In jener Nacht jedoch trat keiner dieser Effekte ein, und das will bei mir schon etwas heißen. Ich weinte zwar, aber es war kein befreiendes Weinen, sondern eher eines, bei dem die Qual mit jeder Träne schlimmer wird statt besser. Ich hatte das Gefühl, ich müsste sterben. Zum ersten Mal fasste ich in all der Verwirrung und all dem (körperlichen wie psychischen) Schmerz einen Gedanken, für den ich mich noch im selben Moment schämte. Aber ich dachte den Gedanken, ich konnte ihn nicht aufhalten. Ich dachte: Wenn so von jetzt an mein Leben aussehen wird, dann wäre es doch besser gewesen, an jenem ersten schönen Frühlingstag einfach zu sterben.
Kapitel 5 : Tschüss, Klinik
„ One day your life will flash before your eyes.
Make sure it's worth watching . ”
Gerard Way 9
Wenn euer Leben eines Tages wie ein Film vor euren Augen abläuft, was für Szenen werdet ihr dann sehen? Habt ihr euch darüber schon mal ernsthaft Gedanken gemacht? Ein Schicksalsschlag macht diesen Film eures eigenen Lebens plötzlich auf unheimliche Art und Weise real. Es ist, als hättet ihr die ganze Zeit über nur in einer künstlichen Scheinwelt gelebt, und auf einmal seht ihr die Kameras um euch herum, die euch auf Schritt und Tritt aufzeichnen. So wie in der „Truman Show“, falls ihr den Film kennt. Euch wird schlagartig bewusst, dass die Aufnahmekapazität dieser Kameras begrenzt ist. Und dass es noch so viele tolle Szenen gibt, die ihr unbedingt einfangen wollt. Nur leider wisst ihr eben nicht genau, wie viel Speicherplatz ihr noch habt.
Mich zwang die Krankheit regelrecht dazu, mein Leben gedanklich zurückzuspulen und die Szenen zu rekapitulieren, die irgendwann einmal meinen Film ergeben. Und ich muss sagen, da waren schon etliche Szenen dabei, die mir eines Tages beim Zuschauen sehr, sehr viel Spaß machen werden. Aber leider gibt es natürlich auch die anderen Szenen, bei denen mir das Hinschauen schwerer fallen wird; Szenen, die ich vielleicht sogar lieber rausgeschnitten hätte, die aber eben nun mal genauso zu meinem Leben gehören wie die gelungenen. In den einsamen Nächten während meines Krankenhausaufhalts ließ ich einige dieser Szenen in meinem Kopf ablaufen.
„Dies ist kein Ort zum Sterben“: So begann ich einmal einen Reisebericht über die wunderschöne Küstenregion von Khao Lak in Thailand. Ich war dort auf einer Pressereise und schrieb eine Reportage für die Reise-Seiten unserer Zeitung über die Folgen des verheerenden Tsunamis genau sieben Jahre zuvor. Ziemlich verrückt an der ganzen Sache war, dass die Reise nur drei Tage dauerte.
Ich flog also über zwölf Stunden um den halben Erdball, um nur 72 Stunden dort zu bleiben. Aber ich erinnere mich auch heute noch so gern und lebhaft an die Zeit, dass sie mir im Nachhinein viel länger vorkommt. Vielleicht gerade weil die Reise so kurz war, erlebte ich sie so intensiv. Jedenfalls kam ich nach der langen Anreise logischer Weise ziemlich erschöpft am Hotel am Khuk Khak Strand an – diese Müdigkeit war aber sofort verflogen, als ich mein Zimmer betrat: Es kam mir eher wie der Raum einer kleinen Villa vor, mit glänzendem schwarzen Boden, einem riesigen Himmelbett, edlem, rundum verglastem Bad und einer eigenen Terrasse.
Ich bin beileibe kein Luxusurlauber und wohne in fremden Ländern viel lieber in kleinen, familiären, landestypischen Unterkünften, in denen man auch wirklich noch mit Einheimischen in Kontakt kommen kann. Aber diese Reise war eben auch für mich eine außergewöhnliche – und ich hatte noch nie zuvor in einem solchen Luxus-Zimmer wohnen dürfen. Ich fühlte mich, als hätte ich für diese kurzen drei Tage das Leben eines anderen ausgeliehen. Wir machten an diesem Anreisetag noch einen Ausflug in den Nationalpark ganz in der Nähe, schipperten in Bambus-Booten über einen Fluss, sahen vom Speedboot aus den berühmten James-Bond-Felsen und aßen abends direkt am Strand die köstlichsten Meeresfrüchte und Reisgerichte.
Das Schönste jedoch – und das ist auch der Grund, warum ich diese Szene hier überhaupt schildere – war ein Moment in der Abenddämmerung, ein kurzer Augenblick nur, der damals so schnell vorüberzog wie eine Wolke, der sich aber tief in mein Gedächtnis und mein Herz eingegraben hat: Zusammen mit fünf oder sechs anderen Journalisten aus der Gruppe beschloss ich, zwischen Rückkehr vom Ausflug und Abendessen schnell noch ins Meer zu springen. Das musste einfach sein. Wir zogen uns also rasch um (die Sonne war bereits am Untergehen und jeder, der schon mal in der Nähe des Äquators war, weiß, wie schnell das dort geht) und gingen, nein, rannten in den Badewannen-warmen, klaren, stillen Indischen Ozean.
Es war unvorstellbar, dass sich dieses Wasser vor genau sieben Jahren in eine todbringende, monströse Flutwelle verwandelt und Tausende in den Tod gerissen hatte. In diesem Moment dachten wir auch gar nicht an diesen Anlass unserer Reise. Wir, sechs oder sieben erwachsene Zeitungs-Journalisten, rannten kreischend und spritzend wie Kinder ins Meer, das sich in der untergehenden Sonne wie ein riesiger, rosa glitzernder Teppich vor uns ausbreitete. Nichts anderes existierte für mich in diesem Moment, ich war einfach nur glücklich.
Das war zweifellos einer der schönsten Tage in meinem Leben. Einer dieser Tage, bei denen man jetzt im Nachhinein fast bereut, sie nicht noch mehr genossen zu haben. Einer dieser Tage, die einen so glücklich machen, dass man bei der Erinnerung daran fast weinen muss: Zum einen aus Freude, aus Dankbarkeit, sie erlebt haben zu dürfen. Zum anderen aber auch aus Traurigkeit, weil man in den dunklen Momenten des Lebens ernsthaft daran zweifelt, je wieder so glücklich sein zu können. Als gäbe es jetzt anstelle von warmem Meerwasser nur noch kalte Schwärze. So jedenfalls kam es mir vor, als ich verkabelt auf der Stroke Unit des Klinikums lag und in den einsamen Nächten rein gar nichts hatte, das mich von meinen trüben Gedanken ablenken konnte.
Nicht gerade besser machte meine Situation die Tatsache, dass Maria an einem der nächsten Tage Besuch von ihren erwachsenen Kindern bekam. Ihr Sohn war ungefähr in meinem Alter, vielleicht ein paar Jahre älter, die Tochter ebenfalls. Ich hörte nicht zu, worüber die drei redeten, ich war viel zu sehr damit beschäftigt, mich meinem Leid zu ergeben. Es ging mir wirklich hundsmiserabel. Ich bekam nur mit, dass Marias Sohn die ganze Zeit ziemlich besorgt auf sie einredete.
Irgendwann, ich weiß nicht genau, wie lang die beiden Besucher schon da waren, bat ich eine Pflegerin um Hilfe. Die Natur meldete sich nämlich zu Wort, sprich: ich musste mal. Die Pflegerin reichte mir prompt die Bettpfanne, vor der es mir schon graute, wandte sich dann aber zunächst an die Besucher im Zimmer: „Ähm, entschuldigen Sie bitte, könnten Sie mal kurz rausgehen?“, sagte sie ziemlich barsch. Es war eindeutig keine Frage. „Warum denn?“, wollte Marias Sohn wissen.
„Weil wir hier noch eine andere Patientin im Zimmer haben“, fuhr die Pflegerin ihn an und gestikulierte in meine Richtung. Die Situation war eigentlich ziemlich witzig, ich hätte gelacht, wenn mir nicht so sehr zum Heulen zumute gewesen wäre und ich mich nicht so unfassbar geschämt hätte mit meiner Bettpfanne in der Hand. „Ach so“, sagte der Sohn kleinlaut und verließ mit seiner Schwester das Zimmer.
Ihr könnt euch vielleicht vorstellen, dass nach dieser kleinen Szene – und während ich genau wusste, dass die Besucher vor dem Zimmer nur darauf warteten, dass ich fertig war – gar nichts mehr lief. Ich gab der Pflegerin die Bettpfanne also unverrichteter Dinge zurück und weinte dabei. Als Marias Besuch wieder hereinkam, fühlte ich mich noch kränker, wenn es überhaupt noch eine Steigerung geben konnte. Und so unbeschreiblich hilflos.
Ich schämte mich so sehr und schäme mich noch heute, während ich das hier schreibe. Aber ich will es schreiben und ich will es euch sagen, auch wenn ihr es vielleicht gar nicht so gern hören wollt. Denn es gehört zu meiner Geschichte.
*
In den drei Tagen nach der Angiografie hatte ich eindeutig meinen Tiefpunkt erreicht. Ich wusste nicht, wie es noch weiter bergab gehen konnte, aber genauso wenig konnte ich mir vorstellen, dass es jemals wieder bergauf gehen könnte. Aber zum Glück ging es bergauf. Bald sogar ziemlich rasant. Nachdem die vier Tage strikte Bettruhe auf dem Rücken vorüber waren, überbrachte mir ein Arzt die frohe Botschaft, dass ich wieder aufstehen dürfe, um auf