Das melancholische Timbre. Dietmar H. Melzer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dietmar H. Melzer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738014013
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V Party

      Nach der Arbeit ging ich nun noch lieber auf einen Schluck in die Cantina Guernica, um mit Iker zu quatschen, dem großen, blonden Spanier, der kein Spanier sein wollte. Warum nicht?

      „Weil Basken keine Spanier sind!“ Die Schwaben, die Sachsen, die Bayern, die Tiroler… Die wären alle Deutsche irgendwie. Aber doch nicht die Ungarn. Und die Kastilianer, die Andalusier, die Galizier, die Katalonier… Die wären eben alle Spanier irgendwie. Aber auf keinen Fall die Basken. Die sind immer ein eigenes Volk geblieben, trotz der Kelten, der Römer, der Vandalen, der Goten… Iker erzählte auch, Jean Christian habe bestimmt, dass der Trom­peter Peter Wegner freitags im Jazzkeller spielen sollte und ich samstags. Und ich sollte alle Stücke aufschreiben, die ich spielen konnte, auch wegen der GEMA; der man das alles melden musste, damit die Komponisten ihr Honorar bekämen, und es wäre ganz gut, wenn ich mittwochs zum Proben in den Keller kommen könnte. Klaus Beckstein würde mich diesen Mittwoch um sieben Uhr abholen, ob das bei mir so früh ginge, man würde alle Stücke besprechen und die Arrangements festlegen und proben, die man auf der Hochzeit spielen wollte. Hildrun erwarte Blues und Chica­goer Jatss. Das würde sie ja bekommen. An dem Samstag vor der Feier würden wir aber nur bis elf spielen, damit wir am Sonntag ausgeruht wären. Und Iker erzählte auch, dass das Haus und der Keller darunter Horst Krohn gehörte: Und die Cantina Guernica eigentlich auch.

      Am Mittwoch ging ich nach der Arbeit also gleich nach Hause und wartete auf den Schlagzeuger. Kurz vor sieben klopfte es an mei­ner Tür. Frau Neumeier mit offenen Haaren, kastanienfarben mit grauen Strähnen, in einem schimmernden Kleid, kastanienfarben mit silbernen Streifen und arg kurz für eine Vermieterin, die ein ordentliches Haus mit gesitteten Bewohnern führen wollte. Die fe­sche Olga. So wie sie aussah, und mit dem Dekolletee, hätte sie auch meinen Jahrgang verrückt machen können. Ich verbiss mir die Bemerkung natürlich. Frau Neumeier konnte so etwas zu mir sagen. Von mir wäre es Spott oder eine Unverschämtheit gewesen. Sie strahlte mich an. Unten wartet ein junger Mann auf Sie. Vielen Dank. Ich strahlte zurück.

      Klaus Beckstein saß am Steuer jenes Opels mit dem schrägen Rü­cken.

      „Dein Auto?“

      „Nein. Gehört dem Horst.“

      Was gehörte dem noch alles?„Jean Christian meint, es sei ein Glück für die Band, dass du zu uns gestoßen bist. Wir hätten nun andere Möglichkeiten. Internationale Chancen…“

      „Internationale Chancen? Wie meint er das?“

      „Keine Ahnung. Ein Auftritt in Frankreich vielleicht. Jean Chris­tian ist ja ein richtiger Musiker. Hat Musik studiert in Karlsruhe und in Paris. Hat er mal erwähnt. Vielleicht hat er von da her noch Beziehungen.“

      „Und der andere Trompeter? Peter Wegner?“

      „Peter spielt noch nicht so lange, und er ist froh, wenigstens frei­tags mit der Band musizieren zu können. Das wird ihm auf jeden Fall helfen, weiter zu kommen.“

      „Keine Eifersucht? Eitel Sonnenschein überall?“

      Klaus lachte. „Du wirst ja sehen.“ Wir bogen in die Rotebühlstraße ein. Er habe erst im April seine kaufmännische Lehre abgeschlos­sen, erzählte er, in einer recht großen Firma, die alles mögliche elektrisches Zeugs herstelle, und er sei in dem Bereich tätig, der Zündkerzen für Autos produziere. Ein ganz sicherer Arbeitsplatz in der Auftragsbearbeitung. Autos werde es ja immer geben. Aber er ließe die Stelle sausen, wenn es mit der Musik eine internationale Dingsda… Wenn er mit dem Schlagzeug Geld verdienen könnte. Ich sah zu, wie er aufmerksam auf die Straße schaute, das Fahr­zeug lenkte, und doch auf träumerische Art vor sich hinlächelte. Ein kleines, blondes Kerlchen mit blauen Augen. Mit Musik konnte man gelegentlich ganz gut zu Geld kommen, im Fasching mit Rosamunde und Wer soll das bezahlen. Aber das ganze Jahr über und dann mit Jatss?

      An diesem Abend war Jean Christian kein Ragtime klimpernder Barmusiker oder ein romantisch verspielter Jazzpianist, sondernein übler Pauker, der uns einzubläuen versuchte, wie unsere Musik auf der Hochzeit zu klingen habe. Stücke mit der Trompete über dem geblasenen Satz von Posaune und Klarinette kamen mir wohl entgegen, aber er wollte alle einmal geprobt haben, und wenn die Klarinette ausbrach oder ich mich verhaspelte, mussten wir die Passage wiederholen. Nicht nur ein Mal. Und dann waren ihm meine Läufe nicht elegant genug. Die musste ich auch wiederho­len. Nicht nur einmal. Am Ende hatte ich wunde Lippen und zwei­felte, am Sonntag überhaupt mitmachen zu können. Jean Christian ein Schinder! Ein unerbittlicher!

      „Was machst du sonst so?“

      „Wie?“

      „Wenn du keine Musik machst.“

      „Isch machche immer Müsike.“

      „Franzose?“

      „Oui, monsieur.“

      „Und warum in Stuttgart?“

      „Abgehauen aus Berlin.“

      „Berlin ist nicht gerade Frankreich.“

      „Ein wenig schon. Ein außergewöhnliches Département, gewiss, der Oberbürgermeister untersteht nicht nur dem französischen Stadtkommandanten, sondern auch dem amerikanischen und dem britischen.“ Er grinste breit. „Ick bin och en Balina.“ Die Sprache der Eingeborenen von Trizonesien hatte er gut gelernt. Obwohl Berlin tatsächlich nicht ganz dazu gehörte. „Ich bin in Berlin auf­gewachsen.“, sagte er. Sein Gesicht wurde ernst. „Mein Vater liebt die Deutschen und ist stolz, dass er sie in Berlin vor den Sowjets schützen darf.“

      „Glaubst du, er könnte es im Ernstfall?“„In einem neuen Krieg? Sinnlos. Das weißt du so gut wie ich. Mit der Munition, die unseren Generälen zur Verfügung steht, wäre Europa nach deren Einsatz nicht mal mehr ein Ruinenfeld, und im Rest unserer Welt wäre menschliches Leben nirgendwo lebenswert. Jeder Soldat, ob im Ostblock oder in der NATO, müsste jeden Tag daran denken.“ Er trommelte nervös mit den Fingern auf dem Deckel des Klaviers. „Ich hätte auch in die Armee eintreten und Offizier werden sollen. Sinnlos. Sinnlos, wie es immer war, ob Legionär, Landsknecht oder Sansculotte für die Gloire de la Patrie. Nie ist einer von denen für Volk und Vaterland verreckt oder für die Freiheit, sondern immer nur für den König oder für den Kaiser. Für Glanz und Gloria der Herrschenden. Auf keinen Fall wollte ich da mitmachen. Also habe ich nach dem Abitur meine Eltern ver­lassen. Ehrenwerte, aufrechte Leute in Berlin, die glauben, mit Atombomben die Freiheit zu retten. Meine Mutter steckt mir re­gelmäßig etwas Geld zu. Das Musikstudium hat mir Onkel Augus­tin finanziert. Der versteht mich. Mit dem kannst du gut diskutie­ren über Freiheit und unnütze, gesellschaftliche Zwänge. Die Ehe bedeutet für ihn zum Beispiel Freiheitsberaubung. Wenn Frauen und Männer wirklich gleichberechtigt wären, müssten sie auch von Fall zu Fall entscheiden dürfen, wann und mit wem sie lieben möchten. Tonton lebt in Juan-les-Pins, in Südfrankreich. Einen Anarchisten hat man ihn schon geschimpft. Dabei hat Freisein mit Anarchie nichts zu tun…“

      In der Probe hatte Jean Christian uns gerade Freiheiten genommen. Um keine anarchische Musik zu bieten? In der Musik konnte es ei­gentlich keine Anarchie geben, weil sie an Tonleitern und Harmo­nien gebunden war. Das hatte ich damals geglaubt. Und auch in der Liebe, wenn man einmal einander den Körper und die Seele preisgegeben hatte, müsste eine Frau einem Mann für immer gehö­ren und ein Mann für immer einer Frau. Eigentlich.

      Am Samstag war nicht viel Publikum im Jatsskähr, weil wir nur bis um elf spielen wollten. Wir trugen die Stücke vor, die Jean Christian für schwierig hielt. Es war eine gelungene Generalprobe, trotz einiger Patzer, die aber im Jazzclub nicht auffielen. So stiegen wir am Sonntag Nachmittag ausgeruht mit unseren Instrumenten in drei Autos, Trommeln und Becken des Schlagzeuges passten in Kofferraum und Rücksitz eines Rekords, der Bass füllte den Innen­raum eines Mercedes und ich kam im VW Käfer Jürgen Hersfelds unter. Wir fuhren auf der Bundesstraße nach Böblingen und bogen dort in eine Landstraße Richtung Weil ab. Kurz vor Schaichhof ging es auf einem Feldweg weiter über eine Wiese an einem Bach entlang in einen lichten Wald. Die Villa Schwanenburg, inmitten eines herbstlich verwilderten Gartens um einen silbern blinkenden Teich, kam mir wie ein verwunschenes Schloss vor.