Also habe ich mich selbst auf die Suche nach Antworten begeben. Ich habe versucht, mich zum Experten meiner eigenen Erkrankung zu machen (so gut es geht, zumindest): Im Wälzen von Studien und Fachliteratur und im Gespräch mit Experten, die in diesem Bereich forschen. Als gelernte Journalistin ist das ja sogar irgendwie meine Aufgabe. Ich wollte also nicht das tausendunderste x-beliebige Schlaganfall-Buch schreiben: Ich wollte das erste Buch als Betroffene einer spontanen Dissektion schreiben, das nicht nur meine persönliche Geschichte erzählt, sondern auch verständlich über das Krankheitsbild informiert. Mein zweites Anliegen war es also, zu informieren.
Bitte erwartet jetzt aber keine rein wissenschaftliche Abhandlung. Auch konnte ich nicht auf all die vielen anderen Ursachen für Schlaganfälle, die junge Menschen und sogar Kinder treffen können, eingehen. Das war auch nicht mein Anspruch. Alle Fakten, die ich im Zuge meiner Recherchen sammeln konnte, habe ich am Ende des Buches noch mal in einem Überblick zusammengefasst. Wenn ich meine Geschichte schon aufschreibe, dachte ich, kann ich sie auch genauso gut veröffentlichen – und ein kleines bisschen dazu beitragen, aufzuklären.
Eigentlich lautet ja einer unserer journalistischen Grundsätze: sei nicht zu nah dran, mach dich nicht mit einer Sache gemein! Das konnte ich in diesem Fall nicht einhalten. Ich machte mich selbst zum Subjekt meiner Recherchen. Bei meinen Gesprächen mit Ärzten und Forschern ging es plötzlich nicht mehr nur um irgendeine Krankheit, um das Leben von irgendjemandem, sondern um meine Krankheit, um mein Leben. Das kann einen emotional ziemlich umhauen.
Leider ist es mir nicht gelungen, meine Erkrankung als Teil meines Lebens zu akzeptieren. Denn das ist die wirkliche Herausforderung nach einem solchen Schicksalsschlag: das Leben mit der Diagnose. Mit einem Schlag (bei mir im wahrsten Sinne des Wortes) ist alles anders. Die Phasen des Abstreitens, der Wut, der Verzweiflung, der Hoffnung, die man in den Tagen, Wochen, Monaten und Jahren nach einem solchen Ereignis erlebt, habe ja nicht nur ich erlebt. Sie erlebt jeder, der durch eine schwere Erkrankung oder ein anderes einschneidendes Lebensereignis völlig aus der Bahn geworfen wird.
Auch wenn zunächst alles danach aussah: Ich schaffte es nicht, mich mit meinem Schicksal und der Ungewissheit, die diese rätselhafte Erkrankung mit sich bringt, abzufinden. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Jahre wies mich mein Körper ganz deutlich in die Schranken – diesmal aufgrund einer psychischen Erkrankung und so deutlich, dass ich seine Signale nicht noch einmal ignorieren konnte. Ich musste langsam, oft auch schmerzhaft, lernen, dass es einen Unterschied zwischen verdrängen und verarbeiten gibt. Und dass man immer auch zurückschauen muss, um vorwärts zu kommen.
Erst dieser harte Rückschlag zwang mich zur echten Auseinandersetzung mit allem, was passiert war. Und zur Auseinandersetzung mit meinem Leben an sich, mit dem, was mir wichtig ist, was ich brauche und was ich wirklich will. Das bringt mich zu meinem dritten Anliegen, das eigentlich eher eine diffuse Hoffnung ist: Ich wollte, dass sich in meinen Erlebnissen auch andere Menschen wiederfinden, die schwere Zeiten durchmachen mussten. Ich wollte auf ganz ehrliche Art und Weise schildern, wie es ist, wenn einem der eigene Körper in einem Alter, da eigentlich alle Türen offenstehen sollten, plötzlich all diese Türen mit voller Wucht vor der Nase zuknallt. Darum habe ich ganz bewusst auch die Emotionen und Gedanken nicht ausgelassen, für die man sich im Nachhinein schämt oder die man zutiefst bereut.
Möglicherweise bringe ich so den einen oder anderen dazu, sich über sich selbst, sein Leben, seine echten Ziele und Träume Gedanken zu machen. Und zwar idealerweise nicht erst, wenn ihn eine schwere Erkrankung dazu zwingt.
Vielleicht habt ihr jetzt doch noch Lust bekommen, ein kleines bisschen weiter zu lesen. Wenn ja, freue ich mich über euer Feedback zum Buch, wenn nein, freue ich mich ebenso über eure Begründung: [email protected]. Natürlich bin ich auch für neue, spannende Forschungsansätze, Erfahrungsberichte anderer Betroffener und viel mehr dankbar.
Meike Mittmeyer-Riehl im April 2016
Kapitel 1: Aus. Vorbei.
„ Carpe diem
A battle cry
Aren’t we all too young to die? ”
Green Day – “Carpe Diem“ 2
Das sollte er also gewesen sein, der letzte Tag meines Lebens. Ich dachte diesen Gedanken ganz ruhig, beinahe gleichgültig, so wie man sich hinsetzt, um eine Einkaufsliste zu schreiben. Ich wusste nicht, was mir diese Gewissheit gab. Ich hatte keine starken Schmerzen, im Gegenteil: Ich fühlte mich überraschend leicht, fast schwerelos. So, als würde ich ein paar Zentimeter über mir selbst schweben. So, wie man sich im Traum manchmal fühlt, wenn man sich selbst beim Handeln zusieht. Meine Stimme klang, als würde jemand anders sprechen, ich hörte mich wie aus einem Lautsprecher, wie aus dem Radio.
Dabei war dieser 17. März 2012, der erste, schöne, sonnige Frühlingstag des Jahres, kein Tag zum Sterben. Tage zum Sterben, das sind doch diese grauen, verregneten, trüben Tage im November.
Ein wenig beunruhigte mich nur die Tatsache, dass ich zu Hause keinerlei Vorkehrungen für eine längere, schon gar nicht für eine endgültige, Abwesenheit getroffen hatte. Auf der Terrasse trockneten auf dem Wäscheständer Handtücher und Socken in der Frühlingssonne. Mein Zimmerbrunnen plätscherte noch, abends schaltete ich ihn eigentlich immer aus, damit der Motor nicht heiß lief. Im Kühlschrank stand noch eine angebrochene Milch, im Obstkorb lagen Äpfel und Bananen. Es waren absurde Überlegungen wie diese, die mich umtrieben, als ich merkte, dass meine Beine mich nun doch nicht mehr tragen würden. Ich versuchte noch, mich gegen den Drang, umzufallen, zu wehren, aber vergeblich. „Dennis? Mir geht es nicht gut“, sagte ich, und schon war er da, um mich aufzufangen. Ich fiel ihm direkt aus der Dusche entgegen.
Ich blieb bei vollem Bewusstsein, war ganz wach, ganz klar; von Panik oder Todesangst keine Spur. Dennoch wusste ich, dass es nicht mehr lange dauern konnte. Jetzt war es soweit, jetzt starb ich. Wenigstens tut es nicht weh, dachte ich noch, als ich Dennis ein „Hilf mir“ entgegenhauchte. „Ich rufe den Notarzt“, sagte er und ging raus; und ich lag da, immer noch bei vollstem Bewusstsein.
Wenn euch nachts schon mal so richtig ein Arm eingeschlafen ist, dann könnt ihr euch ungefähr vorstellen, wie sich zu diesem Zeitpunkt meine gesamte linke Körperhälfte angefühlt hat. Oder eben nicht angefühlt hat. Sie war taub, weg, so als hätte man mich gerade mit einem riesigen Filetiermesser in der Mitte durchgeschnitten. Ich richtete meinen Oberkörper auf, oder besser gesagt, machte Anstalten, mich aufzurichten, so wie man das mit einem halben Körper eben kann. Ich nahm mein linkes taubes Bein in die Hände und zwängte es in meine Jogginghose, die auf dem Boden lag. Man hat ja gar keine Vorstellung davon, wie schwer so ein Bein ist, wenn man es nicht bewegen kann. Ich starrte auf meinen linken Fuß und forderte ihn dazu auf, sich endlich zu rühren, aber das war unmöglich. Das Bein könnte auch irgendeinem Passanten auf der Straße gehören. Als ich die Hose anhatte, schaffte ich es, ich weiß nicht mehr wie, auch in mein T-Shirt. Es war ein nagelneues, quietschgelbes Tennis-Shirt, das im weiteren Verlauf meiner Geschichte noch eine Rolle spielen wird. Das war mir damals aber natürlich noch nicht klar. Mein einziger Gedanke dabei war: Der Rettungswagen muss jeden Moment da sein, und ich will schließlich nicht nackt daliegen, wenn sie kommen, um meinen Tod festzustellen.
Doch dann, ganz plötzlich, spürte ich in dem fremden Bein, das da taub in meinen Hosen steckte, ein Kribbeln. So, wie ein eingeschlafener Arm kribbelt, wenn man die Finger nur lange genug bewegt hat. Mein Bein kribbelte, mein Arm, meine linke Wange. Ich steckte wieder fest in meinem Körper drin, das traumartige Gefühl war verschwunden. Sofort sprang ich auf und blieb fest auf beiden Beinen stehen, hörte mein Herz laut und schnell pochen. Die Gewissheit, sterben zu müssen, war so schnell weg, wie sie gekommen war. Ich lebte.
Als Dennis wieder hereinkam, stand ich steif wie ein Baum im Bad. „Setz dich hin, um Himmelswillen“, fuhr er mich