Meine Mutter würde so bald nicht sterben, hoffte ich natürlich, denn ich bin bei ihr immer geborgen gewesen und fühlte mich hier auf einmal einsam. Ich legte das Kopfkissen und das Federbett zurecht, machte es mir bequem und zündete eine Zigarette an. Sie schmeckte wieder. Nach der kalten Dusche war der Kater verflogen. Ich müsste das Rauchen aufgeben, hat Siegrid Dörflinger immer gesagt. Hatte ich meine kleine Stadt aus Neugierde auf die Fremde verlassen oder weil ich Siegrid nicht mehr begegnen wollte? Ach, du Feigling! Wir sind eineinhalb Jahre miteinander gegangen. An einem warmen Nachmittag auf einer Wiese an der Brigach hatte sie mich gefragt, ob ich es schon mal richtig gemacht hätte. Hatte ich nicht. Seit dem Nachmittag war sie meine große Liebe gewesen. Ich hatte danach alles an ihr geliebt, wie gewählt sie sprach, wie ungelenk sie tanzte, wie sie sich kleidete, hochgeschlossene Bluse, Strickjäckchen und ein langer Rock, alles in bester Qualität, Seide, Angorawolle, englischen Tweed, mal ein Kostüm, mal ein feines Baumwollkleid. Auf der Wiese trug sie das alles nicht und auch später nicht, wenn wir im Grünen Baum in Sigmaringen übernachteten. Sie war ein anständiges, zuverlässiges Mädchen. Sogar meine Mutter mochte sie, wenn auch mit ziemlicher Distanz. Sie wäre eine gute Partie. Sie sei in meinen sensiblen Mund verliebt, hatte Siegrid mir immer ins Ohr geflüstert, in meine treuen, blauen Augen und in meine malefizblonden Locken, liebte aber sonst nicht alles an mir. Dass ich Trompete im Stadtorchester spielte, hätte ihr nichts ausgemacht. Aber ich spielte auch in einem Tuttlinger Keller mit dem Vibraphonisten Bernd Gerber und in Bad Dürrheim mit den vier Reinhardt Brüdern, in Siegrids Augen schmuddelige Zigeuner. So wie die aussahen, hätte man sie im noblen Hotel Arkadien nicht auftreten lassen dürfen, nur in Schnaps und Bier trinkenden Gesellschaften heruntergekommener Kaschemmen. Die vier Brüder spielten alle virtuos Piano, Gitarre, Bass und Schlagzeug, und sie wechselten sich während einer Vorstelung, oft mitten eines Stückes, an ihren Instrumenten ab. Ihr Onkel Django war ein Weltstar auf der Gitarre. Und ihr Vater hatte dank schmachtendem Timbre mit seiner Geige das Warschauer Getto und Auschwitz überlebt. Für mich waren die vier Brüder Vorbilder in der Kunst, Gefühle in Melodien auszudrücken. Ihre musikalische Überlegenheit und ihre darin begründete Arroganz, versuchten sie mit übertriebener Hilfsbereitschaft zu überspielen, mit Höflichkeit, die fast an Unterwürfigkeit grenzte. Ihren Charakter und ihr Gehabe hatte ich schlicht freundschaftlich angenommen, denn über Musik hatte ich bei ihnen mehr erfahren, als von meinen Lehrern davor. Von den ernsthaften Musiklehrern unseres Stadtorchesters. Sie duldeten keine Abweichungen, wenn ich meine Etüden blies, und scheuten Experimente. Einer von ihnen hatte mich entdeckt, Herr Beller, als er mich pfeifend auf der Straße hörte. Er hatte meine Mutter angesprochen, ich würde die Töne jedes Liedes genau treffen und darüber hinaus eigene, melodische Weisen finden. Ich sei musikalisch und müsse unbedingt ein Instrument lernen. Im Verein sei es kostenlos, und man würde mir am Anfang auch ein vereinseigenes Instrument stellen. Ich wollte die Trompete. Da war ich zwölf. Der Verein lieh mir eine gute, alte, tschechische Trompete mit Hebelventilen. Sie sah zwar nicht so aus, wie die von Louis Armstrong, aber ich begann zu spielen. Zwei Jahre später waren wir bei einem Schulausflug durch eine Buspanne in der Altstadt von Tübingen gelandet. In einem Trödelladen dort in der Hanggasse hatte ich mein Instrument entdeckt, matt silbern, fleckig, eine Trompete mit Hubventilen, auch eine tschechische, man müsste sie nur putzen. Und sie ist einmal geputzt worden von Siegrid Dörflinger, meine Trompete, mit einem flachen Mundstück für meine Lippen, auf dem ich mühelos das hohe C blies. Später hatte ich das Instrument dazu frei auf den Tisch gelegt. Ich erinnerte mich genau an den Händler, einem grauhaarigen, älteren Herrn, schlank und mit flinken Bewegungen, Herr Masarik, ich habe seinen Namen zwanzigmal auf ein Postscheckformular geschrieben, um die Raten zu bezahlen. Denn als Herr Masarik mich in seinem Laden spielen hörte, war er ohne Umstände bereit, mir die Trompete für hundert Mark mit einer Anzahlung von drei Mark fünfzig zu verkaufen.
Meine geliebte Siegrid hatte mich musikalisch nur in Konzerten unseres Stadtorchesters erlebt. Nie hatte sie mit mir nach Bad Dürrheim oder nach Tuttlingen kommen wollen, und schon gar nicht, wenn ich zum Fasching mit einer anderen Gruppe in Rottweil und in Schwenningen zum Tanz aufspielte. Da konnte man mehr verdienen als bei meiner normalen Arbeit im Lohnbüro der Werkzeugmaschinenfabrik Hettich und Co. Sie mochte es nicht, wenn ich mit zwielichtigen Gesellen musizierte. Trotzdem wollte ich für ewig mit ihr zusammen bleiben, wegen der Wiese an der Brigach, und dann der Grüne Baum, als ich in Sigmaringen meinen Wehrdienst leisten musste. Dreimal hatte sie mich in der kleinen Garnisonsstadt besucht, wenn ich keinen Heimaturlaub bekam. Dann war nur noch ein Brief gekommen. Ich glaube, ihre Eltern konnten mich nicht leiden. Ihr Vater, ein Rechtsanwalt, hatte mich einmal nach meinen Plänen gefragt, nach meinen beruflichen Aussichten, nach meinen Zielen. Ich hatte keine Pläne und kannte meine beruflichen Aussichten nicht. Meine Ziele bestanden darin, Mädchen zu küssen und ihre Brüste anzufassen, und alle Ziele und Pläne waren durch seine Tochter übererfüllt. Ich lebe mehr in einer Traumwelt als in der Wirklichkeit, hatte Sigrid mir in ihrem Brief geschrieben. Ich heulte nachts in mein Kopfkissen und hoffte, dass keiner es auf meiner Bude mitbekommen würde.
Zur Freude meiner Vorgesetzten und zur Belustigung meiner Kameraden blies ich jeden Abend um zehn den Zapfenstreich. Die Lilli Marleen, wenn ich dem Herrn Oberst und dem alten Hauptfeldwebel einen Gefallen tun wollte, und Verdammt in alle Ewigkeit für alle anderen. Dadurch zog ich Musiker des Bataillons an. Im Waschraum unserer Batterie begannen wir zu musizieren. Drei der Jungen fand ich gut, um mit ihnen eine Band zu gründen. Hans Kohler am Saxophon, Siegbert Görens am Schlagzeug und Dieter Kirkowitz am Bass. Als wir dem Oberst Dream vorspielten, kam auch der Pianist Volker Grams hinzu. Im Casino befand sich ein Klavier, und wir durften fortan dort proben. Zuerst spielten wir auf Feiern von Batterien und Kompanien. Aber dann empfahl uns der Oberst zu einem Ball des Jägervereins. Auf einmal war ich Kapellmeister, so nannte mich jedenfalls der Hauptfeldwebel. Denn nun wollten alle Vereine der Gegend die Tanzkapelle der Bundeswehr zu ihren Festen haben. Und unser Oberst war begeistert davon. Seht her, unsere künstlerisch begabten Staatsbürger in Uniform! Es war Werbung für ihn und die Bundeswehr. Der Gruppenführer einer ABC-Abwehrtruppe war ich nur noch auf dem Papier. Wir hatten Musik zu üben. Es begann die Zeit, in der mir der Wehrdienst Spaß machte. Wir spielten zum Tanz für den Trachtenverein, für den Fußballverein, für die Rotarier, und dann nicht nur in Sigmaringen. Wir bekamen einen Unimog mit Chauffeur gestellt. Nach Hause konnte ich nicht mehr fahren, und auch meine Kameraden wollten es nicht. Denn wir spielten in Pfullendorf, in Singen, in Überlingen, in Friedrichshafen…, bekamen schließlich auch Geld dafür. Und zur Fasnet waren wir tagelang unterwegs. Negermusik durfte dabei sein, Tiger Rag und Muskrat Ramble, und etwas aus Südamerika, den Gummi Mambo, Das ist die Liebe im Vorübergeh’n…, und Schuld war nur der Bossa Nova, und zum Schmusen den Mitternachtsblues, und immer wieder Schunkelwalzer, Heute blau und morgen blau und Kornblumenblau… Ich