Das Blut der Auserwählten. Thomas Binder. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Binder
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844242447
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meinte, sich noch zu einem weiteren Satz mit aller Kraft durchringend, dass Kurt nur sehr langsame Fortschritte mache und dass selbst diese beinahe stagnierten.

       Es gab viele Gründe für Kurt, sein Leben zu hassen. Dies wirkte wie ein Katalysator für die kurzen, immer wieder auftretenden Wutanfälle, genauso wie die frustrierten Fragen nach dem Sinn zahlreicher Facetten seines Lebens. Es war ein sich selbst verstärkender Teufelskreis.

       Er war traurig, verletzt, allein und wütend.

       Er verstand nicht, wieso irgend einem Menschen, egal wem, so etwas widerfahren musste, warum es geschehen durfte; und vor allem, warum verdammt nochmal eigentlich gerade er das sein musste, der so ein Leben verdiente. Er suchte einen Grund für seine Schicksalsschläge, irgendeine Schuld, die er zu begleichen hatte. Oder jemanden, der daran schuld war. Natürlich fand er nichts. Noch nicht.

       Er hatte es satt, für alle den Sündenbock zu spielen. Er sollte ihnen allen endgültig einen Strich durch die Rechnung machen. Was für einen Sinn machte das Leben denn, wenn es nur aus Enttäuschungen bestand?

       Er hatte einen Plan.

       Einen Plan, der sich wohl für einen geistig gesunden, wohl erzogenen Menschen vollkommen irrational angehört hätte, doch für Kurt, mit seinem gepeinigten Verstand und seiner traumatisierten, erstickten, krampfhaft unterdrückten Vernunft klang das Ganze wirklich sinnvoll und angebracht.

       Er würde es ihnen allen zeigen...

      6

       Kurt saß in der Schule. Er hörte nicht zu. Er fantasierte, stellte sich einen Baseballschläger vor, mit dem er jedem, der irgendeine abfällige Bemerkung über ihn oder seine Familie gemacht hatte, den blanken Schädel vom Hals schlagen konnte, um ihre leblosen Körper danach aufgespießt verbrennen zu lassen. Vor den Augen aller, die noch übrig waren.

       Er stellte sich vor, wie er seine Lehrer mit einer übergroßen, geladenen Schrotflinte, wie eine Schafherde, zusammen trieb und alle dazu brachte, von einer meterhohen Klippe in die reißenden Fluten des wilden, unbarmherzigen Meeres zu springen, wo sie alle schön langsam ertrinken oder von einem Hai gefressen würden oder wie auch immer zum Teufel ins Gras beißen sollten.

       Er hätte Drehbuchautor für Horrorfilme werden können.

       Er dachte daran, all diesen eingerauchten Hippies und Blumenkindern mit ihrem Gequatsche von Frieden und Gleichheit ihre ach so teuren Kunstwerke und Bücher und Botschaften in ihre betäubten Gesichter zurück zu schleudern, sie zu zerstören, ein zu schlagen, sie auf zu fressen, durch zu kauen und wieder aus zu spucken, um zu sehen, was die tun würden, wenn man ihnen alle Freude am Leben gewaltsam aus dem Herzen reißt; ob diese Idioten dann noch immer von Frieden und Freude und ach so freier, bedingungsloser Liebe brabbelnd vor sich hin träumen würden.

       Sie alle sollten für ihre ihre Ignoranz, ihre Illusionen bezahlen. Für ihre Scheuklappen vor der gnadenlosen Realität und für ihre heuchlerischen Pseudobotschaften sollten sie büßen.

       All das ging ihm während einer Geschichtsstunde durch den Kopf, als er auf das Bild des Filmprojektors starrte, welches Aufnahmen von Hitler und Stalin zeigte. Das Licht des Projektors reflektierte von der blassen Haut ihrer durch und durch unmotivierten Lehrerin, die mit halluzinogenen Drogen bis oben hin abgefüllt war. Ihr Kopf lehnte leblos gegen die Wand am hinteren Ende des Klassenzimmers und ihre Augen waren geschlossen. Die Kinder hatten diesen Film schon etwa zwanzig Mal gesehen und waren mittlerweile völlig abgestumpft davon.

       Sie langweilten sich, immer wieder dieselben Bilder zu sehen, doch sie würden nie die wahren Hintergründe verstehen können, weil die meisten Erwachsenen zu feige oder zu faul waren, ihnen ihre persönliche Version der Wahrheit über diese Taten begreiflich zu machen.

       Kurt hing – während Hitler gerade eine seiner markanten Reden hielt - seinen eigenen Gedanken nach, ohne seine Umwelt zu registrieren und kritzelte in sein Heft irre, wahnsinnige Zeichnungen von zerquetschten Körpern und massakrierten Tieren.

       Er verstand all die positiven, predigenden Lebensverbesserer nicht, wie die auf solchen Schwachsinn kommen konnten. Das Leben war scheiße. Das Leben war undankbar und alles andere als gerecht. Zumindest sein Leben.

       Wofür sollte er eine Schule besuchen, wenn er doch vor dem Abschluss sowieso wieder rausfliegen würde? Wozu sollte er einen Job lernen, den er nur zwei Wochen später verlieren würde? Warum sollte er nicht sofort, jetzt und hier, mit allem Schluss machen?

       Allen, die es sichtlich genossen, ihn runter zu machen, die Tour vermasseln und ihnen die einzige Quelle zur Befriedigung ihrer eigenen Minderwertigkeitskomplexe weg nehmen ... so dass sie an ihrer eigenen Unsicherheit zugrunde gehen sollten.

       Er wollte nicht den Rest seines Hundelebens der Fußabtreter für alle anderen sein. Also beschloss er, diesmal endgültig einen Schlussstrich unter seine gequälte Existenz zu ziehen.

      7

       Es war früher Nachmittag und in der Schule herrschte die von Schülern wie Lehrern sehnsüchtig erwartete Mittagspause. Kurt hatte genug davon, vor lauter Angst den Schwanz ein zu ziehen und – so wie jeden Tag - in irgendeiner Ecke des Schulhofs allein in sich hinein zu heulen. Oder in sich hinein zu grollen und seinen Zorn in die hintersten Winkel seines Bewusstseins zu drängen, zu verbannen. Was ihm meistens sowieso nicht gelang.

       Also schlich er sich in einem von der Pausenaufsicht unbeobachteten Moment aus dem Essensraum durch endlos erscheinende Gänge des weiß gestrichenen Schulgebäudes, bis hinauf auf das Dach. Immer auf der Hut, sich vor eventuellen Entdeckern zu verbergen und sich notfalls eine Ausrede für sein Herumwandern einfallen zu lassen.

       Das Weiß des Gebäudes sollte wohl Reinheit und Unschuld ausdrücken. Er hasste diese stechende Farbe. Und er hasste diese Schule.

       Kurt drückte die Tür des schmalen, dreckigen Stiegenhauses auf. Der Wind blies ihm sofort stark ins Gesicht und zerzauste sein volles, aber fettiges Haar. Die grelle Farbe des Hauses und das reflektierende Licht, das davon ausging, schmerzte in seinen Augen. Eine der vielen subtilen Arten von unterdrückender Manipulation der Jugend: gefügig machen durch regelmäßige Sinnesüberreizung.

      8

       Kurt Powell trat auf das flache, ebene Dach hinaus. Langsam gewöhnten sich seine Augen an das Licht und die Farbe. Er konnte von hier aus die halbe Stadt überblicken, mitsamt dem Himmel, der durch den Smog farbenfroh strahlte (aber nicht mehr wirklich blau wirkte, eher grünbräunlich). Er dachte an seine Mutter, seinen Bruder, den er so lange nicht mehr gesehen hatte und an seinen Dad.

       Zaghaft schlich er Schritt für Schritt bis zum Rand der Fläche und wagte einen Blick nach unten.

       Ihm wurde schwindlig, als er vom platten Dach hinunter auf den mit Sträuchern bepflanzten Boden sah und unbeholfen einen Schritt zurück stolperte; dann nochmals langsam und verkrampft, zum Rand ging und ein letztes Mal tief durchatmete.

      9

       Er nahm seinen ganzen Mut zusammen, warf einen letzten Blick nach unten und stellte sich ganz knapp an den Rand des Daches. Seine Schuhe traten schon zur Hälfte in die Luft, nur seine Ferse berührte noch den festen Boden.

       Je länger er dort stand und den Wind in seinem Gesicht spürte, desto leichter fiel es ihm, seine Angst zu überwinden, ohne dass er sich gleich mitten in den Innenhof der Schule übergeben würde, vielleicht noch auf einen ungehaltenen, zornigen Lehrer.

       (Ja, das ist es. Endlich hab ich die Lösung für alles gefunden! Nur noch ein Schritt vorwärts...)

       Er besiegelte sein Vorhaben mit sich selbst und überlegte, ob er seiner Mom nicht einen Abschiedsbrief hätte schreiben sollen, doch er beschloss, dass es nicht die Mühe wert sein würde.

       (Ich möchte nicht, dass sie noch mehr weinen muss. Sie hat viel zu oft geweint. Sie hat soviel Kummer wegen mir gehabt. Das hat sie nicht verdient.)

       Einmal atmete er noch ein, so tief er konnte, legte sein ganzes Gewicht nach vorne und schloss seine Augen.