Nein, es war wirklich nur der Wunsch etwas Nettes zu sehen, und außerdem saßen noch andere Cremeschnittchen am langen Tisch mit der orangefarbenen Resopalplatte, die vergeblich ein wenig Fröhlichkeit in der muffigen Kantine verbreiten sollte. Orange und Braun waren die Grundfarben im Saal, wie in Neukölln. Hier kam kein Fremder rein, er wäre auch nicht freiwillig geblieben. Ein riesiger Raum, verräuchert und kahl. Selbst die große Fensterfront war durch halbtransparentes Glas uneinsehbar. Aber was da so manchesmal hinter der Milchglasscheibe saß, war spektakulär.
Besonders die weiße Flotte der französischen Köche und Bäcker war mir eine Augenweide, auch wenn sie nicht schwul waren. Oder die Schönheitsköniginnen aus der Parfümabteilung, von welchen die Meisten unverkennbar weiblichen Geschlechts waren, zwischen denen aber einige ebenso unverkennbare Visagisten rumzickten, deren bestes Ergebnis das eigene Gesicht darstellte. Es wollte gar nicht zusammenpassen, die elegant ausstaffierte Gesellschaft auf den schäbigen Plastikschalen mit Stahlrohrbeinen in der nüchternen Umgebung. Als sei man in der Theaterkantine eines Gesellschaftsstückes gelandet mit großer Besetzung gelandet.
Aber es war hochinteressant, denn stets herrschte ein eifriges Kommen und Gehen, da die Pausenzeiten gestaffelt waren. Die Kantine war anregend, das Essen weniger. Zwei Hauptgerichte. Ein schlichtes für den kleinen Geldbeutel und ein exklusives für die Besserverdienenden. Das trennte die Spreu vom Weizen. Am Essplatz von Herrn Bukett, der ebenfalls mit einigen seiner alten Getreuen an einem Vierertisch saß, verzehrte man natürlich die gehobene Variante, egal was angeboten wurde.
An unserem Tisch ging es eher gemischt zu. Einer war so geizig, dass er sich noch die Teebeutel von zu Hause mitbrachte, weil sie an der Theke einen Groschen kosteten, andere taten so, als wären sie mit Goldlöffeln im Maul geboren worden. Man konnte seine Studien machen. Lediglich zwei Heteros saßen bei uns. Ein Substitut mit Frau und Kind und unsere Frau Müller. Ach ja, das Neutrum Gisela war auch meist anwesend und beklagte sich bei Hagen über die Ungerechtigkeit des Tages. Der große Wortführer war ein Kleiner Bayer, pfiffig und wendig, jederzeit zu einem Schmäh bereit. Ein lustiges Kerlchen, welches stets in einen Rechtsstreit, meist mit seinem Vermieter, verwickelt war und saukomische Anekdoten darüber lautstark zu verbreiten wusste.
Nach dem hinreißenden Assistenten gefiel der mir am Besten. Gern kam er ins Atelier geschlichen, auf der Suche nach menschlicher Wärme nebst einem Gläschen, um sein Öfchen anzuheizen. Der Mann war erfrischend direkt und gehörte zu den beliebtesten Kollegen, worauf er ziemlich stolz war. Kurt der Kurze.
Nach Feierabend gingen wir gern zusammen noch ein Bier trinken, in der Andreas Kneipe gleich neben dem großen Kaufhaus. Man konnte diese Kneipe auch als erweiterte Kantine für uns betrachten, da einige schon die Mittagspause am Tresen verbrachten. Eigentlich war es verboten, ohne Vermerk auf der Stempelkarte das Haus zu verlassen. Aus versicherungstechnischen Gründen, wie es hieß, aber Typen wie Waldi, das war unser Stoffkünstler, oder die etwas robusteren Herren aus der Tischlerei und der Schmiede, ignorierten ständig die Vorschriften und verbrachten ganze Nachmittage gesellig. Bis der Pieper sie ans nächste Telefon rief, um Rückmeldung zu machen und zu erfahren, wo die nächste Arbeit auf sie lauerte.
Hätte Herr Bukett auch nur geahnt, wo sich seine Schäfchen herumtrieben, wären sie auf der Stelle gefeuert worden. Bestrafung war dieses Mannes höchstes Vergnügen. Und er hielt viel aus, um dieser Lust weiterhin zu frönen. Manchmal sah man ihn aus Butterbecks Zimmer kommen, grau und erschöpft, denn er war sein beliebtestes Hassobjekt und der Boss ließ keine Gelegenheit aus, ihn zu demütigen.
»Hört denn das nie auf?«, vernahm ich einmal zufällig, als er sich allein wähnte und verzagt die Flügeltür hinter sich und seinem Herrn schloss Er hätte fast Mitleid verdient, aber anderseits war er so boshaft, dass das Mitgefühl sich bei allen, die enger mit ihm zu tun hatten, in Grenzen hielt.
Leider, leider besaß der Mann auf der Seite zur Kneipe hin keine Augen, denn nur die Geschäftsleitung hatte Fensterscheiben, die einen Durchblick ermöglicht hätten. Dort aber hielt er sich so gut wie nie auf. Und machte er einen Kontrollgang ums Haus, musste er sich aus versicherungstechnischen Gründen unmittelbar an den Schaufensterscheiben entlang bewegen, da er sonst wegen Verlassens des Betriebsgeländes hätte ausstempeln müssen. Also konnte er auch nicht mal eben über die Straße, um Stichproben vorzunehmen. Wie ein hungriger Hai im Aquarium kreiste er mehrmals täglich von außen um die Schaufenster, immer auf der Suche nach Mitarbeitern, die schnell eine Zigarette rauchten oder ein Privatschwätzchen hielten. Er hatte so eine Art, unvermittelt wie ein Geist aufzutauchen und er hatte eine Nase für Saumseligkeiten.
»Haben Sie nichts zu tun !?« Dieser Spruch, mit zuckersüßer Stimme gestellt, war gefürchtet, denn meistens war er der Beginn größter Unannehmlichkeiten.
So kamen die Kneipenbesucher immer davon. In den Hintergrund abtauchen, wenn er ums Gebäude schlich, und wenn der Pieper loslegte, sichern, schwupps über die Straße zur Toreinfahrt oder zum Seiteneingang mit dem Fahrstuhl, der selten genutzt wurde und vorrangig den Diktatoren aus der zweiten Etage diente.
Bedauerlicherweise saß in unserer Kantine nicht nur der schöne Jürgen aus dem Vorzimmer und sein fast genau so lieblicher Exfreund, der im übrigen auch Jürgen hieß. Natürlich nicht, denn auch der weniger attraktive Kollege hatte hier sein Plätzchen. Mister Neumann entsprach sämtlichen Vorurteilen, die Heteromänner von Schwulen haben, gleich im Quadrat. Vom einfachen Dekorateur war er emporgestiegen in die lichten Höhen von Butterbecks Sekretariat, wie auch sein schöner Kollege.
Jürgen Menzel war gelebte Diskretion, sein Büropartner das genaue Gegenteil. Meist erschienen sie im Duett. Wie Max und Moritz auf der Berliner Durchreise (bekannte Modewoche). Der in sich gekehrte große Blonde und sein unentwegt plappernder Gegenpart, der ständig Belanglosigkeiten von sich gab. Ein sonniges Gemüt. Mit einer Selbstsicherheit, die fast schon beneidenswert war. Ich ärgerte mich manchmal, wenn ich eine unbeabsichtigte Blödheit begangen hatte und es erst hinterher merkte. Dieser hier kannte keinerlei Selbstzweifel. Er war authentisch bis zur Selbstaufgabe und merkte nicht einmal, wenn er ungeheuren Blödsinn verzapfte. Für ihn war das außerordentlich befreiend und seine Welt blieb zeitlebens zuverlässig flach.
Direkt hässlich konnte man ihn auch nicht nennen, so ein bisschen Typ Elton John, den ich auch nicht so unbedingt sexy finde. Sein Freund war ein heißblütiger Italiener, ein bisschen klein und pummelig, aber oho. Originell waren sie beide.
Ausgerechnet dieser Kollege schien ein Auge auf mich geworfen zu haben. Irgendwie hatte ich den Aufprall nicht gespürt, weil ich meinerseits nur Augen für die Herrlichkeit an seiner Seite besaß. Unter Vorspiegelung falscher Tatsachen hatte er mich zu einem privaten Treffen unter Kollegen zu sich nach Hause gelockt. Da geht man doch auch gern mal eine private Verbindung ein, wenn ein solcher Kreis von berufsbezogenen Fachleuten zum Gedankenaustausch auch noch die Freizeit opfert.
Ja, und da sitzt dann kein großer Blonder oder sonst ein Kollege, außer dem festlich geschmücktem Gastgeber, und der erzählt dir, wie gut er erst einmal in seiner Jugendzeit, in Unna vor vier Jahren, ausgesehen hat. Und zum Beweis hat er dir einen in Kalbsleder gebundenen Folianten in XXL-Format auf den Schoß gedrückt, der um die Zeugungsfähigkeit fürchten lässt, und in welchem er eifrig blättert, von Geburt bis Mallorca-Urlaub in Monaco, während er immer näher rutscht, und die Tür geht auf, weil der heißblütige Italiener erschöpft von der Arbeit nach Hause kommt. Wo Italiener doch so eifersüchtig sind und kleine Pötte erst recht schnell überkochen. Der arme Carlo mag sich gewundert haben, dass meine Begrüßung so enthusiastisch ausfiel. Man weiß ja nie, ob die Vendetta in diesen Kreisen gänzlich ausgestorben ist.
Mir gegenüber legte er jedenfalls von Stund an ein gewisses Misstrauen an den Tag, während ich ihn nie darüber aufklären mochte, warum ich eigentlich gekommen war. Das erschien mir herzlos. Und so hörten wir noch gemeinsam ein abwechslungsreiches Stündchen deutsches Schlagergut. Ja, und dann hatte ich vorher noch blöderweise eine Geburtstagseinladung bei seinen Freunden