Die freien Geisteskranken. Jasper Mendelsohn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jasper Mendelsohn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742776693
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hast niemanden zum Diktieren. Du mauerst Worte hoch zu leeren Burgen, und keiner will hinein – du Tollpatsch hast die Fenster vergessen. Und sie lachen heimlich über dich, das macht dich garstig und verbissen, verkantet und einsam. Und deine Einsamkeit macht dich bitter. O, du Diktator ohne Volk. O du armer Diktateur. Du Kreativer ohne Medium, du Aufbläser und Aufbläher ohne ein Ventil. Unausweichlich und ohne Ausweg. Zum Mystiker und Verschwörer wirst du werden, und wer dir nicht gefügig wird, wird dir Widersacher. Doch dein Erzfeind wird dir deine eigene Bitterkeit. O, du Diktator ohne Volk. O, du armer Diktateur. Einsam isst du Tag für Tag zu Abend, und es schmeckt dir jedes Mahl bitterer. Einsam irrst du auf deinem Mond – du Trabant – immer vorwärts. O, du Diktator ohne Volk. O, du armer Diktateur. Du Spucknapf der Intellektuellen. Und aus unserer Verachtung saugst du die fette Milch der Aufmerksamkeit und verschluckst dich daran. Auch unser spöttisches Lachen ist dir brutzelndes Pfannenfett an dem du dich wärmst und reibst und naschhaft leckst und dir deine vielen Zungen daran verbrennst. Seht ihn nicht an! Geht an seinen Erdlöchern vorbei, wenn ihr die Kröte schnarren hört. Hört ihn nicht an! Lasst ihn in seinem Loch. Er wirft euch die Peitsche zu. Lasst sie liegen! Vernichtet ihn nicht! Entgegnet ihm – nichts! Die Kunst ist tot und niemand kann sie mehr lebendig reden! Doch Dada ist gegen lebendig.« Der Überzeugte kniff die Augen zusammen und spitzte die Lippen, dass ihm sein Oberlippenbart in die Nase wühlte. Man hätte meinen können, es qualme aus seinen Ohren. »Entartung ist das! Entartung!«, giftete er und schlug hastig mit der Hand durch die Luft, er hatte sich als alleiniger Sprecher der Hinterbänkler hervorgetan. Die vorderen Reihen buhten sie aus und einige warfen Stühle nach hinten. Wild geifernd zogen sich die störrischen Gruppenbildner zurück. Quietschend zog der Vorhang wieder zu. Das vielarmige Missverständnis war perfekt, Applaus gab es keinen, ein gelungener Abend. Kollwitz versuchte Karl zu beruhigen. Sie ließen die Hinterbänkler zuerst hinausgehen, das dauerte nicht lange, sie waren zügiger Natur. Kollwitz und Karl wanderten noch ein wenig durch die Ausstellung, suchten Zeichnungen und Fotomontagen, die sie noch nicht besichtigt hatten und machten aus einem Umweg einen langen Spaziergang zurück nach Hause. Ihre Köpfe waren für einen kurzlebigen Moment befreit, zumindest der von Kollwitz. Was in Karls Kopf vorging, konnte sie nur erahnen. Was heute wieder in ihn gefahren war, darüber mochte sie gar nicht nachdenken. Doch beide genossen das Gehen, so lange es dauerte. Sie bogen um zwei Ecken und gelangten ans Spreeufer. Wie unbeirrt dieses Wasser doch durch die Stadt floss. »Du stehst niemals im selben Fluss«, sagte Kollwitz. »Das hast du einmal gesagt.« »Ich? Wann?«, fragte Karl. »Das hast du mal Hans und Peter gesagt als ihr mit hochgekrempelten Hosen in die Strömung an der Havel gingt. Du sagtest: ›Das Wasser, das eure Füße berührt, kommt aus der ganzen Welt und fließt in die ganze Welt zurück. Ihr werdet nie wieder das gleiche Wasser an euren Füßen spüren.‹ Du warst immer gerne so ein alter, weiser Mann.« Das war er auch, er hatte Peter schließlich verboten an die Front zu gehen und ihr, ihm eine elterliche Erlaubnis zu erteilen. Hätte sie nur auf ihn gehört. Da war sie wieder, die Ohnmacht. »Ja«, sagte er, »niemals bleibt der Fluss derselbe. Wir schon«, dann bog er ins Schweigen ab. Sie gingen weiter stromaufwärts, vorbei an einem Denkmal von einem vergessenen Krieger. Es stand verlassen vor einer kleinen, sparsamen Grünfläche. Der bronzene Herr mit Pickelhaube wies mit strengem Lehrerzeigefinger auf den Fluss, in der anderen Hand hielt er den Griff des Säbels an seinem Gürtel. Die Klinge war leicht aus ihrer Halterung gelöst. Offenbar handelte es sich um einen Helden. »Kennst du den?«, fragte Kollwitz. »Nein«, antwortete Karl ohne hinzusehen. So groß, so aufopfernd kann der Heldentod also nicht gewesen sein, dachte Kollwitz. Zumindest hat er dadurch nichts erreicht, denn für das, wofür er gekämpft hatte, war heute offenbar kein Platz mehr im Gedächtnis. Sie richtete ihren Schal. Nach langem Pfade kamen sie zu Hause an. Karl holte sich wie immer eine Zigarette und setzte sich auf seinen unbequemen Holzstuhl vor dem Fenster, um die Straße zu beobachten. Vielleicht käme Peter ja doch noch nach Hause, wenn er nur lange genug Wache hielte. Er spürte es tief in sich drin, dass er noch lebte. Kollwitz überließ ihn seiner Art der Trauer und er billigte ihr die ihre zu. Sie legte sich in Peters Bett und beobachtete die Schatten an der Decke. Dort vermisste sie ihn, ihren Krieger, ihren von der Welt vergessenen Krieger, man hatte ihn zu Dada verarbeitet.

      Ein frischer, gräulicher Morgennebel durchwehte die Straßenschluchten. Es war früh. Kollwitz ging vorbei am Denkmal des vergessenen Kriegers und rieb sich den Sand des Schlafes aus den Augen. Eine Traube von knöchrigen Menschen hatte sich vor dem Bronzesoldaten versammelt, eine Gulaschkanone hatte sich zu seinen Füßen postiert. Befeuert wurde der Topf mit dem eisernen Hindenburg, der mittlerweile zu sechsundzwanzig Tonnen Brennholz umfunktioniert worden war. Sie passierte das Spreeufer, an dem sie gestern noch in Erinnerungen schwelgte. Dort standen nun die schwitzigen Schwarzhändler und Hehler, die einem ihre Angebote zuflüsterten. Brotkarten, Fleischsiegel, Gemüsemarken, Spezialbürgerpässe, alles eigenartige Produkte der Umstände, alles notwendig, alles eine Frage des Preises. Sie kaufte eine Gemüsemarke und entschied sich für den gleichen Weg wie am Vorabend. Dort angekommen stellte sie sich ans Ende der Warteschlange, welche sich um zwei Häuserecken schlang und sich kaum bewegte. »Das Wassergemüse, wenn’s geht«, hatte Karl gerade eben noch gesagt. »Wenn’s geht, das Wassergemüse.« Sie nickte zu sich selbst. Karl wusste als Arzt schließlich wo die Vitamine versteckt waren. Karl hatte letztlich immer recht.

      Drei Stunden Dauer hatte sie für die Lebensmittelausgabe einkalkuliert. Sie durfte also ruhig die Zeit vergessen. Wie selig ihr das Warten war, wo nur ein trockener Laib Brot, ein karges Netz pflaumengroßer Kartoffeln und etwas Wassergemüse die Erwartung stopfte. Nicht viel, doch das war Berlin. Darbender Hunger und existenzielle Wohnungsnot lag wie ein Unstern über der Stadt. Klamme Familien bewohnten Lauben und Blechverschläge, Arme kämpften mit Ärmeren um Lumpen. Manche Kinder trugen nicht einmal Schuhe, die meisten wussten nicht wie Milch schmeckt. Geistige Wirre, Kleinwuchs und Verschleiß durch Entbehrung war in ihren Gesichterchen vorauszusehen. Lange und tief hatten sie in die Schluchten und Abgründe geblickt; lange und tief hatten die Abgründe in sie zurückgestarrt. In ihren Mägen lagen die Canyons leerer Meere. Ihre Augen waren einer inneren Finsternis angepasst, Nahrungsmangel bremste ihren Spieltrieb. Die Kalamität der Erwachsenen traf vor allem ihre Erben. Im Bestattungsinstitut neben der Lebensmittelausgabe lagen kurze Särge zum Sonderpreis aus. Wenn Kinder sterben, denkt man instinktiv an etwas Anderes.

      Die Neuankömmlinge am Schlangenschwanz begrüßten sich verheißungsvoll, auf dass es an diesem Tage zügiger vorwärtsgehen mochte. Der Triumph der Hoffnung über die gestrige und vorgestrige Erfahrung. Die lange Ausgestandenen vor der Türe wirkten nicht mehr allzu frisch, das Warten war ihnen wieder mal zäh geworden. Kollwitz knitterte ihre Essensmarke, streckte ihr Kreuz und sah in sich hinein. Sie dachte an Hans und seine Frau Otty, sie erwarteten ein Kind, bald würde es soweit sein. O je, ein Kind in die Welt zu setzen, zu einer Zeit, in der Kinder sterben. Wie sie dem Kind all die schweren Kapitel ihrer Generation mitgeben würden, auf dass er oder sie es eines Tages besser mache, so wie es ihre Generation schon nicht besser gemacht hatte. Sie konnten nichts für all das Elend, das ihnen angetan wurde. Die Unschuldigen fühlen sich immer schuldig, die Schuldigen zeigen niemals Reue.

      Die Schlange schob sie weiter nach vorne, viele kleine Tippelschritte waren abgeschlürft, so dass sie sich schon in der Mitte der Kolonne schätzte. Die Sonne drückte sich aus der Bewölkung heraus und die nasse Kälte des Morgens verschwand allmählich von der Haut. Sie sah sich um und beobachtete die Gasriecher, die beflissen ihrer Arbeit nachgingen, wo sie noch eine hatten. Sie klopften ihre Riechstäbe in die Böden und schnupperten, ob da nicht doch noch irgendwo etwas Gas leckte. Doch es gab nichts zu erschnüffeln, die Kraftwerke streikten schon seit zwei Wochen, dennoch schienen sie beschäftigt und ungestört. Denn ohne Beschäftigung kein Lohn. Man tut, was man soll, wenn dieser jemand, der einen bezahlt, nichts sagt. Am nahen Ende der Straße tat sich ein kleiner Stadtpark auf und dort sah sie einen amerikanischen Gentleman, oder das, was man sich darunter vorstellte, auf einer Bank platznehmen und einen Block aufschlagen. Er fing an zu zeichnen und es schien, als hätte er die Warteschlange als sein Motiv gewählt. Sein Aufblicken wirkte konzentriert, sein Kohlestift bewegte sich vital. Durch und durch ein Zeichner, konnotierte Kollwitz. Überrascht stellte sie fest, dass sie ihn wiedererkannte. Es war der Propagandadada vom gestrigen Abend, doch erinnerte sie sich nicht mehr an seinen Namen. Etwas Unaussprechliches mit einem »G« zu Anfang und mit einem »SZ« am Schluss. Ein slawischer Name vielleicht, vielleicht polnisch. O,