Die freien Geisteskranken. Jasper Mendelsohn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jasper Mendelsohn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742776693
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will sie alle heilen. Ich will all ihre Schmerzen in Luft lösen. Ich will all ihre Kugeln und Metastasen aus ihren Leibern schneiden. Ich will eine Medizin erfinden, die all ihre Fremdkörper zu Antikörpern macht und all ihre Bestandteile zu Eigenschaften. Ich will ihre Schädel öffnen und ihre zerbrochene Zuversicht kleben. Und wenn die Narkose verblasst, wie ein früher Morgen, und ein leichter Schwindel zurückbleibt, dann – will ich alles in ihnen geheilt haben. Nicht nur ihre Tuberkulose, ihre Sepsis, ihre Schusslöcher – auch ihre Euphorie, ihren Enthusiasmus, ihre Angst und ihren Stolz. Ich will ihr Arzt sein. Ich will sie in ihrer Gesamtheit heilen. Ich will Gesamt-Arzt sein. Arzt bin ich nur, doch die Gesamtheit will ich heilen. Jeden will ich heilen. Alle. Von Allem.« Er senkte den Kopf in die Hände. Das elektrische Licht der Streikbrecher flackerte von den Straßenlaternen durch die Scheiben. Die Welt war ihm durcheinandergebracht, unordentlich. Ja, so war es auch ihr. Kollwitz sah ihn an. Ein gebrochener Mann in seiner vollen Blüte. Die Welt war durcheinandergebracht. Eltern verlieren ihre Kinder nicht, Eltern sterben bevor sie das erleben müssen. Wer das verliert, was wir verloren haben, dachte Kollwitz, dem bleibt es kalt und festes Eis wächst zwischen uns. Gletscher ist jetzt was einmal sprudelnder Quell und Ursprung war. War es einmal Liebe was uns zusammenhielt, so ist es jetzt die Trauer, die Trauer der Eltern, die uns aneinander gefriert. Karl ließ seine Hände herabfallen, streckte sich und sah sie an. Die Schatten fielen tief in ihre Gesichter, gekrümmt schien ihre Zeit. Die Kerzen erstickten, eine nach der anderen erlosch, die beunruhigende Nachtruhe fiel in die Stube. Es war ruhig draußen. Auch Peter fiel in einer solchen, ruhigen Nacht. Sie hatten nichts gespürt als es passierte. Sie gingen an jenem folgenden Morgen ihrem Alltag nach, unwissend ihn verloren zu haben. Auch in dieser Nacht fielen wieder Söhne. Von Bekannten, von Nachbarn, von Freunden, von Geschwistern. Alle fielen sie, nach vorne und nach hinten, nach oben und nach unten, nach links und nach rechts, überall hin. »Geh schlafen«, sagte Kollwitz. »Du brauchst Ruhe und Träume.« »Geh du nur«, sagte Karl. »Wenn ich schlafe wird jemand sterben. Wenn ich träume wird jemand sein Kind verlieren. Ich muss wieder los. Die Leute schießen wieder aufeinander und jemand muss all die Löcher stopfen.« Karl ging nach einem Tässchen Kraftbrühe, zwei oder drei Zigaretten und ein paar trostlosen Augenblicken des Schwermuts zurück ins Hospiz. Kollwitz sah ihm durch ihr Fenster nach, dort verschwand er wiedermal. Hinein ins Blutbad. Sie zog sich ihr Nachthemd über, legte sich in Peters Bett und zählte die Schatten an der Decke. Wo Nacht ist, wo die Schatten ihre Spiele spielen, da sind Groß und Klein nur Illusionen. Da wo Nacht ist, dort huschen sie im Schutz der Unsichtbarkeit, rundherum und um sich herum, die Bewegungen und die Bewegten. Mit starken Waffen und schwachen Worten. Sie zog die Decke an ihr Kinn und döste in ihren tiefen, liebsten Traum hinein. Sie war im Wald auf der Suche nach Peter und dort, über dem Blätterdach, dort lag er wieder selig schlafend in einer Hängematte, zwischen zwei Bergen, und atmete gründlich und gesund. Dann nahm sie ihn behutsam aus der Hängematte heraus und legte ihn zurück in ihr Herz. Einmal, zweimal, dreimal, immer wieder, bis zum Morgen.

      X X X

      Flugblatt! Flugblatt! Flugblatt!

      Kommen Sie, ja, Sie, genau, Sie, Sie, der Sie so fragmentarisch mustern. Mund auf, Kopf auf, rein mit der Soße. Was steht auf der Büchse? Dada! Was ist Dada? Besser sollte man meinen: Was ist Dada nicht? Nicht Nicht-Dada ist Dada, Dada ist Nicht-Dada, in seiner gegenseitigen Verneinung zum Ja, also wenn solches nicht-ist sein soll und immer das Gegenteil seiner selbst wäre, sei Dada jenes.

      Treten Sie also los, nehmen Sie Positur an, stellen Sie sich neben sich und in Ihren Nächsten, drehen Sie sich viereinhalbmal im Kreise und kommen Sie zum Lützowufer 13, in die Kunsthandlung Otto Burchard. Dada.

      Die Himmelsrichtung, so so, wenn Sie mir damit mal nicht die Koordinaten meinen. Hier denn nun die dadaströse Wegumschreibung, per Gesetz:

      Man rupfe die heilige Banane vom Baume der Erkenntnis, löse die Mehlfrucht aus der Schale, lege diese umsichtig und unsichtbar vor sich an die Füße und marschiere lauten Schrittes voran. Wusch! Rups! Padabum! Klaps! Wenn Sie nun ausgerutscht auf dem Hosenboden sitzen, sich kratzen und fragen: Ja, geht‘s noch? Dann hieße das: Befehlsverweigerung! Auf, auf, ein zweites Mal. Wie kürzlichst noch in kriegerischem Einheitszweiteilen, Dada-Krieg. Jetzt dürfen Sie lachen. Jetzt nicht mehr. Jetzt wieder doch. Stopp. So tönt und trötet es der Feld- und Wiesenmarschall in sein Blashorn. Danke dafür – dafür nicht – danke. Dada sei hierbei gedankt. Will aber heißen: Grapschen Sie sich am Kragen, nehmen Sie sich eine Wäscheleine, kommen Sie heran. Dada ist nicht, Dada bleibt. Dada wird Ihnen die Birne schon Instand setzen. Die Kunst aber ist tot, da war nichts zu machen. Jeden Montag um sieben Uhr Soirée.

      Mit deutlichen Grüßen,

      jedermann sein eigener Fußball,

      der Propagandadada

      Flugblatt! Flugblatt! Flugblatt!

      KAPITEL II Dada und die Weltformel 1920

      Der lange Fips in weißem Nerz und roter Schelmkappe öffnete den Gästen die Türe und gurrte. »Hereinspaziert, hereinspaziert, Dada sperrt Ihnen vorzüglich Ihre Schädeldecke auf. Kein Schreck, kein Schreck.«

      Der Eingang lag verborgen hinter einer Poststation und einer öffentlichen Toilette nahe dem Lützowufer. Die misstrauischen Interessierten sammelten sich an der Kasse und sahen sich verschwiegen an. Kollwitz war eine der Wenigen, die nicht lächelten. Karl hatte sie dazu überredet, herzukommen. Er zahlte den Eintrittspreis scheinbar gewohnt und schien die Regeln zu kennen.

      »Nur kalt Blut meine Damen und Herren, kommen Sie, haben sie Zuversicht in die Amöbe, setzen Sie Hoffnung in die Mikrobe. Dada ist die erste und größte Weltform. Wir sind die wahren Kommunisten des ehrlichen Kapitalismus, denn wir ziehen jedem das Geld aus der Tasche.« Und die Glocken an seiner Eulenspiegelmütze bimmelten. Er hielt einen schnurrenden Kater auf dem Arm und kraulte ihm die Kinnlade, während er mit der anderen Hand etwas umständlich die zwei Mark fünfzig Eintrittspreis entgegennahm. Er grinste wie ein Clown ohne Puderquaste, etwas Besorgniserregendes das ansteckend schien. Die Zähne schwarz wie Ruß, die Haut weiß wie Kalk, lang wie eine Bodenleiste. An den Wänden hingen groteske Collagen und eigenartige »Erzeugnisse«, wie die Gastgeber es nannten. Grotesk und für das Gros der Besucher eher Zumutung als Mut zur Aussage. »Sperren Sie endlich Ihren Kopf auf«, titelte ein Plakat. Die Augen waren ausgeschnitten, Buchstaben waren darüber geklebt. »Schau dich ruhig um«, sagte Karl, der die Ausstellung schon kannte und ging vor in den Theaterraum, in dem später die Soirée stattfinden sollte. Kollwitz nickte. Sie war ihm dankbar, sie mal aus ihrem Atelier geschleift zu haben. Es tat ihr gut rauszukommen. Zuletzt war sie auf einer Skulpturbaustelle eingeschlafen. Interessiert näherte sie sich einem dieser verworrenen Werke, skizzenhafte Zeichnungen, die hier und da die Wände mit Aussage tapezierten. Auf diesem einen war ein Offizier geschmiert, der mit erhobenem, offensichtlich blutgetränktem Säbel über einem toten Strichmännchen kniete, welchem er die Kehle aufgeschnitten hatte und es anbrüllte. Die Bildunterschrift lautete »Noske bei der Arbeit«. Sie kam nicht umhin zustimmend zu nicken. Ein mittelgroßer, alter, etwas dunkelhäutiger Mann mit Halbglatze, weißem Seitenhaar und dickem schwarzen Mantel stand unbemerkt neben ihr und schüttelte den Kopf. »Rümpel, nichts als Rümpel«, knurrte er. »Sie stimmen mit dieser Ansicht über Noske nicht überein?«, fragte sie ihn. »Noske? Der Bluthund? Das soll Noske sein?« »Da steht’s.« Sie zeigte auf die Bildunterschrift. »Das macht’s auch nicht besser«, sagte er, dann sah er sie an. »Frau Käthe Kollwitz? Ist ja nicht wahr. Ich habe die Ehre.« Dann gab er ihr die Hand wie einem Arbeitskollegen. »Ist das so? Sie haben Ehre? An welcher Front haben Sie gedient?«, fragte Kollwitz sarkastisch, doch ihr Gegenüber war sehr wohl imstande zu schwarzem Humor. »Verzeihen Sie, Pietät, ich weiß natürlich um Ihren Verlust. Ich freue mich Sie mal in Farbe zu sehen.« »Na also, und Sie sind?« »Dachs, Ansgar Dachs, was für eine Zeitverschwendung, nicht wahr?« Er nickte zu den Zeichnungen. Keine Ausarbeitung, dafür Massenproduktion, Kritzeleien aus den hinterletzten Hinterköpfen der Hinterhöfe. Leere Strichmännchen, nichts was einem die verschwendete Lebenszeit zurückgäbe, während man es anglotzte. »Ich war bei denen schon in Zürich«, sagte er abfällig, »da waren die Zustände ähnlich beschissen.« »Kindlich rein, doch nicht