Das melancholische Timbre. Dietmar H. Melzer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dietmar H. Melzer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738014013
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habe bis jetzt nur den kleinen Walter kennengelernt.“

      „Ach, der kleine Walter…“ Sie lachte wieder. Die Falten huschten auch um blinzelnde Augen. Wurden wieder glatt und ernst. „Sein Vater hat sich davongemacht.“

      „Der Arme.“

      „Seine Mutter habe ich noch nie gesehen. Die ist immer irgendwo auf Arbeit.“

      „Der Arme.“

      „Hier im Haus hat er keine Freunde, sagt er, weil die Kinder in

      seinem Alter zu einer ostpreußischen Familie gehören. Die kann er nicht leiden. Sie verstünden seinen Dialekt nicht. Was ich nicht so richtig glaube. Kinder nehmen doch ganz leicht die Sprache ihrer Umgebung an. Ich bin ja auch ein Flüchtling, wenn auch keine Vertriebene von fünfundvierzig. Seine Mutter erzieht unnötige Ressentiments in ihm, weil sein Vater… “

      „Mit einem schamlosen Flüchtlingsweib…“

      Wie herrlich das klang. Flüchtlingsweib. Schamlos.

      „Sie haben ihn ja getröstet.“

      „Die Schraube in seiner Lokomotive.“

      „Und die Mark für den Schulbeck.“

      „Und Sie mit den Weintrauben.“

      „Hat er das erzählt?“

      „Ja. Und auch, dass ich mich in das nette Fräulein verlieben sollte.“

      Warum sagte ich das? Warum plapperte ich etwas nach, was im Kopf eines siebenjährigen Buben entstanden war? Ich versuchte zu lachen. Sie lachte aber nicht mit. Keine Falten um die Nase und um blinzelnde Augen. Ich half ihr, das Ge­schirr in die Küche zu tragen und trocknete auch ab, als sie es spülte.

      „Danke für den Fisch und den Apfelsaft. Ich werde es wieder gut­machen, das Gemüse und so…“

      „Ja.“

      Sie stapelte das Geschirr aufeinander und trug es in ihr Zim­mer. Eine Gelegenheit, ihr zu helfen, ergab sich nicht. In meinem Zim­mer war es kalt. Ich steckte mir eine Zigarette an und legte mich auf mein Bett. In ein nettes Fräulein verlieben oder in ein schamlo­ses Flüchtlingsweib. In ein Flüchtlingsweib. In ein Weib. In ein Schamloses. Oder in die Tochter eines Flüchtlingsweibes. Oder in ein nettes Fräulein, kein Flüchtlingsweib, weil nicht von fünfund­vierzig.

       IV Jatss

      Der Abend dämmerte. Regen trommelte gegen die Scheiben. Ich lag auf dem Bett und schaute zu, wie es dunkel wurde. Wenn im Hof die Beleuchtung anging, entstanden Lichtrau­ten an der Decke und erhellten den Raum. Das war nicht lange unterhaltsam. Ich war wieder hungrig. Zu kauen hatte ich nichts. Das Brot hatte ich bei dem netten Fräulein vergessen. Ich stand auf, zog mir den Pullover an und den Mantel. Bis ich in der Cantina Guernica ankam, würde ich klitschnass sein. Vielleicht wären dann auch meine Schuhe und die Hosen unten sauber. Ich griff nach dem Koffer mit der Trom­pete. Wenn Nina und ihre Freunde nicht in der Bar auftauchten, würde ich nach dem Jazzclub fragen. Aber sie waren schon da, an der Bar, Nina und ihre Freunde. Alle in fast sommerlicher Klei­dung. Und ich fühlte mich nass bis auf die Unterhose. Ich ver­suchte, mich an die Bar in Ninas Nähe zu drängen und bestellte ein Glas Portwein. Aber ihre Freunde waren gerade im Begriff, das Lokal zu verlassen.

      „Wo ist der Jatss? Ich würde gerne mitspielen.“

      Nina musterte mich. Ihr Blick blieb auf dem Trompetenkof­fer haften. Sie nahm ihr Glas und trank den Inhalt in einem Zug. Der samtige Portwein. Sie stand von ihrem Hocker auf.

      „Komm mit“, sagte sie, ohne zu gurren. Ich ließ den Portwein ste­hen, legte ein Markstück neben das Glas und folgte ihr. Draußen drängten die jungen Leute unter Kreischen und Lachen in Autos, die am Bürgersteig parkten. Abwartend blieb ich im Regen stehen. Die vordere Tür eines der Autos war offen geblieben. Ein schwar­zer, hundertneunziger Mercedes. „Steig ein!“ Aber da vorne waren schon zwei Mädchen auf dem Sitz „Los. Steig ein!“ Ich klemmte mich zu Körper und Kleid und Perlonstrümpfe, den Koffer auf den Knien, dann irgendwie auf die Seite geschoben, um die Tür zu schließen. Protestierendes Geschrei erklang. „Hilfe, ein Frosch. Der Frosch hat mich völlig nass gemacht.“ „Küss ihn, er ist viel­leicht ein Prinz.“ Eine männliche Stimme von der Rückbank. Wir waren acht Personen in dem Auto. Nina am Steuer. Sie fuhr schnell, die Rotebühlstraße hinunter in die Rote Straße, die mir wie eine Autobahn vorkam, bremste auf einmal scharf und bog nach rechts ab und noch einmal nach rechts. Sie parkte den Wagen hin­ter einer Reihe anderer, die in der schmalen Straße halb auf dem Bürgersteig standen. Hinter uns fuhren Ninas andere Freunde auf. Es war nicht unangenehm, mit einem schwankenden und reibenden Mädchenkörper zusammengepresst zu sein, doch war ich auch froh, aus der Enge wieder herauszukommen. Wir standen vor ei­nem Haus mit neoklassizistischer Fassade, die irgendwie alle Bombenangriffe überstanden hatte. Neben der Haustür war ein of­fenes Tor, hinter dem Stufen zu einem Keller hinab führten. Ich sah ein schwach beleuchtetes Holzschild an der Wand. Die in das Holz geschnitzten Buchstaben waren mit roter Farbe gefüllt. JATSS-KÄHER las ich. Das war schönstes Schwäbisch. Zwar war auch ich das Kind eines hergelaufenen Flüchtlingsweibes, verstand aber den Dialekt inzwischen gut. Und mein Tonfall und meine Aussprache hatten sich bereits ins Alemannische gefärbt. In Hoch­deutsch übersetzt stand auf dem Schild JAZZKELLER.

      Das war auch zu hören. Musikfetzen drangen von unten durch eine geschlossene Tür herauf. Als die Tür sich öffnete und wir in das Lokal stürmten, packte mich sofort die Musik. Ragtime. Ich kam in ein Gewölbe, aus Ziegeln gemauert, das vielleicht mal ein Wein­keller gewesen war. Gleich hinter der Tür, die man von innen wie eine Steppdecke gepolstert hatte, befand sich eine Theke. Wir wurden von den hier herumstehenden Leuten mit Hallo begrüßt, mit Handschlag und Schulterklopfen, mit Wangenküsschen links und rechts. Auch ich bekam das alles ab. Mir wurde augenblicklich heiß. Ich begann zu schwitzen. Nicht wegen der Küsschen. Hier wurde gut geheizt. Ich habe später erfahren, dass Rohre einer neuen, zentralen Heizungsanlage in einem Nebenhaus, die auch den Laden und die Wohnungen über uns wärmen sollte, durch den Keller führten. Ich riss mir Mantel und Pullover vom Leib. Und schwitzte doch. Das konnte aber an dem Gedränge liegen. Der Jazz kam aus einem großen Raum, der links von der Theke zwei Stufen niedriger lag. Die Gäste dort saßen im Kerzenlicht um hochge­stellte Fässer vor einem Podium, auf dem unter grellen Lampen die Band in Aktion war. Sechs Mann, Piano, Schlagzeug, Bass, Klari-nette, Posaune und Trompete. Der Trompeter indes spielte ziem­lich hölzern. Er war nicht routiniert genug in seinen Improvisatio­nen. Wenn ich heute Abend bei der Band einstieg, würde er mich sicher nicht mögen.

      Der Mann hinter der Theke schob den Neuankömmlingen Bierfla­schen und Gläser zu. Er sah aus wie Friedrich Wilhelm Nietzsche, mit einem grimmigen Gesicht und einem dichten, dunklen Ober­lippenbart, der über den Mund schier bis ans Kinn fiel. Wie nahm er das Essen zu sich? Und wie küsste er eine Frau? Er sagte etwas zu mir, was durch diesen Bart und die Schallwellen von drei Blä­sern und zischendem Schlagzeug mein Ohr nicht erreichte. „Das ist Horst Krohn“, rief Nina mir ins Ohr. Der Maler des grässlichen Bildes in der Cantina Guernica? „Er sagt, wenn du Musiker bist und einmal mitspielst, bekommst du ein Bier gratis.“ Ja. Das wollte ich ja. Ich hob meinen Koffer in seinen Blick. Er nickte mir zu. Wie sollte ich Flasche und Glas an mich nehmen mit dem Kof­fer in der einen Hand und Pullover und Mantel in der anderen?

      Nina nahm mir alles ab, Flasche, Glas, Mantel, Pullover, den Kof­fer mit der Trompete. Mit auffordernder Geste ihres Elfenbeinge­sichtes stieg sie die Stufen in den großen Raum hinunter. Ich folgte ihr an eines dieser hochgestellten Fässer, um das auch schon einige Leute hockten. Man rutschte zur Seite, bildete eine Lücke, Hocker kamen über eine Kette von Armen herbei, meine Bierflasche und mein Glas standen bei den anderen Getränken auf dem Fass, mein Mantel und mein Pullover verschwanden irgendwo hin. Nur den Koffer hielt Nina fest auf den Knien, als sie sich setzte und dem Mann an ihrer Seite etwas ins Ohr schrie. Und dann mir: „Pass auf dein Bier auf, sonst trinkt es ein anderer!“ Ich schaute mich etwas um und war überrascht, wie viel ältere Herrschaften unter den Zu­hörern waren. Damen und Herren. Ganz vorne eine Grauhaarige in