Auch meine zweite Familie zerbrach und ich stand allein zwischen ihren Fronten. Meine Mutter und der, den ich Vater nannte, sie rissen an mir mit ihren Worten, ertränkten mich in ihrer Enttäuschung, bis nichts mehr von mir übrig war, bis ich beinahe verschwand, hinein kroch in meine Zauberkugel, winzig klein, kaum mehr zu sehen, während ich zuhörte und schwieg und meine Tränen vor ihnen verbarg. Ich verlor mich und die Kraft, die mich trug, im leeren Raum zwischen ihren Herzen. Ich war nicht mehr in mir selbst zuhause, denn ich lebte in einer Welt aus Glas, die mich schützte, bis sie in Scherben zersprang. Sie gruben sich in meine Gedanken, zerschnitten mein Leben, verletzten mein Herz. Die Narben blieben, nicht blutend, nicht sichtbar. Doch eine Macht, die ich nicht mehr kannte, wohnte tief unter meiner Traurigkeit.
Reise
Es war ein langer und steiniger Weg. Und er begann vor langer Zeit. Als die Fremdheit in meiner Seele begann. Als ich mich selbst verlassen hatte. Ich lernte zu leben nach den Regeln der Welt, doch meine Wirklichkeit war fern. Schon damals war ich rätselhaft, im Inneren wie eine Muschel verschlossen. So wenig sie mich sehen konnten, so sehr studierte ich die Menschen, blieb immer Betrachter, las ihre Gedanken. Wie Glasmurmeln waren sie Spiegel und Tor zur Welt des Unsichtbaren. Wie ein Magier lebte ich schwebend im Raum, bewegungslos im Auge des Sturms, während die Erde sich um mich drehte. Die Zeit in mir jedoch stand still.
Als ich erwachte aus meinem Traum, war alles in endloser Ferne. Ich stand allein am Rande des Abgrunds mit ausgebreiteten Armen. Ich blickte hinab in die endlose Tiefe, aus der es keine Rückkehr gibt, so wie der dritte Engel mir sagte. Ich sah ihm ein weiteres Mal in die Augen, dem Tod, meinem mächtigen Lehrer. Zwei Jahre, bevor mein Zwilling fort ging, hinaus aus dem Leben, fort von mir. Er ließ mich zurück, doch ich bin noch hier, ruhelos und erfüllt von Geschichten. Ich weiß, dass ich die große Kraft, die ihm entglitt, die ihn zerstörte, nun für uns beide trage. Ich bin geblieben, um zu erzählen.
Auch in den dunklen und traurigen Jahren, auf der langen Reise zu mir selbst, fand ich Begleiter und suchte die Hoffnung. Melpomene, die Muse der Dichtung, schenkte mir ihre Gabe, durch die Kraft der Kunst meine Schmerzen zu heilen. Ich malte Bilder von finsteren Türmen und Mauern, die mich gefangen hielten, die ich doch eines Tages sprengte. Die Verlorenheit, in der ich aufwuchs, sie hat mein Herz fest umklammert. Meine Stimme fand den Weg, hinaus aus dem Kerker der Einsamkeit, die mich verfolgte wie all meine Ahnen, die wir für immer in uns tragen. Was ich nicht mit Worten sagte, das konnte ich singend erzählen. Ich tanzte, atemlos, um zu überleben, tanzte den Schmerz aus meiner Seele. Wenn ich im Inneren der Menschen las, fühlte ich Musik, hörte Melodien. Ich schritt durch die Pforten der Wahrnehmung und sah die Farben ihrer Gedanken. Ich hörte das Rauschen der Worte, die durch sie rannen, lauter und leiser, immerzu trommelnd im Takt der Vernunft und tanzend im Rhythmus des Herzens. Die Geschichten der Menschen flossen zu mir, in mich hinein, wurden Teil von mir. Jene Welten, die ich in ihnen fand, gaben mir Mut, nach mir selbst zu suchen.
Auf Reisen war ich glücklich und frei, ich ließ mich erfüllen vom Weltenklang. Ich meditierte in Tempeln und Klöstern, durchstreifte Städte, flog über den Ozean. Doch selbst der Dschungel, das karibische Meer, die Quellen der Berge waren nicht genug, um mir Frieden zu bringen, mich ruhen zu lassen. Ich hörte das Flüstern der Bäume und die Stimmen der Tiere, das Rauschen der Wellen und fand doch keine Antwort. Ich folgte dem Mann, dem mein Herz gehörte dorthin, wo er zuhause war. Ich ging mit ihm, auf der Suche nach Heimat, doch als wir zurückkehrten, war er mir fremd, war ich mir selbst noch ferner geworden. So erwachte die Nomadin in mir, wie unzählige Male zuvor. Sie zog mich fort, weg von ihm, fort von dem Leben, das wir hatten. Wieder einmal suchte ich die Liebe, die ich doch nie erkannte, wenn sie vor mir stand. Etwas in mir trieb mich weiter, auf der Suche nach jemandem und etwas. Stets wollte ich alles oder nichts, die große Macht der Gefühle – doch ich fand niemals Frieden, in keinem Land, bei keinem Mann. Schließlich habe ich alles verloren, ich bin tief gefallen, doch ich stand wieder auf. Ich hielt mein Gesicht der Sonne entgegen und suchte weiter mit brennendem Durst das Leben.
Ich habe die Wüste des Zweifels durchquert und fand die Oase der Erkenntnis. Ich war Zauberin auf dem Jahrmarkt des Schicksals und ließ die Geschichten vor mir schweben. Ich malte ein buntes Bild aus Gefühlen, mit dem ich verschmolz, in dem ich verschwand. Die Flut der Geschichten wurde zu mächtig, sie ertränkte meinen Verstand. So baute ich einen Damm aus Worten, um zu erzählen was in mir war. Doch alles floss zugleich heraus, bis ich leer war und all die Begegnungen wie ein Meer ineinander verschwammen. Dann schloss ich die Augen, saß ganz still und bat den Regen, mir Klarheit zu bringen. Träumend durchwanderte ich die Flüsse, sank hinab auf den Wassergrund. Ich lauschte dem dunklen Singen der Steine, während Jahrtausende mich durchdrangen und mit dem Strom der Geschichten vereinten. Ich ließ das Raunen des Wassers erzählen, es sprach für mich. Ich hörte zu.
Neubeginn
Die Worte tanzten mit mir. Sie erweckten all die Menschen und Orte, die mein Herz, meine Augen jemals sahen. Ich hatte die Kraft des Erzählens aus der Weissagung der Ursitory empfangen, ich verstand die Sprache der Seelen. Doch die Geschichten derer, die mich berührten, wurden mächtig, wurden stärker als ich, sie wurden zu meinem Selbst. Ich habe mich in ihnen verloren und dennoch meine Bestimmung gefunden. Ich bin die unendliche Geschichte, ein Buch, dessen Seiten nicht enden. So kamen sie aus der Dunkelheit, die Verlorenen und die Verwundeten, aber auch jene, die mir so ähnlich sind. Wir brauchen einander und haben doch Angst vor der hellen, der dunklen Tiefe, der niemals endenden Rastlosigkeit, die wir im anderen erkennen, die Teil unseres eigenen Wesens ist. So blieb ich einsam, trotz aller Menschen, trotz der Freunde, die mich umgaben. Die Abgründe, denen ich entkam, sie sind immer noch da, in meinem Inneren: Lolita, Objekt und Konkubine – die junge Frau, die für den Preis, den sie boten, beinahe ihre Seele verkaufte. Die Schatten, die mich jagten, sie griffen nach mir in der Dunkelheit, bis ich ihnen willig folgte, ihrer süßen Verlockung des Nichts – kein Schmerz, kein Gefühl, kein Körper. Es kam näher, das Licht, ich konnte es sehen. Doch das Jenseits war nicht bereit für mich. Ich kehrte zurück zur Erde, ins Leben.
Erst als ich dem Tod begegnet bin, lernte ich, wieder lebendig zu sein. Als ich starb und wurde, wie Phoenix aus der Asche stieg, fühlte ich zum ersten Mal, dass ich das Recht habe, hier zu sein. Ich habe die Sicherheit gewählt, um Frieden zu finden, um Mutter zu sein. Aber noch immer suche ich ihn, den Seelengefährten, der mich erkennt. Eines Tages werde ich ihn finden, den, der meinen Weg mit mir teilt, der mich ohne Worte versteht, der sich nicht abwendet von mir, wenn er hinter all der Stärke meine Wunden und Narben sieht. Doch die meisten sehen mich nicht. Noch immer bin ich undurchdringlich. Noch immer blickt niemand in mein Herz. Einsam bin ich und verborgen, für immer reisend im Niemandsland. Die Nähe der Menschen suche ich dennoch, ohne sie kann ich nicht sein. Selbst wenn ich mich nach Stille sehne, kann ich sie hören, überall, ihr stummer Schmerz, ihre Sehnsucht nach Freiheit, ihr Schicksal, von dem sie lautlos sprechen, mit ihren Blicken, ihrem Atem, der Art ihrer Schritte auf dem Asphalt. Ich werde ihre Geschichten erzählen. Die Offenbarung, deren Teil ich bin. Meine Geschichte. Eines Tages. Heute. Der Tag ist gekommen.
Ich trage die Fackel meiner Ahnen und suche das Feuer, ich suche die Antwort, stelle all meine Fragen nach dem Leben, dem Sinn. Ich suche die vergessene Wahrheit, die Flamme, die uns am Leben erhält. Ich suche das Licht, um das Gute zu finden hinter den eisernen Toren der Angst. Das Licht ist es, wofür wir leben, auch wenn wir dafür durch die Dunkelheit gehen. Wir Feuerkinder sind voll Sehnsucht nach Liebe, doch unsere Reise zu ihr ist lang. So wandern wir weiter, niemals müde, manchmal verzweifelt, doch immer aufrecht. Wir gehen unseren Weg bis zum Ende, bis wir unsere Glut ins Feuer tragen. Das Feuer, es ruft uns – es bringt uns heim. Dahin, wo alles begonnen hat. Dorthin, wo alles endet.
Teil 1 - Erwachen
EOS (Göttin der Morgenröte) - Aus der Dunkelheit ins Licht
Die Göttin des Morgens war müde geworden. Zu lange dauerte ihr Leuchten, ihr Streben gegen das Dunkel der Nacht. Die Welt erstrahlte