Die freien Geisteskranken. Jasper Mendelsohn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jasper Mendelsohn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742776693
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zurück. Es war doch so unbedeutend. Das Sterben, es war unbedeutend gewesen, umsonst, man hatte es einzusehen; oder auch nicht. Man zeigte seine Aufregung, man regte sich auf, und überhaupt, da regte sich etwas. Die Ohnmacht war wie abgestellt, man diskutierte wieder. Kollwitz atmete auf. Das Haus der schrägen Vögel machte auch ihre Besucher schräg. Ja, wie Darwins Spatzen sangen sie ihre Leiern von ihren vielen eigenen, einzigen Inseln. Jeder Spatz für sich das Beste wissend aus seinem individuellen Erleben, mit bebendem Brustlatz tönend, frei und überzeugt und im Recht, wie ihm der jeweilige Schnabel nun mal gewachsen war. Waren wir nicht alle Dada? Auf vielfältige Weise – einfältig? So hüpft jeder von seinen jeweiligen Zufällen zum nächsten und nennt sich »Entwicklung«. Dada ist Entwicklung. Als der Propagandadada vor die Meute und die Meuternden trat und die Direktorenhand erhob, zogen viele Spatzen ihren Atem ein und ordneten ihre Federn, die schrägen Vögel streckten ihre Hälse herauf und verschluckten ihr Tschilpen mitten im Kehlsatz. Hinter ihm postierten sich der Dadasoph und der Balldada, der Monteurdada schraubte im Hintergrund das Bühnenbild um. Schräg wurde schräger. »Die Kunst ist tot, ihr Kunstgläubigen!«, posaunte der Propagandadada heilsbringend und arrogant mit dem jungen Selbstbewusstsein seiner Manie. »Es gibt für alles seine Zeit! Für die Hebamme die eine, für den Totengräber die andere. Für die Kunst ist es nun Zeit zu sterben. Es gab die Mittelalterzeit, die Barockzeit, die Biedermeierzeit; es gab die Steinzeit und die Eiszeit. Es gab die Zeit zu kämpfen und es gab die Zeit zu fressen.« »Was hat denn die Kunst damit zu tun?«, rief der aufgelöste Überzeugte. »Das entartet doch!« Der Propagandadada redete unbeirrt weiter: »Es gab die Antike, das Altertum, die Renaissance, den Rokoko, die Klassik, die Romantik, das Genie in seiner Welt und die Welt ohne Genie; und jetzt gibt es Dada. Alles ist Dada – Nachahmung ist zwecklos, Weiterführung sinnlos! Denn jetzt ist sie tot. Ihr Zeugen! Ihr Zeitzeugen, ihr saht wie sie das Herz der Kunst, den Stil, zum Stillstand brachten! Dada ist das Bekenntnis zur Stillosigkeit, denn jede Zeit hat ihren Stil. Dada ist das Bekenntnis zur Stillosigkeit, denn wenn Dada ist, ist Kunst nicht. Wenn Dada lebt, dann sage ich die Kunst ist tot! Und wo die Kunst tot ist, ist auch der Mensch tot! Tot, die Mona Lisa. Tot, das Selbstporträt! Tot, der monokeleinzwickende Mäzen und der teetassenhenkelhaltende Mondän. Tot, der Dürer. Tot, der Cranach der Ältere. Tot, der Cranach der Jüngere. Die Kunst ist tot! Wir heben die Kunst auf ein Podest – und tragen sie zu Grabe. Sie soll zum Himmel fahren, gleich, sofort, immediately, wenn möglich. Das ist Lüge, nur umgekehrt, Dadawahrheit; Überzeugung ist der erste Schritt, Erzeugung der zweite, ihr Zeugen der Sterblichkeit von Kunst! Seht das Bild des Spießers, des bürgerlichen Egoisten, wie die Welt um ihn einhergeht und eingeht, während er zu Tisch auf seine Mahlzeit wartet. Huren hausieren, Verbrecher und Bestecher kampieren. Kirchenhäuser – Dächer für die Unglückseligen und Türme für die Selbstmörder. Eine Lust! Und der Spießer, er würgt Messer und Gabel umso fester. Das Futter muss kommen, es wird doch einer in der Küche stehen und kochen? Ihr Verbrecher, gebt mir mein Futter! Wo ist mein Gift? Langes, unbeweisbares Gift ist gutes Gift. Ihr Zeugen, könnt ihr mir bezeugen, dass die Kunst tot ist? Höre ich nun Zustimmung und Abneigung? Beides? Ja?« Er hielt die Handflächen hinter seine Ohrmuscheln und forderte den Zuschauertross zum beklatschen auf. Die Empörten blickten sich verdächtigend an. Ein dürrer Stockmensch in Kollwitz‘ Nähe stand auf und rief: »Genau, mein Junge!« Zornige Schmährufe entglitten den Besuchern in den hinteren Reihen als der Teil um sie sich aufrichtete, sich umdrehte und jubelte. Die Hinteren begannen die Vorderen zu beschimpfen und die Vorderen taten ihnen Gleiches mit Gleichem gleich. »Es ist eine Schande! Eine Schande ist das!« »Wa sin se denn so blöde inne Birne, dass se dit nich vastehn, Mensch!« »Kommunisten!« »Flitzpiepen!« »Bolschewistische Zigeunerbrut!« »Jetz sperre se ma de Köppe uff, jah?« »Arschfotzen!« Dann warf einer seinen Hut vor sich auf den Boden und trampelte auf ihm herum. Mit dem Hut meinte er die anderen. Es ging so weiter. Eine reinigende Schlammschlacht hässlicher Wörter, ohne Kugeln, ohne Gas, ohne Tod. Alle töteten nur die schöne Kunst. War das Frieden? Kollwitz atmete auf, als hätte man ihr eine schwere Tasche abgenommen. Ja, das war er. Er war zurück. Die Waffen waren gelegt, das Wort war zurück. Der Krieg konnte von Neuem beginnen. »Ihr ungewaschenen Kindsköpfe, ja! Schön blöd! Wir werden euch noch Töne lehren, die ihr so noch nie vernommen habt!«, rief es weiter von den Hinterbänklern. »Ihr Dummköpfe, Dornkronen setzt ihr euch auf, ihr monarchentreuen Untertanen!«, rief nun der Balldada gegen das Scheinwerferlicht. Er war verkleidet, wie der Name schon sagt, als Ball. »Herrschaftshäuser und Denkmäler errichtet ihr euren Kriegstreibern. In die Höhe treibt ihr eure Höhergestellten, ihr Untertänigen, in die Höhlen steigt ihr für sie. Auf dass sie euch als Phallus dienen, je höher und fester sie in eure Ärsche stoßen.« Die Hinterbänkler trauten ihren Ohren nicht, was sie da von einem Ball gesagt bekamen. »Ihr Verräter! Wegen Bürschchen wie dir haben wir die Schlacht verloren! Weil du nicht für meinen Sohn gestorben bist, ist er jetzt tot! Dreckiger Vaterlandsverräter!« »Ihr Untertanen!«, fuhr der Ball fort, ohne auf jegliches einzugehen. »Ihr armen, armen Untertanen. Ihr Götzenbildner. Auf der Suche nach dem größten Phallus der euch führt und in euch hineinführt – dem Übergroßen, dem Größten, dem Mutterpenis, der Mutter aller Penisse.« »Das ist ja sagenhaft!« Das tobende Gegröle vernichtete die Hörbarkeit der letzten Worte des Balls. Der verstimmte Pianist stimmte einen Ragtime an. Kollwitz tat so als würde sie klatschen, ihr war heiter zumute, der fette General aber war mehr als das, er befand sich in seinem Element und lachte höhnisch, der Propagandadada lachte teuflisch, der Ball lachte überhaupt nicht. Letzterer war nur zufällig Dada, alles, was er sagte, war ihm bitterer ernst, darum war er ein Ball. »Ja wisst ihr denn nicht? Ja wisst ihr denn nicht?«, schallte es aus den Rängen »Was wissen wir nicht?«, schlug der Ball zurück. »Die Tantalusqualen unserer verdammten Söhne!« Der Überzeugte zeigte sich von seiner poetischen Seite, die man braucht um zu überzeugen. »Dort draußen in den Gräben, wo heute weiße Fetzen im Wind flattern. Durch und durch gepflügter Acker, besäht mit kalten Kugeln. Rostige Bombenschalen stehen aus den Böden hervor wie antike Tontöpfe. Knochen liegen da, als wären es Krieger von längst vergessener Zeit. Doch es sind unsere Kinder! Verstreut in der weiten Flur des Grauens! Und ihr macht euch lustig, ihr setzt euch rote Clownsnasen auf! Pietätlos bis ins Mark! Mir ist es ernst!« »Die Tantalusqualen unserer Söhne! Sie sagen es!«, rief Karl plötzlich zurück. Kollwitz erschreckte sich, so aufbrausend erlebte sie ihn bisweilen selten. »Unsere Kinder sind tot! Unsere Kinder sind an unserem Wahn vernichtet worden – wir, die Eltern, tragen die Schuld! Was meint der denn sonst mit der Kunst? Unsere Kunst! Unsere Kinder sind tot! Und sehen sie sich die übrigen Kinder hier an, die überlebten Kunstwerke!« Er zeigte auf die Bühne. »Das! Das sind die Überlebenden unserer Feuerwelt, die wir für sie erbauten. Das! Das sind unsere Überlebenden die sich von unseren Schlachtbänken befreiten. Wenn! Wenn jemand sagen kann was er will und wie er es will, dann unsere Kinder. Wir Alten sind zu nichts, rein gar nichts mehr zu gebrauchen!« »Ach was!« »Ach was? Das ist Ihre Antwort? Halten Sie endlich ihr vor Dummheit schäumendes Maul!« Kollwitz drückte ihren Mann in den Arm, er baute sich auf wie ein Bär, als wollte er gleich eine Prügelei anzetteln, und das als der vernünftigste Arzt der Stadt. Das wäre doch Dada, dachte sie. Die Hinterbänkler schienen unabsichtlich einen Chor zu bilden: »Trauer, Trauer, Trauer! Das ist keine Trauer, das ist ein Fest!« »Oh ja, ihr seid traurig«, fiel ihnen der Propagandadada mit ausgestreckten Armen in ihre Thesen, er saß nun auf den Schultern des fetten Generals und stimmte seine vorbereitete Rede an: »Oh ja, ihr seid viele. Und ihr seid alle so traurig. Und je mehr eure Herde auf der Trauerweide grast, desto kürzer macht ihr euch selbst. Je mehr ihr euren Hirten nachblökt, desto winziger wird eure Stimme – denn der Ruf nach einem starken Mann, der führt, ist kein Ruf, es ist ein Blöken. Und eure Herde wächst zu Heerschar, zu Volkskoloss und du...«, er zeigte auf einen beliebigen Hinterbänkler. »Der kleinste Zwerg der Welt. Ja, Zwerg bist du mit schwachem Nacken, auch so traurig, knickst nach hinten ab und siehst nach oben, dass dir da einer ist, der dir sagt wohin du hufen sollst, anstatt selbst nach vorn zu sehen. Ja, Zwerg bist du, der einen Diktator nötig hat!« Der Beliebige sah sich zu den anderen um. »Na warte!«, brüllte der wortgewandte Überzeugte zurück und nahm den Beliebigen in Schutz. »Dir werde ich Mores lehren, du Bengel, dass dir das Hirn schon noch vergeht. Wen nennst du hier Zwerg?« »…dafür keine Zeit«, hörte Kollwitz ihren Bekannten, Herrn Dachs, am Ende eines Halbsatzes, in einer Feuerpause murmeln. Dann verschwand er durch die Galerie. Er hatte offenkundig genug gesehen. Dabei fing der Propagandadada gerade erst an den Überzeugten