„Und wenn es endlich frische Erdbeeren mit Schlagsahne und Spargel gibt", fiel Wilhelmina ihm munter ins Wort, erleichtert endlich das Schweigen brechen zu können. Er sah sie verdutzt an, stimmte dann aber in ihr fröhliches Lachen ein.
„Ja, das wird mir auch schwer fallen, ein Sommer ohne Erdbeeren und neue Kartoffeln, stattdessen Maisgrütze und Kalebassenbier, wenn's mal ganz hoch hergeht. Aber wer die Menschheit retten will, der muss eben ein paar Opfer bringen", bemerkte er mit einem ironischen Lächeln in ihre Richtung. Wilhelmina gluckste und ging auf seinen Tonfall ein. „Hört sich eigentlich mehr nach Abenteuer als nach Opfer an. Erdbeeren kann man dann ja immer noch hinterher essen. Also, weil man ja irgendwann zurückkommt, nicht wahr”, fügte sie rasch hinzu.
„Hätten Sie Lust nach Afrika zu gehen, ohne fließend Wasser, ohne Annehmlichkeiten der Zivilisation? Ich hatte Sie eigentlich mehr für“ „das beschützte Töchterchen aus gutem Hause gehalten", vollendete sie spöttisch seinen Satz. „Deswegen kann man doch aber trotzdem vom großen Abenteuer träumen, oder?” „So habe ich das nicht gemeint, ich wollte sie nicht verletzen“, murmelte Laurids verlegen. „Ich finde Sie ganz be …“, er brach ab, und beeilte sich, in einem anderen Tonfall fortzusetzen. „Also, ich dachte nur, also die Mädchen, mmh jungen Damen, die ich so kenne, die wollen schon gerne nach Afrika oder Indien, aber wenn ich dann erzähle, wo ich da hin will und was ich da will, dann erlischt die Begeisterung immer sehr schnell.“ Er räusperte sich und schwieg. „Na, dann kennen sie jetzt eben eine, die nicht so ist”, antwortete Wilhelmina schnippisch und sah ihm herausfordernd in die Augen. Er hielt ihrem Blick stand und kniff leicht die Augen zusammen. „Dann kommen Sie doch einfach mit!”
Es hatte scherzhaft klingen sollen, aber Wilhelmina hörte die Ernsthaftigkeit dieses Vorschlags in seiner Stimme. Mein Gott, in was reite ich mich denn hier wieder rein, dachte sie. Ich stehe hier mit einem Wildfremden, dazu noch einem Segelkameraden von Gerhard und diskutiere die Möglichkeiten einer gemeinsamen Zukunft im Urwald. „Ich dachte, Sie wollten mich nach Hause begleiten, das hier hört sich eher so an als wollten Sie mich entführen.“ Sie lachte zu laut, falsch und etwas zu schrill, sah ihn an und entdeckte dort für Sekundenbruchteile eine Mischung aus Enttäuschung, Ärger und Verlegenheit, bevor er seine Gesichtszüge wieder vollständig unter Kontrolle hatte. „Ich dachte, wo wir ohnehin schon einen Umweg machen, käme es darauf auch nicht mehr an”, erwiderte er jetzt mit dick aufgetragener Ironie. „Kommen Sie, Sie frieren ja schon wieder.“ Er berührte wie beiläufig ihre Schulter. Noch ein Schauer, wieder eine leichte Gänsehaut. Den Rest des Nachhauseweges war er einsilbig. Als er sich am schmiedeeisernen Tor des Anwesens mit einem übertrieben artigen Händedruck und einem angedeuteten Diener von ihr verabschiedete, tat er Wilhelmina leid. Sie fühlte, dass sie ihn verletzt hatte und wollte es gerne wiedergutmachen. Außerdem war sie neugierig geworden, wollte mehr über diesen ernsthaften, jungen Mann erfahren, der irgendwie nicht so recht in die Runde ihrer fröhlichen Freunde passte. „Wenn schon nicht in den Urwald, was mit einem Kinobesuch am Donnerstag? Wir sind eine ganze Klicke. In den Reichshallen laufen die Glückskinder. Ich liebe Willy Fritsch! Hätten Sie Lust?“
Erneut registrierte Wilhelmina die Reaktion in seinen Augen noch bevor er antworten konnte. Laurids war offenbar freudig überrascht. „Glückskinder tja, warum nicht, wir können uns wohl genauso gut daran gewöhnen.“ Wilhelmina hatte den Sarkasmus in seiner Stimme bemerkt, schluckte jedoch ihre bissige Gegenbemerkung hinunter, auch wenn es ihr schwer fiel. Er lächelte sie höflich an. „Bis Donnerstag dann und schlafen Sie gut, Sie Glückskind“. Wilhelmina zog den schweren Torflügel hinter sich zu und schaute ihm durch das Gitter nach, als er den Düsternbrooker Weg hinunter ging. Richtig fröhlich sah er aus, so von hinten mit beiden Händen in den Hosentaschen und pfeifen konnte er auch, das konnte sie hören, auch wenn sie die Melodie nicht kannte.
· „Na, wir können uns eben doch noch behaupten. Wär’ ja gar nicht auszumalen, was das für die Stadt bedeutet hätte, wenn die Aufträge wieder nach Danzig zu Schichau gegangen wären. Oder gleich wieder zu Blohm und Voss.“ Bankdirektor Otto Twiete faltete zufrieden seine Kieler Neuesten Nachrichten zusammen und griff nach seiner Kaffeetasse. „Der Löffel mein Lieber“, kommentierte seine Gattin, ohne von der Lektüre des neuen Kunsthallenkatalogs aufzusehen. „Eines Tages stichst du dir noch das Auge aus, ich begreife nicht“… „nicht solange du so gut auf mich aufpasst, Katharina“, unterbrach er sie schnell, nahm den Kaffeelöffel aus der Tasse und legte ihn mit übertriebener Sorgfalt auf der kunstvoll durchbrochenen Untertasse ab. „Na, da herrscht ja wieder Jubel im Forstweg, war auch hohe Zeit.“ Er schob seinen Stuhl zurück, erhob sich unter leichtem Stöhnen und bewegte sich auf die gegenüberliegende Seite des ovalen Esstisches, der bei entsprechenden Anlässen bis zu dreißig Gästen Platz bot. „Warte heute Abend nicht auf mich meine Liebe, ich denke es wird spät werden.“ Er beugte sich über ihre Schulter und hauchte seiner Gattin in einer über die Jahre zur Perfektion entwickelten Bewegung einen Kuss auf die dezent gepuderte Wange, wobei er weder Wange noch Frisur zu nahe kam. „Aber was macht man nicht alles für die richtigen Kunden“, fügte er händereibend hinzu. „Einen schönen Tag noch die Damen“, trompetete er fröhlich und tätschelte Wilhelmina auf dem Weg zur Tür den Kopf, so etwa wie man einen Hund tätschelt, der gerade erfolgreich einen neuen Dressurakt vorgeführt hatte. „Wieso ist Papá denn heute so guter Laune, das kennt man ja sonst gar nicht von dem alten Morgenmuffel!“ Wilhelmina blickte ihre Mutter mit erstauntem Stirnrunzeln an. „Kind sprich bitte nicht in diesem Ton von deinem Vater! Dein Vater trägt eine schwere Verantwortung auf seinen Schultern. Ich brauche dir wohl kaum einen Vortrag über die angespannte wirtschaftliche Lage vieler Betriebe zu halten. Das ist einer der Gründe, weshalb dein Vater morgens gründlich seine Zeitung liest, statt zu konversieren.
· Meine Güte, manchmal können alle diese Probleme und Sorgen einem fast den Schlaf rauben“, sagte sie wie zu sich selbst und schob mit einer achtlosen Geste den farbigen Katalog zur Seite. Bekümmert ließ sie den Blick auf ihrer Tochter ruhen. „Übrigens ganz apropos, wenn du glaubst, dass alle diese durchwachten Nächte spurlos an dir vorübergehen, nur weil du jung bist, dann irrst du dich, Kind. Ich sage dir, keine noch so teure Creme kann dir den Nachtschlaf ersetzen.“ Als wolle sie die Bedeutung ihrer Worte unterstreichen fuhr sie sich mit dem Zeigefinger vom Nasenrücken über die immer noch makellos gepuderte Wange. „Gestern Abend oder besser heute früh war es doch auch wieder …“
· „Mutter bitte“, unterbrach Wilhelmina gereizt, „ich bin 20 Jahre, erwachsen! Man ist ja nur einmal jung, dann habe ich eben ein bisschen Schatten unter den Augen. Na und? Haben doch alle die anderen auch.” „Es geht ja nicht nur um die Schatten, aber du lässt dir ja ohnehin von mir nichts mehr sagen“, erwiderte Frau Twiete nun mit einem Anflug von Resignation und Verbitterung in der Stimme.“ Dann griff sie zur Lesebrille, atmete hörbar ein, schlug den Katalog auf und konzentrierte sich erneut auf das Studium der kommenden Ausstellungen. Die Unterhaltung war ihrerseits beendet.
Wilhelmina seufzte ergeben, kaute lustlos an ihrem Marmeladenbrötchen, studierte beiläufig die Überschriften der Zeitung, deren ketzerische Rhetorik ihr schon seit längerer Zeit das Lesen der meisten Artikel verleidete und erhob sich schließlich, ohne ihr Frühstück beendet zu haben. Die ewigen Zurechtweisungen ihrer Mutter verdarben ihr den Appetit. Sie empfand es als ungerecht und eigentlich auch ein wenig peinlich, dass sie mit ihren 20 Jahren von der Mutter immer noch so gegängelt wurde, wo ihre beiden jüngeren Brüder im Grossen und Ganzen tun und lassen konnten, was sie wollten . „Ich habe mich mit Amalie verabredet, wir wollen ein bisschen in der Stadt bummeln. Wir sind spätestens zum Tee zurück.“ Katharina Twiete, bereits wieder in den Katalog vertieft, schaute leicht desorientiert von ihrer Lektüre auf. „Dann schaut auch gleich bei Meislahn vorbei, sie haben einen Brief geschickt, dass die Stoffproben für die Tischwäsche angekommen sind. Lange genug hat es ja gedauert“, fügte sie säuerlich hinzu, bevor sie sich erneut dem Katalog widmete.
„Na, Kinder lass uns noch ein bisschen Tanzen gehen.” Beatrix hatte Wilhelmina untergehakt