Nach einer Weile des stillen Blickkontaktes stellte Rex ruhig fest: "Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass jemand gestorben ist. Aber dem ist nicht so, habe ich recht …?", der alte Mann hielt kurz inne und musterte sein Gegenüber aufmerksam, "Sage mir, mein Sohn, wo ist Lewyn?"
Sofort huschte Sacris' Blick wieder zur Wand. Er merkte, wie sich sein Körper bei der Erwähnung jenes Namens von Neuem verkrampfte und ein schmerzhafter Stich durch seine Brust ging. Der König seufzte erneut – doch dieses Mal deutlich schwerfälliger – und stützte seinen Kopf auf einer Hand ab, ohne dabei den besorgten Blick von seinem Sohn abzuwenden …
Wie lebhaft hatte er die beiden Rabauken noch in Erinnerung, als sie ihm damals nicht einmal zur Hüfte gereicht hatten …! Ständig hatten sie etwas Dummes angestellt und es ihm stets verschwiegen, bis dann plötzlich der Bauer oder der Fleischer – der seine 'frechen Unruhestifter' bis in den Palast verfolgt hatte! – an den Toren gestanden und lautstark zeternd Wiedergutmachung gefordert hatte. Oh, wie oft hatte er sich schon für seinen ungezogenen Sohn entschuldigen und schämen müssen! Sacris hatte stets seinen eigenen Dickschädel durchgesetzt, aber dieser Lewyn hatte es tatsächlich geschafft, ihn in seiner Sturheit sogar noch zu übertreffen …!
König Faryen seufzte und entsann sich daran, wie diese kleinen Knaben dann Jahr um Jahr immer mehr zu jungen Männern herangewachsen waren: Lewyn hatte sich trotz aller Schicksalsschläge seine Lebendigkeit und seinen Frohsinn bewahrt; doch Sacris, sein eigener Sohn, war mit dem Tod der Mutter schlagartig ernst und pflichtbewusst geworden – als wäre er zu jenem Zeitpunkt von der Realität eingeholt worden …
Nur ab und zu, wenn Rex die beiden hatte zufällig alleine beobachten können, war ihm noch etwas von jener unbefangenen Natur begegnet, welche sein Sohn einst besessen hatte. Ja, es machte für ihn sogar den Anschein, als wäre einzig Lewyn in der Lage, jene Schale zu durchdringen, die sich Sacris seit jenem unglückseligen Tag geschaffen hatte …
Und nun …? Was war nur geschehen? Was war seinem einzigen, geliebten Sohn widerfahren, dass er so offensichtlich litt ...? Sein Vater wartete auf irgendeine Regung, irgendeinen Hinweis, doch jener schwieg und blieb von ihm abgewandt.
Nach schier endlosen Augenblicken, ohne dass irgendeiner der beiden Männer etwas von sich gegeben hatte, legte der König seinem Sohn eine warme Hand auf die Schulter und drückte diese herzlich. "Ich lasse dir Essen bringen, damit du mir zumindest nicht verhungerst", sprach Rex besorgt, "Iss es bitte wenigstens auf, sonst weiß ich auch nicht mehr, was ich mit dir anstellen soll …" Dann erhob sich der alte Mann, um mit einem weiteren Seufzer aus dem Zimmer hinaus zu schreiten. Die Tür fiel ein weiteres Mal in ihr Schloss – und der Prinz blieb allein zurück.
Diese Stille … Es war auf einmal so unheimlich ruhig, dass Sacris sogar das Rauschen in seinen Ohren hören konnte. Sein Puls war erhöht, ohne dass er sich den Grund dafür erklären konnte – so hatte er sich schließlich in keinster Weise bewegt.
Schweigend lauschte der junge Mann seinem eigenen Herzschlag … Es war auf eine seltsame Art mehr als beruhigend, ihm zuzuhören. Mit der Zeit wurde auch der Puls ruhiger, … noch ruhiger, … bis er ganz langsam geworden war und in jenem beständigen, langsamen Rhythmus fortwährte … Seine Augen fielen ihm kaum merklich zu … Sein Atem wurde tief und regelmäßig … Der ganze Rest seines Körpers entspannte sich … Und endlich fand sein Geist Ruhe … Ruhe im Schlaf.
Die Luft war von Hufgetrappel und Blätterrascheln erfüllt, die feuchte Erde mit dem Laub unter ihren Hufen aufgewühlt; und als die beiden Männer ihre Pferde zum Galopp anspornend durch den dichten Wald preschten, war nichts mehr von Bedeutung außer der Freiheit selbst.
Sacris wich einigen zu tief hängenden Ästen aus, sprang über einen von Farn umwucherten Baumstamm und holte Lewyn ein. Jener lachte, legte sich flacher auf seinen Schimmel und trieb diesen noch weiter an, sodass er dem dunkelhaarigen Mann wieder davonritt. "Na, warte …!", rief der Prinz daraufhin und blieb seinem Freund auf den Fersen. Lewyn lachte erneut, musste dann aber um einen halb umgestürzten Baum herumreiten und verlor dadurch seinen Vorsprung.
Nunmehr Kopf an Kopf ritten die Männer durch das langsam wilder werdende Dickicht, doch sie und ihre Pferde kannten den Weg. Sie waren mit dem Wald und seinem Unterholz vertraut, wussten, wo es weniger passierbar war und an welchen Stellen sie am besten durchkamen.
Plötzlich brachen sie durch die Baumreihen zu einem flachen Fluss durch, dessen Lauf sie umgehend folgten. Als die Pferde durch das Gewässer hindurchritten, spritzte das kalte Wasser bis zu ihren Beinen hoch – allerdings ließen sich die Männer dadurch herzlich wenig stören. Der herrlich frische Wind wehte ihnen entgegen und weckte ihre Lebensgeister. Sacris sah neben sich und freute sich sehr über das glückliche Gesicht seines Freundes. "Gefällt es dir?", rief er lächelnd zu ihm hinüber. "Merkt man das denn nicht …!?", erwiderte Lewyn strahlend und spornte seinen Schimmel noch ein wenig mehr an.
Das Flussbett wurde felsiger und steiler – so entschieden sich die Männer für eine Uferseite und folgten dem Fluss hangabwärts, während sich ihnen durch die Baumschneise des Wassers ein atemberaubender Ausblick in die Ferne bot: hohe, kaltgraue Berggipfel mit grünen, ausgedehnten Waldhängen, so weit das Auge reichte!, und ein weiter, dunkelblauer Himmel bis über den Horizont hinaus. Ein einsamer Adler flog hoch über ihnen hinweg und erhob sich kreischend noch höher in die Lüfte. Die helle, ferne Sonne sandte ihre dünnen, und doch warmen Strahlen zu allen Seiten hinaus und verjagte jeden noch so kleinen Wolkenhauch, sodass die Himmelsgewölbe durchweg ungetrübt und klar blieben.
Der Fluss mündete in einen tiefen, ruhigen See, der sich in die Breite erstreckte und den dunklen Wald zu den Uferseiten hin sanft abfallenden Wiesenhängen weichen ließ. Das nun entstehende Panorama offenbarte einen sich scharf abzeichnenden, kahlen und hohen Gipfelkamm zum Osten hin und weiche, waldige Hügelberge zum fernen Ozean der Träume im Westen hin. Vor ihnen in den weiten Süden hinein vermengten sich beide Elemente wiederum zu einer ganz und gar umwerfenden Komposition, die das Auge und Herz erfreute.
Einige Kunags – harmloses Wild – wurden durch die herannahenden Pferde von den Ufern verscheucht und entflohen hüpfend in die hohen Gräser der Auen. "Sieh dir das an, Sacris …! Ist das nicht herrlich?", lachte der Blonde und breitete seine Arme in den Wind aus, während sie im seichten Wasser am See entlangritten.
Sacris schmunzelte unwillkürlich. Es würde ihn nicht wirklich wundern, wenn sein Freund jenem Adler gleich selbst jeden Moment in die Lüfte emporschweben würde. Er genoss es, Lewyn so unbeschwert zu sehen. Es beflügelte auch ihn, seine eigenen Fesseln des Alltages fortzuwerfen und alle Pflichten für den Augenblick zu vergessen, um sich einfach dem Gefühl der Freiheit hinzugeben.
Auf der glatten Oberfläche des dunklen Sees spiegelte sich so all die Schönheit wider, die jener Ort mit sich brachte. Seine südlichen Ufer bildeten eine geschlossene und nahezu kreisförmige Felsensichel, welche von Lianengewächsen, dichten Farnen und hohen Schilfen umwuchert wurde. Von jener Sichel aus stürzten die Wasser des Sees in hohen Fällen hinab und traten durch eine niedrige Steinhöhle hindurch wieder als strömender Fluss in die Welt hinaus.
Die Männer wussten ganz genau, wohin sie wollten; und so ritten sie zielstrebig die Wiesenhänge hinunter, bis sie an die Stelle kamen, bei welcher der Fluss wieder unter der Felsenwand hervortrat. Dort stiegen sie von ihren Pferden herab, nahmen ihnen Sattel samt Gepäck ab, legten diese zur Seite ins Gras – und ließen Concurius und Lydia frei auf den üppigen Hängen weiden.
Die zwei Freunde wiederum entkleideten sich bis auf einen Schurz und sprangen rasch ins kühle, erfrischende Wasser des Flusses. Während sich Lewyn kurz ob der Kälte schüttelte, schwamm Sacris bereits gegen die Strömung zur Felsenöffnung an. "Beeil dich, Lewyn!", rief der dunkelhaarige Mann grinsend hinter sich, ohne dabei mit dem Schwimmen aufzuhören, "Sonst wirst du am Ende doch noch Letzter sein …!"
Als Sacris an der Öffnung angekommen war, die weniger als eine Handbreite über dem sprudelndem Wasser verlief, holte er tief Luft und tauchte ins Höhleninnere hinein. Mit kraftvollen Arm- und Beinbewegungen kam er gegen die besonders starke Strömung an jener Verengung zwischen