Das melancholische Timbre. Dietmar H. Melzer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dietmar H. Melzer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738014013
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blaugrau gestrichen. Efeu rankte von der Nordseite her an das Dach hinauf. Blaugrüne Blät­ter mit heller Maserung glänzten matt in der schwachen Sonne, die hier oben durch den Nebel brach. Wir fuhren durch ein weit geöff­netes Tor. Ein Mann kam uns entgegen, schwarze Hose, weißes Hemd, eine schwarzweiß gestreifte Weste darüber, so musste ein Diener wohl aussehen, winkte und winkte uns weiter auf einen Platz hinter dem Haus. Da standen schon ein paar andere Autos. Ein Dreihunderter darunter, ein Rolls Royce und an der Hauswand ein kleines MG Cabriolet. Von solch einem hatte ich immer ge­träumt. Wir mussten eng auf die Wagen auffahren. Es wurden viele Gäste erwartet.

      Der Mann führte uns durch einen Seiteneingang in den Saal, in dem der Hochzeitsball stattfinden sollte. Die großen Fenster machten ihn zu einem heiter stimmenden Raum. Rötliche Schatten schimmerten an der hellen Decke zwischen Stuckverzierungen. Die Wände waren in einem ganz blassen Rosa getüncht. Nischen darin mit Skulpturen, eine nackte Frau, ein nackter Mann, ein Paar in erotischer Pose…, dezent bemalt, trotzdem leicht zu sehen, was sonst hinter Wäsche verborgen war. Überdimensionale Ölgemälde hier und dort, ein bunt gekleidetes Paar unter einem Olivenbaum, zwei Damen in hauchdünner Kleidung, hinter ihnen vermummte Soldaten in napoleonischen Uniformen, ein Prinz in Blau mit gol­denen Knöpfen und schwarzweißroter Schärpe mit goldenen Fran­sen, ein Degen an seiner linken Seite… Glitzernde Wandlampen dazwischen. Ein riesiger Kristallkronleuchter an der Decke. Tische in mehreren Reihen vor einer freien Fläche für die Hochzeitstänze. Unser Podium mit einem Klavier dahinter an der Wand. Wir bau­ten unsere Instrumente auf. Ein anderer Mann kam auf uns zu. Ein Herr. Im Frack und gestärktem Hemd. Wir würden um vier mit un­serer Musik beginnen. Etwas dezent, bitte sehr, zum Aperitif. Und dann erst wieder ab neun. Bis drei Uhr in der Nacht. Getränke während unseres Auftritts brächte uns ein bestimmter Kellner, der sich diskret bei uns erkundigen würde. Der Herr bat uns, den Saal zu verlassen, wenn alle Instrumente einsatzbereit seien. Er geleitete uns durch einen Korridor in eine Stube mit zwei blankgescheuerten Tischen, am Fenster blauweiß karierte Gardinen, die Wände halb­hoch mit Holz verkleidet, grünlichbraun alles Holz, Fichte viel­leicht, auch die Kommode auf der einen Seite, die Tischplatten vielleicht nicht. Der Herr war auf einmal nicht mehr da. Ein ande­rer an seiner Stelle, gekleidet wie jener auf dem Parkplatz. Was wir trinken möchten. Und er würde uns einen Imbiss servieren. Das Abendessen bekämen wir auch hier um achtzehnuhrdreißig. Wir baten um Bier und bekamen goldbraun geröstete Hähnchenschle­gel und eine Art Kartoffelplätzchen dazu. Ich begann zu schwitzen. Unter den Achseln bildeten sich nasse Flecken auf meinem frisch gewaschenen Nylonhemd.

      Damen und Herren in festlicher Kleidung, viele Kinder und Ju­gendliche darunter. Der Saal im Glitzern von Licht und Kristall. Solch einen Anblick kannte ich nur aus Illustrierten. Überwiegend schwarz die Herren, einige dunkelgrau, die Damen cremefarben, hellblau, zartlila in Spitzen und Rüschen und Schleifen, tief ge­schnittene Dekolletees, glänzende Seide bis zu den Spitzen der Pumps. Manch jüngere Frau trug ein freches Kleid nur bis zu den Knien. Wo kamen die Hochzeitsgäste auf einmal alle her? Sie standen in Gruppen schwatzend und lachend vor den Tischen und auf der Tanzfläche, Sektgläser in der Hand. Kellner balancierten auf silbernen Tabletts den Nachschub herbei. Die Tische waren mit goldenem Besteck und weißem Porzellan gedeckt. Wir begannen mit gestopfter Trompete. How High Is The Moon. In einer der Gruppen sah ich die Dame Hildrun von Hohenberg. Sie beachtete uns Musiker nicht. Wir spielten unsere Nach­mittagsrunde ge­dämpft, beschwingt, nicht allzu schnell, obwohl das Schwatzen und Lachen immer lauter wurde. Die Braut trug ein langes, weißes, züchtig geschlossenes Kleid. Dunkle Locken quollen unter dem Schleier hervor. Sie hatte ein blasses, vornehmes Gesicht.

      In der Stube bekamen wir Salate zu essen, einen Teller mit kleinen, rothäutigen Tieren in einem schweren Öl, deren Fleisch süßlich schmeckte, Crevettes nannte Jean Christian die Kreaturen, dann gebratene Fleischstücke, die Jean Christian als von einem Reh stammend erkennen wollte, fadendünne Bohnen und Kroketten in einer dunklen Soße dabei. Danach wollte ich nichts mehr von den Gerichten, die noch angeboten wurden, auch keinen Käse, keinen Mousse au chocolat, keinen Pfirsich. Die Freunde überredeten mich, wenigstens Mangoscheiben in Champagner zu probieren. Die Pause bis um neun Uhr brauchte ich sehr wohl, damit sich mein Bauch mit den ungewohnten Speisen anfreunden konnte. Ich fühlte mich müde und schwer, als wir mit unserem Jazz zum Tanz begannen. Richard Wagners Brautchor, Treulich geführt, hatte man schon von einem Tonband abgespielt und den Walzer zur Eröff­nung auch, den Donauwalzer von Johann Strauß.

      Wir begannen mit dem Stück I’m In The Mood For Love. Die Tanzfläche war sofort voll. Ein Tänzer sprang mir sofort ins Auge, weil er einen weißen Smoking trug. Ich war überrascht, Horst Krohn hier zu sehen. Und dann war ich auf einmal hellwach. Er tanzte mit Nina!

      Ein kurzes, rauchblaues Kleid aus durchsichtig scheinenden Spit­zen auf erregend gerundetem Elfenbein. Ihr Haar flog davon bei jeder Drehung und der rasant auffliegende Rock zeigte ihre Beine bis zu den Strapsen hinauf. Ich versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu erheischen, wenn ein anderer seinen Chorus hatte. Sie bemerkte es aber nicht. Als ob sie noch nie im Jazzkäher gewesen wäre und niemanden von der Band kannte und niemals mit mir vor dem warmen Kachelofen…, streiften ihre Blicke gelegentlich gleich­gültig über uns Musiker hinweg. Und auch Horst Krohn tat so, als kannte er uns nicht.

      „Idiot“, zischte mir jemand ins Ohr. „Konzentrier dich auf dein Spiel!“ Jean Christian hatte sich nach einem breiten, hingehauenen Akkord erhoben, sich tänzelnd zu mir gedreht, so erzählte man mir später, um mir verbal in den Arsch zu treten. Alle lachten nach dem Auftritt. Es hätte ausgesehen, als gehörte dies zu unserer Show. Nach Jean Christians Rüffel wurde ich wütend und blies scharf in das Horn. Stormy Weather, im Satz, Rüdiger Vollmer mit dem Altsaxophon anstatt der Klarinette. Die Gäste an den Tischen wurden lauter, und auf der Tanzfläche ging es frivol zu. Um Mit­ternacht mochte man glauben, in einem Bierzelt unter besoffenen Proletariern zu sein, in derbem Gelächter und Schreien und Keifen, und Hildegard von Hohenberg winkte uns nun einmal, Träger ihres Kleides waren noch keine gerissen, und Tänzerinnen und Tänzer mit obszönen Bewegungen und Schritten und Handgreiflichkeiten schienen aus einer Hafenkaschemme zu sein anstatt aus vorneh­mem Haus. Kinder und Jugendliche waren schon lange nicht mehr im Publikum, und Horst Krohn war verschwunden – und auch meine Nina Kornasow. Um halb drei ging ich vor der letzten Runde aufs Klo und sah in einem Gang, wie ein Herr seiner Dame den Rock gehoben und seine Hand zwischen ihre Beine geschoben hatte und hörte, wie sie jauchzte. Und ich sah in der Stube, in der wir gegessen hatten, eine Dame mit geöffneten Beinen auf einer der blankgeschliffenen Tischplatten sitzen und einen Herrn davor, die Hose herunter gelassen. Von denen konnte man nichts hören. Sich vielleicht nur lautes Atmen vorstellen. Und eine Dame tanzte in der letzten Runde mit nacktem Oberkörper vor unserer Bühne und ließ ihre Brüste im Rhythmus kreisen. Wir spielten When It’s Sleeping Time Down South. Nachdem wir unsere Instrumente ver­sorgt hatten, bat uns jener Herr im Frack in die Stube, um uns das Honorar zu bezahlen, abgezählt in kleinen Scheinen, so dass jeder von uns dreihundertdreiunddreißig Mark bekam. Eine Mark mehr für Jean Christian. Ich schaute dauernd auf die eine Tischplatte, ob da Schweiß und Flecken zu sehen waren. Auf dem Heimweg drückten Himmelsgewichte meinen Brustkorb zusammen. Mein Herz, eingeklemmt zwischen Wut und Enttäuschung, schien plat­zen zu wollen. Nicht wegen der Damen und Herren der vornehmen Gesellschaft, die nicht so sittsam wie die gerade verheiratete En­kelin waren. Warum hätte man sonst seinerzeit den Keuschheits­gürtel erfunden? Den unnützen, weil Minnesänger und Gärtner Nachschlüssel hatten. Mich drückten Gurren, Elfenbein und Au­genbraun. Te quiero, nicht im deutschen Sinn, im Sinn…

      Am Montag war ich müde und depressiv gestimmt, so richtig in black and blue, und konnte mich nicht auf meine Arbeit konzent­rieren. Es gab ziemliche Aufregung wegen einer Herta Bernauer. Sie hatte die Firma beschissen, den Akkord überzogen und die Vorgabe geändert. Bei der Kontrolle der Stempelkarte war es auf­gefallen. Ob ich es nicht gesehen hätte. Natürlich hatte ich. Aus ei­ner drei eine Fünf, die dumme Frau, mit der Farbe eines anderen Kugelschreibers. An die gestempelte Zeit hatte ich nicht gedacht, als ich den Lohnschein ablegte. Herta Bernauer rauschte in wehen­dem Glockenrock an mir vorbei zu Herrn Burian. Als sie meine Neugierde bemerkte, drehte sie sich zu mir um. Blonde Lo­cken, ein trotziges Gesicht und ein Blick voller Verachtung aus grau­blauen Augen. Für sie musste ich der Scheißkerl sein, der sie hatte auffliegen lassen. Bei Büroschluss rügte Herr Burian mich. Ich würde doch