Das melancholische Timbre. Dietmar H. Melzer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dietmar H. Melzer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738014013
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des Orchestre Symphonique Français in arte am Ostermontag vor vier Jahren? Bis zu ihrem Tod hat sie in dem Orchester Oboe und Kla­rinette gespielt. Sie ist mit 61 Jahren gestorben. Du hättest sie nachmittags nicht in die mediterrane Sonne lassen sollen. Ein Me­lanom wurde nicht rechtzeitig erkannt.

      Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der mit meinen Schall­platten richtige Freude hätte. Die Musik wird Deine Träume be­gleiten und vielleicht Erinnerungen wach halten. Ich lege diesen Brief nun in einen der Umschläge mit den Bändern.

      Franz Schmidl“

      Zuerst bin ich wütend auf Herrn Schmidl gewesen. Er hat sich in mein Leben, in meine Familie eingemischt. Es hätte genügt, mich bei ihm arbeiten zu lassen. Wenn dies denn wirklich ihr Wunsch gewesen ist. Wieso hat sie darum bitten können? Warum wühlt er jetzt in meinen Erinnerungen?

      Simone hat in einem Salsaorchester gespielt. Vielleicht ist sie ja glücklich, hat inzwischen auch Musik zu einem Film ge­schrieben. Wenn Simone glücklich wäre, dürfte ich nicht wütend auf Herrn Schmidl sein. Wenn ich nur wüsste, was glücklich sein ist. Wird man es wirklich, wenn man erreicht, was man will? Man müsste nur immer wissen, was man will. Hat Simone es gewusst? Und was kommt danach, wenn man alles erreicht hat? Was habe ich er­reichen wollen, um glücklich zu sein? Eigentlich nichts. Ich wollte nichts bekommen, nichts werden, habe immer nur geträumt, dass alles so weitergegangen wäre. Vielleicht ist man auch glücklich, ohne etwas erreicht zu haben, bekommt das Glücklichsein einfach geschenkt, ohne etwas dafür tun zu müssen. Ich will nichts errei­chen, wenn Karin mich nach der Schwarzwälder Kirschtorte vom Tisch wegzieht. Aber die Berührungen geben Geborgenheit und machen mich glücklich in dieser Weile. Indes habe ich die Erinne­rungen. Sie sind wie ein zweites Leben. Natürlich liebe ich meine Frau. Nur muss ich jetzt etwas aus jener Zeit herausholen, die Ge­genwart hätte bleiben müssen.

      Mit den Tonbändern bin ich zu Herrn Jaruselski gegangen, dem Inhaber eines Rundfunkgeschäfts in der Färberstraße, der einem in seiner Werkstatt auch ein altes Röhrenradio mit dem magischen Auge reparieren würde. Ob man bei ihm die Bänder abspielen könne. Selbstverständlich, Herr Kalisch, habe ich ein Tonbandge­rät, mit dem wir die Bänder anhören können. Die Tonqualität sol­cher Bänder ist in der Regel besser als die von Schallplatten und ganz gewiss viel besser als die dieser digitalen Kompaktdisketten. Bei digitaler Technik klingt die Musik steril, irgendwie leer, die Höhen sind zu scharf, die Tiefen ohne Raum, einfach zu direkt, wenn Sie verstehen, was ich meine, kein binäres Zahlensystem kann, nur ein Beispiel, den Nachhall von Tschaikowskys Bassgei­gen in der Pathétique einfangen. Die digitale Technik kann nur aufnehmen, was zu hören ist. Die komplexen Tonsäulen, die mit jedem Ton, mit jedem Akkord entstehen, gehen einfach verloren, weil Computer sie nicht erkennen. Menschen, Herr Kalisch, fühlen alles, was mitschwingt, auch wenn sie es nicht hören, und sie wis­sen dann gar nicht, warum sie bei den Bassgeigen in Tränen aus­brechen. Die Melodie allein, so schwermütig sie auch sein mag, ist es ja nicht. Verstehen Sie das? Wenn zum Beispiel Harry James das hohe C bläst, sind Schwingungen darunter bis in die Unterwelt und auch Schwingungen darüber bis sie sich im Weltall verlieren, wo sie mangels Moleküle nicht weiterschwingen können. Wenn Sie Musiker wären, Herr Kalisch, verstünden sie es. Mozart zum Beispiel, der ein absolutes Musikgehör hatte… Ich konnte ihm nicht mehr zuhören, denn er hatte eines der Bänder in ein Ton­bandgerät gelegt und eine elfenbeinfarbene Taste gedrückt. Was ich da auf einmal hörte, ließ mich schwindeln. Ich glaubte, ohn­mächtig zu werden.

      „Halten Sie an, Herr Jaruselski“, fuhr ich ihn an.

      Er drehte sich erstaunt zu mir um.

      „Ich… Ich habe jetzt keine Zeit. Ist es möglich, die beiden Bänder auf CDs zu übertragen, damit ich sie zu Hause anhören kann?“

      Ich musste diese Musik allein hören.

      „Selbstverständlich, Herr Kalisch. Ich kann den Inhalt dieser bei­den Bänder digitalisieren und auf CDs brennen. Wahrscheinlich werden es zwei. Aber die Qualität, wie gesagt…“

      Ich möchte heute Nachmittag zwei CDs hören, sage ich zu ihr und stehe von meinem Stuhl auf. Karin schleckt sich die Schokoladen­späne mit der Zunge von den Lippen. Einen Augenblick zieht sie die Stirn in Falten, lacht dann aber und meint, ich spüle dann das Geschirr. Du kannst es hernach ja abtrocknen und wegräumen, wenn du nicht zu betrunken bist. Du wirst ja wohl Bier trinken, wenn du dich mit Herrn Schmidls Plattensammlung beschäftigst. Ich helfe ihr, das Kaffeegeschirr in die Küche zu bringen. In mei­nem Musikzimmer ist es dunkel und kühl. Es war nicht so teuer, die Bänder auf die CDs zu übertragen. Auf den silbernen Schei­ben steht Gerhard Kalisch I und Gerhard Kalisch II. Ich setze mich in meinen bequemen Ohrensessel und lege eine Platte in das Gerät. Wieder wird mir schwindelig als ich die ersten Takte höre. Aber es kann mir nichts passieren. Ich sitze ja. Karin kommt nach einer Weile mit einer Flasche Bier und einem Glas. Sie schenkt ein und stellt mir beides auf die Anrichte am hinteren Fenster. Das klingt traurig, ja herzzerreißend, wie der Musiker die Klarinette spielt, sagt sie im Hinausgehen.

       II Negermusik

      Dieses ewige Rollen auf Eisen hatte mich irgendwann einschlafen lassen. Doch immer, wenn die Räder über Weichen polterten, schreckte ich aus wirren Träumen auf, ohne wirklich zu mir zu kommen. Ich hatte viel getrunken, und die beklemmende Lähmung meiner Empfindungen machten die Nacht und die Geräusche des fahrenden Zuges quälend, wenn sich ihre Monotonie änderte. Ich erwachte, als der Ton der rollenden Räder hohl klang und ihr rhythmisches Pochen verlangsamten. Fabriken und Lagerhallen ließen unerträglichen Lärm daraus werden. Ich schloss das Fenster und merkte endlich, wie eisig die Luft im Abteil war. Mein Herz klopfte, im Mund spürte ich eklig Süßsäuerliches und im Kopf ein beharrliches Ziehen. Wie war ich nur zum Bahnhof gekommen? Ich suchte die Zigaretten. Nach dem ersten Zug meinte ich, bre­chen zu müssen. Vielleicht würde kaltes Was­ser helfen und ich hatte noch genug Zeit. Also drückte ich die Zigarette aus, konnte den stinkenden Rauch aus dem Aschenbecher aber nicht aufhalten. Die Abteilungstür quietschte, als ich sie aufschob. Ich stützte mich mit den Händen an den Wänden des schwankenden Ganges ab. Zum Glück war die Toilette frei.

      Ich ließ alles aus meinem Körper in diesen schmutzigen Trichter sprudeln und in das Dröhnen da unten verdampfen. Das würde vom Schnaps und von den Bieren befreien. Und das kalte Wasser tat gut im Gesicht. Ein müdes, verkatertes Gesicht sah ich im Spiegel, und ein blödes Grinsen. Den drängenden Wunsch, dieses Wasser auch zu trinken, musste ich wohl unterdrücken. Durstig begab ich mich in das Abteil zurück und öffnete wieder das Fens­ter. Die Schienen hatten sich vermehrt und blinkten kalt in den vorbeifliegenden Lichtern. Eine Lokomotive schob dampfend Gü­terwagen vor sich her.

      Der Zug würde in einen Kopfbahnhof einlaufen. Ich hatte genü­gend Zeit zum Aussteigen. Trotzdem zog ich schon meinen Mantel an, ein etwas abgewetztes Stück aus blauem Popelin, und wuchtete meinen Koffer und meine Tasche aus dem Gepäcknetz. Vor mei­nem Abteil schoben sich andere Passagiere mit ihrem Gepäck vor-bei. Sie hatten es noch eiliger als ich. Dabei war es völlig egal, ob ich um 21.13 Uhr aus dem Zug stieg oder eine Stunde später. Trotzdem drängte ich mich aus dem Abteil in die Menschen­schlange, stieß mit dem Koffer gegen Körper, stellte die Tasche auf einen fremden Fuß. Entschuldigung. Entschuldigung. Lichter fluteten herein. Als der Zug mit einem Ruck anhielt, musste ich mich an einem Arm festhalten. Entschuldigung. Die Schlange setzte sich in Bewegung und stieß mich Schritt für Schritt auf den Bahnsteig in eine Menschentraube hinein. Stuttgart Hauptbahnhof, brüllte es aus Lautsprechern. Die nächsten Anschlüsse. Eilzug nach Mannheim über Ludwigsburg, Heilbronn, Heidelberg um 21.40 Uhr auf Gleis 14; Fernschnellzug nach Hamburg Altona über Würzburg, Kassel, Göttingen, Hannover um 22.10 Uhr auf Gleis 9; Personenzug nach Karlsruhe… Die Dampflokomotive am gegenü­berliegenden Bahnsteig hüllte alles in graublauen, nach heißem Wasser und Kohle riechenden Dunst. Die Bundesbahn wollte bis zum Ende des nächsten Jahrzehnts das Rauchen aufgeben, hatte ich in einer Anzeige gelesen. Der Beruf des Heizers fiele weg. Auf Hauptstrecken sollten nur noch elektrische Lokomotiven die Züge ziehen, auf den anderen leicht zu bedienende Dieselmaschinen. Aber die stanken und rußten ja auch. Elektrisch wäre alles besser. Ich hörte das schnarrende Signal des Gepäcktransporters und wich mit anderen Leuten zur