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Die Aufregung war in den Räumen fast körperlich spürbar. Die Bediensteten verlegten und sondierten, wischten und spülten, sausten und koordinierten.
Die Stäbe überprüften ein letztes Mal die Planung und den Ablauf des Festes. Dieses Haus war schon immer ein besonderes Haus. Es hatte schon viele Feste gesehen, viele Feiern und viele berühmte Persönlichkeiten. Gute und Schlechte.
Heute endlich war es soweit. Heute war der 31.12.2099. Heute wechselte nicht nur das Jahr oder Jahrzehnt. Heute wechselte das Jahrhundert!
Heute hatte der Präsident der USA – Nigel Manston – ins Weiße Haus eingeladen.
Auch das wäre noch nicht die Sensation gewesen, hätten nicht Gäste zugesagt, die noch nie vorher in dieser Konstellation eingeladen wurden.
Alle hatten sich im Laufe von Jahren schon einmal getroffen. Aber noch nie waren alle gemeinsam zur gleichen Zeit am gleichen Ort und noch dazu im gleichen Raum gewesen.
Die Reporter, Holoberichterstatter und Net-Avatare versuchten schon seit Tagen mit allen möglichen und unmöglichen Tricks die besten Plätze zu ergattern, die spektakulärsten Interviews zu führen und die abenteuerlichsten Siedestorys zu erzählen.
Heute also würden Wu En Mai, der Präsident der Aseatisch-Afrikanischen-Union und Joao Barbarez, der Präsident der Europäischen Union zu Nigel Manston, dem Präsidenten der USA ins Weiße Haus kommen. Die politische Spitze der Erde würde dabei auf die Generaldirektoren der drei mächtigsten Konzerne der Erde treffen, denn auch Akira Samakito, Robert Seidner, und Steve Jefferson würden an dem Fest teilnehmen.
Akira Samakito war der Vorstandsvorsitzende von HONDA, dem größten Unternehmenskomplex der AAU.
Robert Seidner war sein Pendant bei EE. Die Abkürzung stand für European Energy. Der Konzern war jedoch – genau wie die anderen Großkonzerne – inzwischen in allen erdenklichen Geschäftssparten tätig.
Steve Jefferson war der oberste Repräsentant von NANO, dem alles beherrschenden Konzern der USA.
Diese fünf Herren hatten also beschlossen, der Einladung Folge zu leisten. Zum ersten Mal in der Geschichte würden damit die drei politischen und die drei wirtschaftlichen Führer der Erde in einem Raum den Jahreswechsel feiern.
Der Secret Service überprüfte ein weiteres Mal die Sicherheitsmaßnahmen. Natürlich durfte an keinem Tag Unvorhergesehenes passieren. Doch heute war der besonderste aller besonderen Tage, und die Überprüfung der Sicherheit wurde bis zum Erbrechen wiederholt.
Die Net-Anschlüsse, die Alarmsensoren, alle anderen technischen Einrichtungen und die für die Sicherheit zuständigen Personen gaben ein weiteres Mal grünes Licht.
Es war 20:00 Uhr Ortszeit in Washington DC. In einer halben Stunde sollten die Gäste mit ihren Delegationen in fünf Minuten Abstand und in alphabetischer Reihenfolge eintreffen. Das Protokoll hatte alles minutiös geplant und geregelt. Nichts war dem Zufall überlassen.
Joao Barbarez war um genau 20:30 Uhr der Erste. Sein Gleiter kam – umringt von vier Begleitgleitern, die um sechs Meter nach oben und diagonal versetzt flogen – in zehn Metern Höhe völlig erschütterungsfrei und geräuschlos zum Stillstand. Dahinter flogen die Gleiter seiner Delegation in genau fünf Metern Abstand voneinander in einer exakten Linie hinter ihm her und wurden ebenfalls, wie von einer unsichtbaren Hand in der Luft gebremst und angehalten. Die Autopiloten und Netüberwacher waren imstande, solche Manöver viel exakter durchzuführen, als das einem Piloten von Hand aus möglich gewesen wäre.
Der Gleiter des Präsidenten senkte sich zur Erde. Sobald seine Räder die Erde berührten, glitten auch schon die Flügeltüren nach oben. Joao Barbarez entstieg mit federnden Schritten der Nobelkarosse und wandte sich zum Treppenaufgang, wo ihn Nigel Manston erwartete.
Barbarez war fünfundneunzig Jahre alt und hatte im Jahr 2085 seine Anti-Aging-Behandlung hinter sich gebracht. Wenn man ihn aus nächster Nähe sah, so konnte man in seinen Augen die Weisheit des Alters erahnen. Aus einiger Entfernung wirkten seine Körperspannung und der aufrechte Gang, als sei er weniger als Vierzig. Und das, obwohl die Behandlung normalerweise nur etwa fünfunddreißig Jahre Zellalterung aufholen konnte.
Nachdem die Fahrzeuge der Begleitdelegation ebenfalls ihre menschliche Fracht entladen hatten, glitt der schnittige Gleiter von Steve Jefferson heran und die Prozedur begann sich zu wiederholen.
Es folgten Akira Samakito und Robert Seidner. Wu En Mai war dann der letzte.
Um 21:00 Uhr waren alle Gäste und deren Begleitung in den Empfangsräumen des Weißen Hauses eingetroffen, hatten Interviews gegeben, mit ihrer ABC-Aufrüstung gleichzeitig Netkommentare abgegeben, die nervösen Sicherheitsleute beruhigt und sich elektronisch umgesehen. Der Secret Service amüsierte sich über diese Art der Neugier. Sie hatte zwar keinen Erfolg, aber noch verwunderter wäre man gewesen, wenn die Besucher nicht versucht hätten, mit Hilfe der komplexen ABC-Elektronik in ihren Gehirnen das eine oder andere auszuforschen.
Nigel Manston hielt eine kurze Rede, betonte seine Freude, dass es gelungen sei, die mächtigsten Männer der Erde an einen Tisch zu bringen und die fünf anderen Herren taten es ihm gleich. Die Reden wurden während der Ansprachen der jeweils anderen von den Net-Avataren entworfen und in die virtuelle Sicht des Redners projiziert, so dass man auf die Worte der vorhergehenden Sprecher unmittelbar eingehen konnte, nichts vorbereiten musste und trotzdem aktuell auftrat.
Dann konnte man endlich in den dafür vorgesehenen Speisesaal wechseln, wo das Publikum keinen Zutritt hatte.
Nigel Manston machte den Anfang und mit würdevollen Schritten folgten ihm die Gäste zur Tafel. Der Präsident der USA war mit achtundfünfzig Jahren der mit Abstand jüngste unter seinen Gästen, wirkte aber, als sei er der Älteste. Das hatte vor allem mit seiner Einstellung zur Anti-Aging-Behandlung zu tun, die zu horrenden, und nur sehr langsam fallenden Preisen von GlobalMed – einer Tochter von NANO und HONDA – angeboten wurde. Nigel Manston war erzkatholisch erzogen worden und lebte diese Erziehung auch. So wie er mit tiefer Überzeugung gegen die Abtreibung eingestellt war, so war er es auch gegen die Anti-Aging-Behandlung. GlobalMed kümmerte das natürlich überhaupt nicht und jeder, der sich die 3-monatige Behandlung leisten konnte, wurde als Kunde akzeptiert. Die anderen Gäste hatten sich - mit Ausnahme von Akira Samakito - schon vor Jahren dieser Behandlung unterzogen, die den Körper und Geist in rund zweieinhalb Monaten um etwa dreißig Jahre verjüngte. Nach weiteren 2 Wochen der Rehabilitierung und des Wiederaufbaues der körperlichen Fitness wurden die Kandidaten dann wieder in die neue Freiheit entlassen.
Akira Samakito war erst Fünfundvierzig, hatte aber schon daran gedacht, sich mit seinem fünfundfünfzigsten Geburtstag ebenfalls der Anti-Aging-Behandlung zu unterziehen.
Nigel Manston gab seinem ABC den Befehl, die Reden der anderen Männer zu analysieren und wurde nach wenigen Sekunden belehrt, dass die Reden von Net-Avataren geschrieben und verpflanzt worden waren, so dass sich weitere Analysen mangels Emotionen erübrigten. Er war sicher, dass die anderen ebenfalls ABC-Zugänge zu Gehirn und Net hatten. Gegen ABC hatte Nigel Manston nichts einzuwenden. Er war der Überzeugung, dass sein Gehirn schließlich immer noch das tat, was er wollte und mit der Einpflanzung des Chips sah er seine ethischen Regeln nicht verletzt.
Sein Chip informierte ihn, dass Steve Jefferson soeben eine Art Chat-Room mit Hochsicherheitsabschirmung im Net errichtet hatte, dessen Zugang nur mit der Hirnwellenfrequenz der anderen Fünf möglich war.
Nigel Manston machte vorsichtig einen Test:
„Ich kann mich also direkt in den Chat-Room denken?“
„Sie können sich in diesem verhalten, als würden sie gemeinsam mit den Fünf anderen in einem Raumschiff eintausend Lichtjahre von der Erde entfernt sein.“ Niemand kann sie hören oder sehen. Niemand kann überraschend eindringen. Niemand kann Daten herein- oder hinaustransferieren. Dieser virtuelle Hochsicherheits-Chatroom wurde genau für solche Gelegenheiten