bademantel in froschgrünem Velours, der seiner Trägerin den unbekömmlich bleichen Teint einer Wasserleiche verlieh und