Was Said in diesem Gottesdienst sah, war anders als der Ritus, den er in heiligen Nächten seines Glaubens praktizierte. Auch verstand er nicht, warum Jesus, den er als Gesandten Gottes kennengelernt hatte, als Gottessohn verehrt wurde. Was er jedoch verstand, war der Zusammenhalt der Menschen, die die anderen so respektierten, wie sie waren. Das war eben auch der Schlüssel für die Entstehung seiner großen Familie, die er sein Wohnviertel nannte.
Gegen Nachmittag kamen sie wieder in ihrem Viertel an und schritten über den Marktplatz. Said bemerkte seinen Großvater, der sich zu Samis Kaffeehaus begab, verabschiedete sich von Eleftheria und Hagop und folgte Halil Agha. Sein Großvater drückte in letzter Zeit bei seinem Enkel ein Auge zu, wenn er das Kaffeehaus betrat. Sein kleiner Said zählte inzwischen vierzehn Jahre und durfte sich zu den alten Männern in diesem Vergnügungshaus gesellen.
Der Eingangsbereich des Kaffeehauses, der auch Mittelraum genannt wurde, bestand aus einer Fläche, die eine Größe von zwanzig Fuß im Quadrat besaß und von Sitzflächen umsäumt war. Diese waren vier Fuß hoch. Hier genossen die eiligen Gäste ihren Kaffee, während die Sitzflächen im Kernbereich, der dem Mittelraum ähnelte, um einen Springbrunnen aufgereiht waren. Beim Plätschern des Wassers aus dem Brunnen genossen die Kunden, die für längere Unterhaltungen Zeit mitbrachten, neben Kaffee auch ihre Wasserpfeifen. Sie hatten genügend Zeit für längere Unterhaltungen mitgebracht. Gegenüber der Theke führte eine Holzleiter auf eine söllerartige Sitzplattform, die Platz für zwanzig Genießer bot.
Halil Agha saß meistens auf diesem höher gelegenen Balkon und vertrieb sich seine Zeit mit Gleichgesinnten. Said stieg zum ersten Mal auf diese Fläche, nahm neben seinem Großvater Platz und betrachtete die Kunden von oben.
„Na gefällt dir dieser Ort, Said?“, fragte ihn Halil Agha.
„Ja, sehr. Aber es ist niemand außer uns beiden da“, beklagte sich Said.
„Sie werden alle gleich kommen“, beruhigte ihn sein Großvater.
„Wen meinst du mit alle, Großvater?“, fragte Said.
„Alle, die heute auf die Geschichte warten, die ich erzählen werde“, sagte Halil Agha.
„Du erzählst auch hier deine Geschichten? Ähnlich wie zu Hause?“, bohrte Said nach.
„Ja, mein Lieber. Du weißt ja, dein Großvater hat viel zu erzählen“, entgegnete ihm Halil Agha, der inzwischen vierundsiebzig Jahre auf dem Buckel hatte und viel erlebt hatte. Seine Geschichten waren, im Gegensatz zu denen, die andere erzählten, keine Legenden. Andere erzählten von den Epen des Gilgamesch oder Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Er jedoch war ein Kämpfer im Auftrag seines Sultans gewesen und erzählte aus seinem eigenen Leben.
„Ist der Herodot schon da?“, hörte Said eine Stimme von unten. Es war ein Mann mittleren Alters.
„Großvater, wer ist denn hier Herodot?“, wollte Said wissen, da er keinen Herodot kannte.
„Ich, mein Sohn“, sagte Halil Agha.
„Aber so heißt du doch nicht“, widersprach ihm Said.
„Sie nennen mich nur so, weil ich hier die meisten und auch die spannendsten Geschichten erzähle. Herodot war ein griechischer Geschichtenschreiber und -erzähler, der vor über zweitausend Jahren gelebt hat“, klärte ihn Halil Agha auf.
„Ach so ist das“, staunte Said.
Der Mann, der nach Herodot gefragt hatte, stieg die Leiter hoch, grüßte Halil Agha und fragte nach Said, wer er sei.
„Mein Enkel Said“, stellte Halil Agha Said vor.
Nachdem der Mann auch Said begrüßte, erschienen Hüseyin, der Schreiner und David im Mittelraum des Kaffeehauses, denen Said von oben zuwinkte. Sie eilten zu ihnen hoch und setzten sich auf die Diwane, die der Bequemlichkeit der Gäste Samis dienten. Auch Hagop kam an diesem Nachmittag zusammen mit seinem Vater Garbis und mit Lisias, die neben Halil Agha aufrückten.
Am späten Nachmittag gab der Balkon keinen einzigen freien Platz mehr her und auch unten um den Springbrunnen saßen Menschen, die alle gespannt auf die heutige Geschichte von Halil Agha warteten. Said entdeckte Mersed in der Menge, und auch Betim, der seit einiger Zeit das Kaffeehaus ohne Begleitung besuchte, gesellte sich dazu und setzte sich ins Sichtfeld von Said, der zur Rechten seines Großvaters saß. Vorher tranken die Anwesenden schnell ihren letzten Schluck Kaffee, damit sie zum einen beim Schlürfen nicht die Geschichte störten, zum anderen aus Respekt gegenüber Garbis und Lisias. Diese bedienten sich nicht, weil die orthodoxen Christen heute fasteten.
„Seid willkommen, meine Freunde“, begrüßte Halil Agha die Anwesenden und honorierte Garbis und Lisias an diesem Tag besonders.
„Unsere Freunde feiern heute den Karfreitag und ich gratuliere ihnen beiden herzlichst.“ Die anderen folgten seinem Beispiel und sprachen ihre Glückwünsche aus, die Garbis und Lisias dankend entgegennahmen.
„Meine Freunde, heute erzähle ich euch von einem Vorfall, der sich vor gut vierzig Jahren ereignet hat“, fing Halil Agha zu erzählen an.
„Der Hauptdarsteller bist wieder einmal du, nicht wahr?“, kam eine Frage von einem der Zuhörer, und einige schmunzelten, weil von Halil Agha nichts anderes zu erwarten war.
„Sicher“, sagte Halil Agha und fuhr fort: „Unser Reich verfiel, weil eine große Last die Hauptstadt plagte. Der Sultan wurde in die Enge getrieben und war nicht mehr handlungsfähig. Seine Wesire wurden nacheinander enthauptet, weil dies eine Gruppe von Frevlern forderte. Mit der Unterstützung vieler persischer Spitzel, die im Land weilten und zum Tumult anstifteten, erhoben sich auch viele Janitscharen, die unter meinem Kommando standen. Sie revoltierten gegen ihren Vorgesetzten und stürzten ihren Suppenkessel um. Wie ihr alle wisst, bekundet ein Janitschar seine Unzufriedenheit gegenüber der Hohen Pforte, indem er seine Suppe aus dem Kessel verweigert. Wenn sie ihn jedoch umstürzen, dann erklären sie den Krieg. So kam es auch, und diese Rebellen waren nicht mehr zu bändigen. Angeführt wurde der Frevel von dem berühmten Patrona, der mit seinen Genossen Yanaki und Muslu Besche den Aufstand anführte. Sie gehörten nicht unserer Armee an, aber rührten die Soldaten auf. Sie behaupteten, der Großwesir habe die Treue gegenüber seinem Herren verletzt, und warfen ihm Korruption vor. Unter diesem Vorwand suchten sie eine Gerechtigkeit, die sie mit einem Aufruhr nie hätten erreichen können. Denn sie taten dem Volk großes Unrecht, weil sie dessen Hab und Gut plünderten und sogar Menschen umbrachten.“
Halil Agha ereiferte sich in seinem Vortrag so, dass er mehrmals tief Luft holen musste. Er hatte den Aufstand wieder vor Augen, empfand seine Gegenwart und machte ein trauriges Gesicht.
„Erzähl weiter, Halil Agha“, sagte eine Stimme.
„Wir hören dir aufmerksam zu“, mischte sich auch Garbis ins Wort ein. Halil Agha erzählte schluchzend weiter:
„Sie schändeten meine Geliebte, die ich zu meiner Frau machen wollte, und töteten sie. Sie hieß Dilruba. An jenem Tag schwor ich Rache. Ich wollte Patrona den Kopf vom Rumpf trennen.“
„Geschieht ihm recht“, unterbrach ihn Hüseyin.
„Sie marodierten wochenlang auf den Straßen Istanbuls. Keiner konnte ihnen Einhalt gebieten. Sie versprachen dem Sultan, ihre Untaten zu beenden, wenn der Großwesir ermordet würde. Dem kam der Sultan nach. Aber sie brachen ihr Wort und forderten schließlich den Kopf des Sultans. Unser Sultan musste notgedrungen abdanken. Er wurde zusammen mit seiner Familie im Topkapi-Palast eingesperrt, wo er nach sechs Jahren in Gefangenschaft starb. Der neue Sultan strickte einen Plan, um diese Schmach zu überwinden: Er lockte die drei Anführer des Aufstands in den Palast und versprach ihnen hohe Ränge im Reich. Patrona sollte Großadmiral werden, Muslu Besche der Janitscharen-Agha und Yanaki der Gospodar von Moldawien. Dieser Plan funktionierte: Die drei kamen in den Palast. Ich versteckte mich im Beschneidungsraum hinter einem Vorhang und sah Patrona alleine den Raum betreten. Ich trat hervor und zog meinen Säbel aus der Scheide, der er mit seinem Jatagan-Schwert entgegnete. Unermüdlich kämpfte ich gegen ihn und fand schließlich