Selbst auf 2'135 Meter gelegen, hatte man von Cholula aus einen atemberaubenden Ausblick auf den Popocatépetl, einem noch aktiven Vulkan, der hin und wieder große Rauchwolken und sogar Lava ausspuckte. Schon in der prä-kolumbianischen Zeit war Cholula (oder in Nahuatl der alten Muttersprache der Azteken „Chol?ll?n“) ein bedeutendes Zentrum zusammen mit Teotihuacan gewesen. Wahrscheinlich waren hier sogar schon Menschen weit vor 200 v. Chr. ansässig gewesen.
Direkt im Stadtgebiet lag eine der größten jemals errichteten Pyramiden, die große Pyramide von Cholula. Die katholische Kirche "Santa Maria de los Remedios", hatten die Spaniern mit Steinen von anderen aztekischen Bauten direkt auf den Gipfel der großen Pyramide errichtet, die jetzt mehr oder weniger mit Erde bedeckt war, und eher wie ein kleiner Hügel aussah.
Layla zog es die Augen zu. Ihr Körper forderte sein Recht. Sie hatte seit drei Tagen nicht mehr richtig geschlafen. Jedoch zog es sie, genau wie im Flugzeug, genau wieder in den gleichen Alptraum:
Sie träumte wieder vom undurchdringlichen Urwald und dass sie floh. Nur wusste sie diesmal, vor wem sie davonlief. Es war Sergio Alcazar und Antonio Gonzales López. Beide hatten sich in etwas unvorstellbares, etwas monströses verwandelt. Layla rannte, ihre Lungen brannten. Wieder peitschten ihr die Zweige schmerzhaft ins Gesicht und auf die Arme. Doch trotz aller Anstrengung kam sie nicht vorwärts. Der Boden war klitschig und ihre nackten Füße fanden keinen Halt. Sie merkte, wie die beiden immer näher kamen. Sie konnte sie hören und riechen, richtiggehend fühlen. Das Bild der toten Frau, die Antonio Gonzales López ermordet hatte, kam ihr in den Sinn. Trotz dass ihr Körper ausgelaugt und leer war, beschleunigte sie nochmals. Und wieder stolperte Layla über dieselbe Wurzel, wieder fiel sie hin, wieder konnte sie sich nicht abfangen und schlug hart mit dem Gesicht auf dem matschigen, glitschigen Boden auf. Wieder gelang es ihr nicht, sich wieder aufzurappeln und wieder merkte sie, dass eine der Bestien direkt über ihr war. Es war Antonio Gonzales López. Sein heißer Atem strich über ihr Haar, sein Geifer, der aus seinem gierigen Maul tropfte, klatschte ihr auf den Rücken. Layla wollte sich umdrehen…
…und sah der besorgten Lupi direkt ins Gesicht.
„Was ist los, Layla, Du hast Furcht erregend geschrieen!“
„Ich hatte einen Alptraum. Seltsam, denselben Alptraum hatte ich gestern in Flugzeug schon einmal. Ich glaube, die ganz Geschichte nimmt mich ganz schön mit!“
„Die Geschichte nimmt mich mit“. Das war wohl die Untertreibung des Jahres. Sie hatte Panik, sie wollte die ganze Geschichte nur noch hinter sich bringen. Der Traum hatte ihr im wahrsten Sinne des Wortes den Rest gegeben. „Ach, zum Teufel mit der Verantwortung für Mercedes und der toten Frau“, dachte Layla. Sie würde jetzt nur noch nach Cholula gehen, dort ein paar Leute befragen und dann würde sie in das nächste Flugzeug nach Hause steigen. Sergio Alcazar, Antonio Gonzales López und Aguas Verdes konnten ihr den Buckel herunter rutschen! Es war ihr auch scheißegal, ob am Ende eine Story dabei heraussprang, oder nicht. Peter wäre zwar verwundert, dass sie einfach so aufgab, aber er würde sie sicher verstehen.
Layla rief sich zur Raison. Was war den nur mit ihr los? Natürlich würde sie weitermachen. Sie würde die beiden doch nicht einfach so davonkommen lassen. Nein, meine Herren, so leicht gewinnt ihr nicht!!!
Gedankenverloren nahm sie das wertvolle Silberamulett, dass an ihrem Hals hing in die Hände und betrachtete es. Wieder bewunderte sie die außergewöhnliche Arbeit. Das Amulett würde sie ihrer Großmutter zurückgeben müssen. Es war immer noch warm, vielleicht sogar noch etwas wärmer, als sie es in Erinnerung hatte und es schien eine ungeheure Kraft davon auszugehen. Layla küsste das Amulett und steckte es wieder in ihre Bluse.
Daniel war mittlerweile in Cholula angekommen und wartete auf Anweisungen, wo die Befragung starten sollte. Da Layla keine Ahnung hatte, wo sie die alte Frau finden konnte, die eines der verschwundenen Mädchen auf dem geheimen Pfad gesehen haben wollte, war die erste Adresse wohl der Pfarrer. Nur welchen Pfarrer und von welcher Kirche? Sie konnten doch nicht alle befragen.
Plötzlich hatte Layla das Gefühl, als ob das Silberamulett auf ihre Brust kurz wieder wärmer würde und ihr Blick wurde wie magisch auf die Kirche gezogen würde, die direkt auf dem Hügel über der Pyramide errichtet wurde. „Das ist doch einmal ein Anfang“, dachte Layla und deutete auf den Parkplatz vor der Pyramide.
Sie hatten zwar keine Zeit, die Pyramide zu besichtigen, was Layla sehr bedauerte, warfen aber trotzdem einen staunenden Blick darauf, bevor sie sich an den beschwerlichen Aufstieg machten. Angekommen auf dem Gipfel machten sie sich auf die Suche nach dem Pfarrer. Geschlagene fünf Minuten irrten sie in und um die Kirche herum, ohne auch nur einen Rockzipfel des Kirchevertreters zu sehen. Frustriert sagte Layla:
„So wird das nichts. Wir müssen uns trennen. Daniel kannst Du Lupi zum Zentrum fahren, damit sie dort speziell alte Leute befragen kann und könnest Du dann versuchen in den anderen Kirchen die Priester zu befragen?“
„Was willst Du den genau wissen?“
„Alles über den geheimen Pfad von Cholula“
„Nie davon gehört. Gibt es irgendetwas Spezielles, dass Du wissen willst?“
„Wenn ihr jemanden findet, der etwas darüber weiß, dann ruft mich bitte auf dem Handy an. Ich komme dann so schnell wie möglich nach.“
Die beiden bejahen und gingen wieder nach unten in Richtung Auto. Layla machte sich wieder auf die Suche nach dem Priester, konnte den aber auch weiterhin nicht finden. Frustriert und ärgerlich wollte sie gerade aufgeben, als ihr eine alte Frau auffiel, die gerade ihr Gebet beendet hatte. Die Frau hatte dicke Tränen in den Augen, die ihr in kurzen Abständen über die Wangen flossen.
„Guten Tag, Señora, kann ich etwas für Sie tun?“
„Nein, schon gut, Señorita, ich komme schon klar.“
„Kann ich Ihnen wenigstens bei dem beschwerlichen Abstieg helfen?“
„Oh, das wäre sehr nett. Wenn nur alle jungen Leute so freundlich wären, wie Sie!“
Die letzten Worte gingen schon wieder in ein wehklagendes Schluchzen über. Layla legte den Arm tröstend um die Frau. Sie tat ihr leid. Gemeinsam begannen sie den Abstieg, wobei der Körper der Frau immer wieder von regelrechten Weinkrämpfen durchgeschüttelt wurde.
„Sie müssen verzeihen, Señorita, dass ich so verzweifelt weine. Ich habe gerade meine Enkelin verloren!“
„Oh mein Gott, das ist ja grausam. Darf ich Ihnen mein Beileid aussprechen. Was ist denn passiert?“
„Sie hatte einen Autounfall“
„Das ist ja schrecklich!“
„Es war aber kein normaler Autounfall. Als sie gestern Abend von der Arbeit nach Hause kommen wollte, da ist sie mit dem Auto gegen irgendetwas geprallt. Seltsam war jedoch, dass da nichts war, gegen das sie geprallt sein könnte. Kein Baum, kein Haus, nicht einmal ein großer Stein. Das Auto war trotzdem total zerstört!“
„Entschuldigen Sie meine Neugier, Señora, aber kann es auch ein anderes Auto gewesen sein?“
„Die Polizei meint Aufgrund der Zerstörung des Fahrzeugs dies ausschließen zu können. Der ermittelnde Beamte meinte, es sehe eher aus, als ob sie mit hoher Geschwindigkeit auf einen Baum, oder einen Felsen geprallt wäre. Aber dann hätte dies doch am Unfallort gefunden werden müssen. Meinen Sie nicht auch?“
„Das glaube ich auch! Ich hoffe ihre Enkelin hat wenigstens nicht leiden müssen!“
„Das weiß ich nicht. Man hat ihre Leiche nicht gefunden. Auf dem Sitz war zwar Blut, viel Blut, aber sie selbst war nicht da. Auch bei der darauffolgenden Suche ist sie nicht gefunden worden.“
Bei Layla schellten plötzlich alle Alarmglocken. Konnte es sein, dass die Enkelin der bedauernswerten Frau entführt worden war? Konnte es sein, dass Sergio Alcazar seine Finger da im Spiel hatte? Es schien Layla fast so, als ob dieser