Das melancholische Timbre. Dietmar H. Melzer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dietmar H. Melzer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738014013
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bleiben und schrie Simone an. Aber die schrie zurück. Und meine autoritären Donnerwetter hat­ten auch keine Wirkung. Tu doch, was in deiner Macht steht, heulte Karin. Aber welche Macht hat ein Vater bei einer aufsässigen Tochter, wenn er sie nicht verprügeln will? In Gedanken habe ich sie sehr wohl ge­schlagen. Doch macht man das in Wirklichkeit nicht. Ich liebte sie und hätte ihr niemals Schmerzen zufügen oder sie durch Schläge demütigen können. Sie würde erwachsen werden, sich die Anhän­ger mit den Rasierklingen aus den Ohrläppchen nehmen und den Metallring aus dem Bauch. Sie würde vernünftig werden.

      Eines Nachts kam sie nicht nach Hause, auch nicht am Mor­gen, nicht am Nachmittag und nicht am Abend. Wir versuchten bei ih­ren Freundinnen und Freunden zu erfahren, so weit wir sie kann­ten, wo Simone stecken könnte. Wir gerieten so in eine Mansarde in der Altstadt zu einem Typen mit dunklen, wirren Haaren, der ziemlich älter als Simone war und ganz sicher kein Schüler mehr. Der behandelte uns recht grob, herrschte uns an, die dumme Schlampe hätte die Pillen bei ihm vergessen, sie solle bloß ihm nichts anhängen, wenn sie sich von irgendeinem Arsch füllen ließe. Solch eine Ausdrucksweise schockierte uns. Aber noch mehr empörte mich: welcher Arzt verschreibt einer Fünfzehnjährigen die Pille? Wir erstatteten bei der Polizei eine Vermisstenanzeige mit einer Menge Fotos, damit man sie fand, gleich, in welcher Ver­kleidung sie unterwegs sein mochte. Die Strafanzeige wegen Ver­führung einer Minderjährigen wollten wir noch zurückhalten. Weil wir ein Ziel hatten und immer gemeinsam unterwegs waren, rede­ten Karin und ich wieder miteinander. Wir mussten ja suchen, un­tersuchen, erwägen, abwägen, einander Mut machen, ihr wird schon nichts passiert sein, eher hat sie einem anderen etwas ange­tan. Wir führten beinahe wieder ein Eheleben. Wenigstens tags­über. In Gesprächen mit ihren Lehrern erfuhren wir, dass Simone, bei all ihrer Widerspenstigkeit, die ganze Zeit eine gute Schülerin geblieben war. Und wir hörten, sie habe besonders im Musikunter­richt sehr gut mitgemacht, habe Lieder komponiert, sogar eine Sin­fonie, die nächstes Jahr vom Schulorchester aufgeführt werden soll, sie spiele hervorragend Klavier, und unser ungläubiges Kopf­schütteln, unsere erstaunten Ausrufe, wieso wir so täten, als wüss­ten wir von nichts, wir hätten doch den Klavierunterricht bei Herrn Ottmar Rodewald bezahlt, einem pensionierten Musikpädagogen, der übrigens auch ein ausgezeichneter Pianist sei, und sie hätte bei einem jungen Mann in der Stadt Gitarrenunterricht gehabt… Un­glaublich, was uns hier zu Ohren kam. Karin hatte es stets abge­lehnt, die Kinder ein Musikinstrument lernen zu lassen. Nun hatte unsere Tochter heimlich musiziert. Aber wer hatte ihr die Unter­richtstunden bezahlt? Und wo hatte sie geübt? Sie spiele hervorra­gend Klavier!

      Neun Tage später hat die Polizei sie am Mannheimer Wasserturm aufgegriffen, in einer Gruppe von Mädchen und Jungen, die durch Streit und laute Musik aufgefallen war. Sie sah nicht verwahrlost aus, als zwei Beamte sie bei uns ablieferten, mit einem Gitarren­koffer in der Hand. Unter Drogen schien sie nicht zu stehen. Sie betrachtete mich mit ihren wasserblauen Augen, und ich meinte, eine verschwörerische Kumpelhaftigkeit in ihnen zu sehen. Sie lachte unbekümmert, als käme sie von einem Tagesausflug, zog mein Gesicht zu sich heran, sie ist schon mit Fünfzehn etwas grö­ßer als ich gewesen, und gab mir Küsse auf die linke und auf die rechte Wange, wie bei einem gewöhnlichen Wiedersehen. Da beg­riff ich, dass wir sie verloren hatten. Ihre Mutter bedachte sie mit derselben, oberflächlichen Vertrautheit. Wir haben nie mehr wie­der mit ihr gestritten

      Ein paar Tage nach Simones sechzehntem Geburtstag führte das Schulorchester in der Tonhalle die von ihr komponierte Sinfonie auf. Es war keine Musik wie etwa von Mozart, die einen heiter stimmt oder zum Beispiel von Beethoven, die einen ergreift und erhabene Gefühle weckt. Ich fand keinen Zugang zu dem, was die Gymnasiasten boten. Brausende, elektronisch verstärkte Orgelkas­kaden; Streicher, die sich kaum um Harmonien scherten; eine ein­same Mädchenstimme in schrillem Sopran, begleitet von irgendwie melodisch klingendem Klopfen auf Hölzern und Steinen, in das dann eine heisere Trompete schrie. Nur ein paar Takte einer Gi­tarre, die mich an Rodrigos’ Aranjuez erinnerten, trafen auf das von mir gewohnte Musikgefühl. Trotzdem bewunderte ich die jun­gen Leute, mit welchem Ernst sie spielten, wie sie sich hingaben in eine mir unbekannte Welt, aus der sie uns hier etwas vortrugen. Das Publikum spendete höflichen Applaus. Nur eine kleine Gruppe klatschte stürmisch mit hysterischen Schreien wie auf einem Beat­leskonzert, was die anderen Gäste für unangebracht hielten.

      Simone ließ sich einige Wochen darauf einen Personalausweis aus­stellen, packte ganz offen ein paar Sachen in ihren Rucksack und nahm ihre Gitarre. Sie wolle uns jetzt verlassen. Was soll aus dir werden, Simone? Nicht, was aus dir geworden ist, Papa. Ich fühle mich hier nicht zu Hause, weil alles, was ich möchte, nicht ge­wünscht wird oder verboten ist. Dann ging sie aus dem Haus. Wir haben sie seither nicht mehr gesehen. Vor vielleicht zehn Jahren, ich glaube, es war nach Herrn Schmidls Beerdigung, erhielten wir einen Brief von ihr aus San Francisco. Sie mache keine Rockmusik mehr, schrieb sie, als ob wir darüber informiert gewesen wären, sie spiele nun das Piano in einem Salsaorchester, mit dem sie in den Vereinigten Staaten unterwegs sei, und sie habe sich gerade be­worben, die Musik zu einem Film zu schreiben. Verheiratet sei sie nicht und sie habe auch keine Kinder. Ihr Geliebter zur Zeit sei der erste Trompeter des Salsaorchesters, mit dem sie sich im Wechsel­spiel von Piano und Trompete auch musikalisch gut verstehe. Dem Brief lag ein Schwarzweißfoto bei. Das Gesicht einer ernsten Frau um die dreißig mit langen, blonden Haaren. Karin hat als erste von uns beiden angefangen zu weinen. Es sei alles ihre Schuld. Nach Ricos Unfall habe sie geglaubt, keine Gefühle mehr haben zu dür­fen, habe Simone behandelt, als sei sie ihr gleichgültig. Dabei liebte sie sie doch und hätte Simones musikalisches Talent erken­nen können. Man hätte sie fördern müssen, anstatt ihr Musikin­strumente zu verbieten. In Deutschland wäre alles viel einfacher gewesen mit einem Musikstudium, mit Bafög, mit der Künstlerso­zialversicherung, mit einer Stelle in einem staatlichen Orchester… Hätte Simone es so gewollt? Wie hatte sie es nur geschafft, in den Vereinigten Staaten als Musikerin zu arbeiten, wo doch die ameri­kanische Gewerkschaft der Musiker sonst erfolgreich verhinderte, dass ausländische Künstler in ihrem Land auftraten?

      Nach all den verschwendeten Lebensjahren ohne Liebe sind Karin und ich wieder ein richtiges Paar geworden. Aber wir haben keine Freunde. Wir haben nur uns. Und es ist, als müssten wir in unseren herbstlich welkenden Körpern all das Verlangen neu wecken, das während unseres jüngeren Lebens nicht beachtet worden ist. Manchmal sonntags. Wenn Karin in der Konditorei „Zum Schwar-

      zen Raben“ gewesen ist. Und wir uns am hellen Nachmittag, nach dem Genuss der herrlichen Schwarzwälder Kirschtorte, von frivo­ler Lust ins Bett treiben lassen wie ein frisch getrautes Paar.

      Heute allerdings nicht. Neulich bin ich wieder auf das Paket mit den Tonbändern gestoßen und habe den zweiten Umschlag geöff­net. Es war ein Brief von Herrn Schmidl. Er war an mich gerichtet.

      „Lieber Gerhard,

      was während meines Lebens kaum möglich war, kann ich nun, ich duze Dich einfach, weil wir seelenverwandt sind. Obwohl Deine Zeugnisse miserabel waren, habe ich Dich seinerzeit in meiner Firma angestellt, weil eine schwedische Musikerin, die Du gut kennst, mich darum gebeten hat, Die Dir gestellten Aufgaben hast Du ordentlich erfüllt, so wie es Dir möglich war. Du bist nicht be­sonders energisch, sondern eher verträumt, dafür aber ehrlich und immer guten Mutes. Ich habe Dir ein Gehalt bezahlt, mit dem Du Dein Leben bestreiten konntest. Kuckucksuhren sind für meine Kinder leider bescheuerter Kitsch. Deine Stelle wirst du aber auch dann behalten, wenn sie die Firma verkaufen sollten. Dein Leben habe ich aufmerksam verfolgt. Auch mich traf Ricos plötzlicher Unfalltod. Doch musst Du Dich um Simone nicht sorgen. Den Unterricht in Klavier und Gitarre habe ich ihr bezahlt. Niemand sonst weiß etwas davon. Hinterher war ich allerdings in Sorge, über das, was ich über den Gitarrenlehrer hörte. Indes mag ich nicht beurteilen, ob er ein Verbrechen beging, als Simone seine Geliebte wurde. Ich glaube, dass Deine Tochter nicht von ihm ab­hängig war und nur geschah, was sie auch wollte. Simone hat Dein musikalisches Talent, doch darüber hinaus auch die Kraft, etwas zu erreichen, was sie glücklich machen wird. Verzeih mir, mich in Deine Familie eingemischt zu haben. Ich gebe mir die Schuld, dass Simone Euch so jung verlassen hat. Aber es wird schon richtig ge­wesen sein, sie musikalisch weiterzubilden, weil ihr Glücklichsein auch Dir gut tut. Die Bänder hier habe ich von Deiner schwedi­schen Freundin. Und auch den Briefumschlag. Erst wenn sie und ich gestorben wären, sollte alles an Dich weitergehen.