Viel schlimmer war für mich die Wartezeit vor der Untersuchung. Denn die jungen Pfleger und Assistenzärzte, die bei der Angiografie dabei waren (anscheinend kommt so etwas nicht alle Tage vor, denn ein ganzer Haufen Leute schaute dem Arzt bei seiner Arbeit über die Schulter), unterhielten sich, bevor es losging, lauthals über ganz alltägliche Dinge. „Und, was hast du am Wochenende vor?“, fragte einer. Irgendein anderer erzählte etwas von einer Party, oder vom Grillen im Park, oder weiß der Geier was. Ich glaube, es ging auch um irgendwelche Verabredungen.
Diese Leute, etwa in meinem Alter oder ein paar Jahre älter, sprachen ganz selbstverständlich von einer Welt, die für mich in diesem Augenblick so weit weg war wie eine entfernte Galaxie. Ins Kino gehen, ein Bier trinken, tanzen, all das, was für mich ja auch noch bis vor ein paar Tagen selbstverständlich gewesen war, klang auf einmal wie ein schöner, aber unerreichbarer Traum. Vielleicht würde ich all das nie wieder machen können, dachte ich, während ich auf dem OP-Tisch lag und mir der Arzt die Leiste betäubte, um den Schlauch in die Arterie stechen zu können. Vielleicht war alles vorbei.
Es war das erste Mal, dass ich tief in mir drin, irgendwo zwischen Herz und Magengegend, eine kalte, lähmende Leere aufkommen spürte. Wie ein schwarzes Loch, das all meine Pläne und Zukunftsaussichten, die vor ein paar Tagen noch so selbstverständlich wie der tägliche Sonnenaufgang vor mir gelegen hatten, aufsaugte.
Ich musste in diesem Moment komischerweise jäh an eine Szene zu Beginn meines Auslandssemesters 2008 in Chicago (USA) denken. Ich war gerade bei meiner amerikanischen Mitbewohnerin angekommen, die in einem achtstöckigen Haus in einem Vorort von Chicago lebte. Ich ging an diesem Morgen auf die Dachterrasse und mir lagen die stattlichen Hochhäuser der Großstadt in der Ferne zu Füßen, die vor einem strahlend blauen Himmel wie gemalt aussahen. Ich weiß noch, dass mich in diesem Augenblick ein Gefühl von Freiheit überkam, das ich noch niemals so intensiv gespürt hatte. Es war, als hätte ich mein Leben zurückgespult und würde ganz von vorne anfangen: An einem weit entfernten Ort, an dem ich niemanden kannte und wo mir, damals 21 Jahre jung, alle Türen offenstanden.
All diese Türen hatte mir meine plötzliche Erkrankung jedenfalls mit einem Schlag vor der Nase zugeknallt, wurde mir jetzt, in diesem kalten, kahlen OP-Saal bewusst. Plötzlich hatte ich – zum ersten Mal, seitdem das alles passiert war – richtig Angst. Und die hatte nichts mit dem Schlauch in meinen Gefäßen zu tun, den der Arzt mir gerade bis ins Hirn hochschob.
*
Nach der Angiografie bekam ich einen Druckverband an der Leiste und durfte mich nicht mehr bewegen. Aufstehen durfte ich ja schon vorher nicht, aber jetzt durfte ich mich für mehrere Tage nicht mal mehr zur Seite drehen. Der Druckverband war nötig, weil mein Blut durch das Heparin so dünn wie Wasser war und ja immerhin meine Hauptschlagader durchstochen worden war. Ein dicker blauer Fleck würde sich aber so oder so bilden, warnte man mich schon vor.
Als die Betäubung nachließ, schmerzte meine Leiste fürchterlich. Aber noch viel schlimmer als das war die Tatsache, dass ich mich nun überhaupt nicht mehr rühren durfte. Das Stillliegen war eine Qual. Nach ein paar Stunden tat mir derart der Rücken weh, dass ich wirklich nicht wusste, wie ich das überleben sollte.
Das klingt ziemlich übertrieben und theatralisch, ich weiß. Aber in dem Moment fühlte es sich genauso an. Ich spürte, wie Phase zwei, die Schockstarre, langsam zu wackeln begann; es war, als wollten jetzt endlich Gefühle wie Verzweiflung und Trauer die Oberhand gewinnen. Aber noch schafften sie es nicht, ich war immer noch zu stolz. Wenn ich jetzt emotional zusammenbreche, dachte ich mir, dann verliere ich das letzte Restchen Würde und Selbstachtung, das ich noch übrig habe.
Ich weinte zwar immer mal ein bisschen, aber eher aus Zorn über meine festgefahrene Lage und darüber, dass mir niemand hier klare Antworten geben wollte: Warum ist das passiert, wie ist es passiert, wird es wieder passieren, und wie lange wollt ihr mich hier eigentlich noch festhalten? Es war schier unerträglich, so gut wie gar nichts zu wissen; ausgerechnet ich, die allein schon von Berufswegen her keine Ausreden und schon gar kein „Wir wissen es nicht“ akzeptiert.
Noch verzweifelter machte meine Lage eine junge Ärztin, die die jüngsten Ergebnisse meiner (ich weiß schon gar nicht mehr wievielten) Blutabnahme interpretierte: Die Werte waren perfekt, anstandslos, von den Cholesterin- über die Zucker- bis hin zu Leber- und Nierenwerten. „Sie sind eine gesunde junge Frau“, sagte die Ärztin kopfschüttelnd mit Blick auf die Ergebnistabelle, als könne sie sich selbst keinen Reim darauf machen. Kerngesund, ach ja, dachte ich wütend. Und deshalb liege ich hier wie auf dem Sterbebett? Wenn ich gekonnt hätte, dann hätte ich mir all die Schläuche und Kabel vom Leib gerissen und wäre einfach aufgestanden und abgehauen. Aber das würde mit meiner heftig blutenden Leiste nicht funktionieren.
Ich konnte also nichts anders tun, als dazuliegen und mich meinem Elend zu ergeben. Jetzt – man könnte sagen, endlich – wurde ich nicht nur wie eine Todkranke behandelt, sondern fühlte mich auch so.
*
In der Nacht nach der Angiografie, in der ich kein Auge zutat, fasste ich alle möglichen wirren Gedanken. Langsam wurde mir bewusst, dass das alles hier auch sehr böse hätte enden können; und auch wenn diese Erkenntnis noch nicht vollständig bis in mein Bewusstsein vordrang, so veranlasste sie mich doch zu extrem beängstigenden Überlegungen darüber, was passiert wäre, wenn ich an jenem schönen ersten Frühlingstag tatsächlich gestorben wäre.
Es waren total absurde, teils banale Gedanken, die mir zuerst in den Sinn kamen. Ich fragte mich zum Beispiel, ob wohl einer meiner Kollegen bei der Zeitung einen Nachruf geschrieben hätte. Das ist eigentlich üblich, wenn ein Kollege aus der Redaktion stirbt. Aber ich wusste nicht, ob das auch auf Volontäre zutrifft, schließlich gehören die ja eigentlich nicht richtig zu irgendeiner Redaktion.
War überhaupt schon mal ein Volontär bei dieser Zeitung gestorben, als er noch Volontär war? Ich wusste es nicht, aber ich überlegte mir schon, welcher meiner Kollegen möglicherweise meinen Nachruf verfasst hätte. Wer kannte mich am besten, wer mochte mich am liebsten?
Was hätte Kollege X über mich erzählt? Blöde Standard-Floskeln? Oder hätte er sich bei meiner Familie Erkundigungen über mich eingeholt, um persönlicher werden zu können? Und hätte sich eigentlich der Pförtner, der mir jeden Morgen und Abend beim Rein- und Rausfahren so fröhlich zuwinkte, gefragt, wo ich abgeblieben war? Hätte er irgendwann mal an mich gedacht?
Ein anderer absurder Gedanke, über den ich mir den Kopf zerbrach, war der an meine eigene Beerdigung. Ernsthaft, ich überlegte mir, wie wohl meine Beerdigung ausgesehen hätte; wer gekommen wäre, ob die Zeitung einen Blumenkranz geschickt hätte, was der Pfarrer, der sich während meiner Konfirmanden-Zeit nie meinen Namen merken konnte, wohl über mich gesagt hätte, und so weiter...
Hinter all diesen wirren Fragen blieb ein Fragezeichen stehen, nur bei einer Sache war ich mir ganz sicher: Bei dem Lied, das man für mich gespielt hätte. Es gibt nur ein einziges Lied, das dafür in Frage kommt, überlegte ich: Und zwar „No one Knows“ von „Green Day“. Ich weiß nicht, wieso. Nicht, weil es vom Text so gut zu mir passt, denn das tut es eigentlich überhaupt nicht: Es geht um einen Typen, der absolut keine Lust darauf hat, erwachsen zu werden. Der seine Freunde altern sieht, sich selbst aber sagt: Das will ich nicht! Mein Spaß fängt doch gerade erst an.
Es ist eines meiner ewigen Lieblingslieder, und die Vorstellung, es laut und klar durch die stille Trauerhalle dröhnen zu hören, gab mir ein diffuses Gefühl der Zufriedenheit. Ich liebe dieses Lied immer noch, und doch kann ich es heute nicht mehr hören, ohne daran zu denken.
Die Musik von „Green Day“ gibt mir sowieso unglaublich viel. Sie hat in der Regel einen dieser beiden Effekte auf mich, wenn ich vollkommen am Boden zerstört bin: Entweder muntert sie mich unmittelbar