Nach dem Konzert blieben viele Leute an der Theke, davor und dahinter. Die aufregende Oma wollte Champagner. Den gab es hier nicht, auch keinen Sekt, nur Bier, das Königliche, und Schnäpse aus Äpfeln vom Bodensee und Trollinger Rotwein vom Neckar. Iker besorgte spanischen Schaumwein aus seiner Cantina. Die Oma hieß Hildrun von Hohenberg, erfuhr ich, sie stammte aus Ostpreußen, war von dort aber nicht mit einem Pferdefuhrwerk geflüchtet, als die Russen ins Land stürmten, um sich an verwundeten Landsern zu rächen und an Frauen und Kindern, sondern viel früher, in einem Maybach mit Chauffeur, und es war kein überstürzter Aufbruch in die Fremde gewesen, eher eine Heimkehr, in die Villa Schwanenburg am Rande des Schönbucher Waldes. Nach einer Flucht, wie sie Millionen Menschen erleiden mussten, wäre sie wohl keine solch attraktive Oma. Sie bezahlte alle Getränke, auch meine, obwohl die aufs Haus gingen. Ein junger Mann in einem dunklen Anzug mit Krawatte hielt ihr einen Pelzmantel zum Anziehen entgegen. Ihr Fahrer, erzählte man mir, als sie gegangen war, und viele andere mit ihr. Wir tranken den spanischen Schaumwein und Bier, und als sich nur noch eine kleine Gruppe um die Theke scharte, wollten wir mehr über das Angebot der Oma wissen. „Die Hochzeit findet nächsten Sonntag in ihrer Villa oben im Schönbuch statt“, bestätigte Horst Krohn. „Die bereits bestellte Kapelle wird Hildrun ausladen und euch stattdessen spielen lassen. Aber nur mit dem neuen Trompeter.“ Er schaute mich an. Und dann ging sein Blick an mir vorbei finster auf Nina, die sich stehend an mich geschmiegt hatte. Wir müssten am Nachmittag von vier bis um sechs spielen und am Abend ab acht bis um zwei Uhr in der Nacht. Bei der Gage hätten wir vierundzwanzig Stunden lang musiziert. Wir quatschten über das Wie und das Was, welche Kleidung, eine elektrische Verstärkeranlage wäre vielleicht nicht schlecht, und tranken noch ein paar Gläser dazu. Irgendwann saß ich mit einer Menge Leute in Ninas Wagen, alle betrunken und enthusiastisch gestimmt. Wir kurvten durch die nächtliche Stadt, brachten nacheinander die Freunde nach Hause, Mädchen und Jungen, ein kicherndes Paar, bis ich neben ihr allein war. Es ging ein paar Kurven die Weinsteige hinauf und dann links ab in eine schmale Straße. Im Schein der Straßenlaternen waren Gärten erkennbar und recht gediegene Häuser dahinter, wie mir schien. Nina hielt vor einem Gittertor und hieß mich, einen Hebel umzulegen und das Tor aufzuschieben, und fuhr das Auto den Weg hinauf.
Im Haus sah man von einem der Fenster auf das Lichtermeer der Stadt. Aber es war kalt in den Räumen. Nina schüttelte sich, um zu zeigen, wie unangenehm es ihr war. Von einem Bügel an der Garderobe griff sie nach einem hellen Wollmantel und zog ihn sich über, während wir ein großes Zimmer betraten. Sie schaltete zwei Stehlampen an. Das Wohnzimmer? Weißgetünchte Wände, sandfarbener Steinfußboden. Ein Salon? Oder ein Park? Palmen und Gummibäume in großen Kübeln, Schränke und Kommoden dazwischen, vielleicht aus Kirschholz, die mit Intarsien und Schnitzereien versehen, sehr alt sein mussten. In einer Wand war ein Bücherregal eingelassen. Die andere war ganz aus Glas mit einer Glastür daneben, die wohl in den Garten führte. In der Mitte des Raumes standen zwei hellblaubeige gemusterte Sofas und vier Sessel um einen niedrigen, runden Tisch aus Stein, aus Marmor?, auf einem schweren, roten Teppich. Nina ließ sich auf einem der Sofas nieder. Sie verschwand schier in der Polsterung. Fröstelnd zog sie den Mantel um sich zusammen. Mit ihrem Gesicht deutete sie auf die gegenüberliegende Wand. Dort war ein Kachelofen. Holz und Kohle lagen in schwarzsilbernen Gestellen bereit. Von einem Schemel griff ich nach einigen Blatt alter Zeitungen und nach dem Holz an der Seite des Ofens. Es brannte im Nu, einen warmen Geruch ausbreitend. Nach einigen Minuten die Kohle. Es dauerte eine Zeit, bis die Kacheln Wärme abstrahlten. Ich setzte mich zu Nina auf das Sofa. Sie zog mich an sich, schob ihre Hände unter meinen Pullover, unter mein Hemd, unter mein Unterhemd. Kalte Hände. In die nächtliche Stille bollerte das Feuer im Ofen. Ich bleibe so, bis mir warm geworden ist. Kalte Hände auf meiner Haut, die sich nach einer Weile zu bewegen begannen, um sich schneller zu erwärmen, über meine Haut strichen, auch mal hineinkniffen, mit den Fingernägeln kratzten… Wohnst du allein hier? Nein. Mit meinen Eltern. Sie sind aber nicht da. Den ganzen Winter nicht bis Ende Februar. In Los Cristianos haben sie ein Haus gemietet. Das ist ein Fischerdorf auf Teneriffa, eine Insel im Atlantischen Ozean. Die Hände streichelten, kniffen, kratzten, waren gar nicht mehr so kalt, eher meine Haut, Gänsehaut, gurren, gurren, und ihre Lippen auf meinen Lippen, und ihre Zunge in meinem Mund, und mir wurde heiß.
Sie ließ von mir ab, stand auf, ging zu dem Ofen und drückte ihren Rücken gegen die Kacheln. Hier ist es schön mollig. Sie zog ihre Schuhe aus. Auch der Fußboden hier ist schon warm. Komm. Fühl mal. Sie zog den Mantel aus. Ich war bei ihr, mit meinen Händen unter der dünnen Baumwolle auf seidigem Nylon und dann darunter auf ihrer Haut. Mädchen küssen und Brüste anfassen. Und was sie vielleicht sonst noch zuließen. Auch wollten. Alles aus Baumwolle wurde gehoben, gerupft, gezupft, davongezupft, und auch alles aus Nylon oder Seide mit und ohne Spitzen und aus Perlon mit den Strapsen daran… Sanft geschwungene Rundungen und alles elfenbeinfarbig, auch die Haare zwischen ihren Beinen, nur die Brustwarzen waren braun, auf anregenden Wölbungen. Ich hatte noch nie solch eine wohlgeformte Frau gesehen. Nicht im Kino. Nicht in einem Magazin. Nicht in einem Pornoheft. Und alles fühlte sich weich und trotzdem fest an ihr an. Nackt neben ihr kam ich mir vor wie ein knöchernes Gestell mit etwas Muskeln drum herum. Und der rote Teppich war flauschigdaunenweich. Te quiero, te quiero… Was heißt das? Ich liebe dich. Aber nicht wie im Deutschen. Es bedeutet eher, ich begehre dich. Und alles war anders als an der Brigach und im Grünen Baum.
Ich wachte am Geschrei von Krähen auf. Ein schüchterner Sonnenstrahl schien auf die gläserne Wand, und dahinter blinkten Regentropfen auf Ästen und faulenden Blättern, die noch nicht herabgefallen waren. Wir waren auf dem Teppich eingeschlafen. Nina in meinen Armen. Ich betrachtete sie. Am Morgen nach der Nacht war sie noch schöner. Ganz leicht ließen sich ihre Lippen mit meiner Zunge öffnen. Sie schmeckte bitter nach zu wenig Schlaf und Alkohol und Zigaretten. In ihrem Haar schnupperte ich Tabakrauch und in ihrem Gesicht und auf ihren Brüsten. Sie würde meine Freundin sein. Unfassbar mein Glück. Sie küssen, ihre Brüste anfassen und in ihr sein, und rechtzeitig wieder draußen. Auf dem roten Teppich waren Flecken.
Sie öffnete die Augen. Braune Augen, die mich liebevoll anschauten. Mit einem Seufzer befreite sie sich aus meinen Armen und drehte sich zur Seite. Ihr Blick blieb auf dem Fleck im Teppich haften. „Den muss ich nachher wegputzen“, murmelte sie und erhob sich. Ich konnte meine Augen nicht von ihr lassen, sog begierig auf, wie sie aufstand, durch den Raum schritt und wie in der Nacht sich mit dem Rücken an die Kacheln des Ofens lehnte. Sie mussten noch warm sein. Ein wunderschönes Mädchen. Eine liebevolle Frau. Ein verführerisches, nacktes Weib.
„Wenn du die Weinsteige hinuntergehst, kommt nach der ersten Kurve die Haltestelle. Die Tram fährt zum Hauptbahnhof, wo du umsteigen kannst.“
„Ja.“
Ich suchte meine Kleider zusammen. Sie blieb an den Kacheln und sah zu, wie ich mich anzog.
„Vergiss die Trompete nicht.“
„Nein.“
Ich versuchte, ihre reine Haut nicht mit meinem schmutzigen Mantel zu berühren. Wir küssten uns auf die Wangen.
Draußen schien inzwischen eine strahlend helle Sonne. Wie Diamanten glitzerten Tropfen im Geäst der Gärten. Aber auf dem Weg die Weinsteige hinunter tauchte ich in dichten Nebel, der über der
Stadt in dem Tal hing. Nach ein paar Schritten konnte ich kaum noch etwas sehen. Kein Auto fuhr vorbei, um mit Scheinwerfern ein paar Meter weit die Straße in die Stadt zu beleuchten, und auch keine Straßenbahn. So tastete ich mich am Bordstein entlang, fand nirgendwo eine Haltestelle, marschierte und marschierte. Der Nebel hob sich endlich etwas von dem Asphalt, als ich mich der Innenstadt näherte. Kalte Schleier in kahlen Bäumen und an grauen Mauern. You’ll be so sorry, when I’m away from you. Ein nacktes, begehrenswertes Weib. Nicht wie an der Brigach. Nicht wie im Grünen Baum. Ich war in der Innenstadt. Jetzt kam auch eine Straßenbahn vorbeigefahren. Vielleicht würde sie weiter vorne halten. Es war mir egal. Ich war schon viel weiter marschiert als bis zum Stuttgarter Hauptbahnhof und dann noch weiter bis in die Rötestraße, und hätte an diesem Sonntagmorgen auch bis an die Brigach marschieren