Wilhelmina. Susanne B. Kock. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Susanne B. Kock
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844233919
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und alle außer Wilhelmina, die nach mehreren vergeblichen Versuchen, ein paar Minuten mit Gerhard unter vier Augen zu verbringen, ihr Unterfangen leicht verärgert aufgab, schienen sich köstlich zu amüsieren.

      „Ich glaube, ich gehe nachhause, ich friere und bin müde." Eigentlich war die geflüsterte Mitteilung nur für die Ohren Amalies, Wilhelminas bester Freundin, bestimmt gewesen. Aber deren aufmerksamer Tischnachbar musste auf jeden Fall irgendetwas von frieren verstanden haben und bot Wilhelmina umgehend einen dicken blauen Wollpullover an, den er ihr trotz höflichen Protests mit einem galanten „auch wenn er für soviel zarte Schönheit viel zu grob ist“, um die Schultern legte. Wilhelmina dankte dem großzügigen Geber und versuchte sich krampfhaft an seinen Namen zu erinnern. Sie hatte ihn bisher nur ein paar Mal in der Freundesklicke gesehen. Groß, sehr schlank, fast schlaksig, mit einem ernsten, trotz seiner jungen Jahre bereits deutlich markierten Gesicht. „Ein wirklich interessantes Gesicht, das von seiner Lebenserfahrung zeugt“, hatte Beatrix kommentiert, als sie ihn im Verlaufe mehrerer Tänze bis an die Grenze des Höflichen ausgefragt und sowohl Aussehen als auch Physiognomie so sorgfältig registriert hatte, dass sie das Ergebnis später ihren Freundinnen referieren konnte. Er kam irgendwo aus Skandinavien, Schweden oder Dänemark, Wilhelmina erinnerte sich nicht so genau. „Vielen Dank“, sie lächelte erneut und kuschelte sich in den Pullover, „aber das wäre wirklich nicht nötig gewesen, ich bin ohnehin auf dem Weg.“ „Deswegen brauchen Sie doch nicht zu frieren.“ Seine graublauen Augen musterten sie eindringlich. Er streckte ihr seine Hand entgegen. „Laurids Rastrup, ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern, ich segele ein wenig zusammen mit Gerhard und Winfried." Er ging hinter Wilhelminas Stuhl in die Knie, so dass ihre Köpfe auf gleicher Höhe waren. „Segeln Sie auch?" Er sah ihr bei dieser banalen Frage so intensiv und unverwandt ins Gesicht, dass sie verwirrt die Augen niederschlug. „Ja, aber nur zum Vergnügen, die Kampfhandlungen bei den Regatten überlasse ich den sportlichen Herren hier." Ihr rechter Arm beschrieb einen vagen Halbkreis über die Runde der ziemlich aufgekratzten jungen Männer, deren Gesichter deutliche Spuren der kräftigen Sonne aufwiesen. „Sie sind neu im Club, nicht wahr? Ich habe Sie hier noch nie gesehen, wir anderen sind in der Saison schon fast Stammgäste.” Wilhelmina brach ab, sah sich schnell in der Tischrunde um und stellte fest, dass alle Aufmerksamkeit auf Gerhard gerichtet war, der gerade eine täuschend echte Imitation seines Chefs lieferte. Applaus und Gelächter. Dem dankbaren Publikum liefen bereits die Tränen über die Wangen, aber es verlangte mehr. Gerhard ergab sich. „Also gut, einen noch, dann ist aber auch Schluss für heute! Meine Damen und Herren, darf ich vorstellen: Marlene …. die Dietrich!“ Wilhelmina wusste, dass Gerhard die nächsten Minuten vollauf mit seinen Parodien beschäftigt sein würde und wandte sich erneut Laurids zu. Der verfolgte interessiert und lachend Gerhards gelungenen Auftritt, wobei er in der unbequem anmutenden, gebeugten Stellung neben ihrem Stuhl ausharrte. „Um Ihre Frage zu beantworten. Nein, ich bin nur Gast und leider auch nur auf der Durchreise während der Kieler Woche. Nächste Woche geht’s wieder ab nachhause.“ Die Stimmung am Tisch wurde immer ausgelassener und mit schöner Regelmäßigkeit erscholl ein Prost von einem der Teilnehmer in der Runde. Wilhelmina beugte sich weiter über die Stuhllehne, so dass ihre Gesichter sich fast berührten. „Und das ist wo?" Er sah sie desorientiert an.

      „Was ist … na, Sie meinen mein Zuhause. Wo, tja, das weiß ich auch noch nicht so genau, erstmal in Kopenhagen und dann…“ Er zog die Schultern hoch und runzelte nachdenklich die Stirn, „Tja dann irgendwo, wo … wo eben Ärzte fehlen. Malariaverseuchte Gebiete in Asien oder Afrika, Pockenbekämpfung in Indien, zu tun gibt es ja genug, ich muss mich nur entscheiden, wo ich anfangen will.” Er verlagerte sein Gewicht, um sich die gebückte Stellung erträglicher zu machen, machte aber keine Anstalten zu seinem Stuhl zurückzukehren.” „Aha, Sie sind anscheinend so ein richtiger Dr. Livingstone", erwiderte Wilhelmina amüsiert. „Was sagt denn ihre Familie zu Ihren Reiseplänen. So ganz ungefährlich ist das doch wohl nicht.“ Sie verzog den Mund und machte eine aufgebende Geste mit den Händen. „Wissen Sie, meine Mutter ist schon bekümmert, weil ich bald nach Hamburg in die sündige Grosstadt ziehe, aber Afrika. Das hört sich wirklich so an als könnte man sich Sorgen machen. Ist doch alles noch sehr unzivilisiert da unten, nicht wahr?" Wilhelmina versuchte ihren Stuhl etwas weiter in Richtung Laurids zu drehen, ohne dabei ihren Nachbarn anzustoßen. „Ach wissen Sie, in meiner Familie bekümmert man sich nicht so sehr, meine Eltern haben mir nie reingeredet, haben immer darauf vertraut, dass ich das Richtige wähle." Er runzelte die Stirn und fügte nachdenklich hinzu, „obwohl meine Mutter mich wohl sehr viel lieber in irgendeiner Oberarztstellung im zivilisierten Kopenhagen sehen würde als in der Wildnis. Ich bin mir sicher, sie teilt Ihre Auffassung von den barbarischen Lebensumständen. Für meine Mutter fangen die allerdings schon beim Überschreiten der Stadtgrenze von Kopenhagen an." Er lachte trocken. „Ach, ich bewundere Menschen, die freiwillig die Zivilisation verlassen, um anderen zu helfen”, stieß Wilhelmina mit schwärmerischem Augenaufschlag hervor. „Ich glaube nicht, dass ich das könnte. Ich würde die Annehmlichkeiten hier doch allzu sehr vermissen und natürlich das Kulturelle.” „Na ja, das mit den Annehmlichkeiten der Zivilisation und der Kultur ist ja wohl auch eine Frage des Standpunktes.” Er schickte ihr ein etwas unsicheres, ironisches Lächeln. „Angesichts der gegenwärtigen politischen Entwicklung in Europa muss man sich ja wirklich fragen, wie viel von der so hochbesungenen weißen Zivilisation da noch übrig ist." „Sie meinen wegen der Nationalsozialisten“, unterbrach Wilhelmina schnell. Sie wollte dieses Gespräch nicht in einem langweiligen politischen Exkurs enden lassen. Diese ewige Politik, sie hatte das ganze Gerede so satt, konnte man sich wirklich nicht mehr privat mit einem Ausländer unterhalten, ohne sich gleich für die gesamte deutsche Innen- und Außenpolitik rechtfertigen zu müssen? Wilhelmina steckte sich leicht verärgert eine Zigarette zwischen die Lippen und hielt Laurids mit einer brüsken Bewegung die Schachtel direkt vor die Nase. Als er ihr Feuer gab, streifte seine Hand ihre Wange und sie merkte eine leichte Gänsehaut. „Wissen Sie Laurids“, Wilhelmina stieß heftig eine Rauchwolke aus, „ich glaube das ganze Theater ist bald vorbei, dann haben die Leute die Uniformen, den Gleichschritt und das Geschreie gänzlich satt. Warten Sie's ab, wenn die Arbeitslosigkeit weiter fällt und alles wieder vorwärts geht, und wir wieder wer sind in der Welt, dann heißt es der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.” „Tja, die Frage ist nur, ob es so einfach ist, ihn dann noch zum Gehen zu bewegen. Er sitzt doch mittlerweile nicht nur in Deutschland fest im Sattel. Ich bin da in der Beurteilung der Situation sehr viel skeptischer, aber Ihr Wort in Gottes Ohr.“ Laurids sandte ihr einen ernsten Blick. Mit einer ungeduldigen Handbewegung wedelte sie den Rauch zwischen ihren Gesichtern fort und sah ihm direkt in die Augen. „Sie können sich gar nicht vorstellen wie leid ich, und das gilt auch für alle meine Freunde, wie leid wir es sind, immer für die Fehler unserer Regierung verantwortlich gemacht zu werden.“ Sie brach ab und verzog schmollend den Mund. „Sehen Sie, wir sind hergekommen, um uns zu amüsieren und zu feiern und was machen wir? Wir reden über Politik. Zu welchem Nutzen denn überhaupt. Wir beide können doch ohnehin jetzt nichts ändern.“

      Laurids seufzte fast unhörbar, lächelte sie an und tätschelte mit einer schnellen Bewegung ihre Hand auf der Stuhllehne. „Nein, da haben Sie wohl recht, wir können es nicht ändern. Auf keinen Fall hier vom Tisch aus.“ Er erhob sich langsam, holte tief Luft und sagte in einem betont sorglosen Tonfall „also dann wollen wir uns den schönen Sommerabend nicht mit der dummen Politik verderben. Außerdem werde ich hier noch ganz steif in den Knien, darf ich Sie nach Hause begleiten?“ Wilhelmina zögerte. „Ich weiß nicht recht“, sagte sie unsicher, aber wenn es für Sie kein Umweg ist." Sie erhob sich, winkte hastig in die fröhliche Runde, in der die Stimmung zu kulminieren schien, warf Gerhard, der gerade drei faszinierten Zuhörern mit ausladenden Armbewegungen ein besonders geglücktes Wendemanöver an der Boje beschrieb, eine Kusshand zu und flüsterte Amalie einige kurze Abschiedsworte ins Ohr. Sie verließ die Terrasse zusammen mit Laurids, zog den Pullover enger um die Schultern und ging wortlos neben ihm her. Die sichere Unbefangenheit, die Wilhelmina in der lauten Tischrunde von Freunden und Bekannten gefühlt hatte, war plötzlich verschwunden. Keiner von beiden machte Anstalten, das Gespräch wieder aufzunehmen. Sie begann erneut zu frösteln. Es war spät geworden, die abendlichen Spaziergänger waren verschwunden und nach dem fröhlichen Lärm auf der Terrasse machte sich die nächtliche Stille doppelt bemerkbar. Die Förde schwappte glucksend gegen das Bollwerk und ließ die flachen