Oben angekommen durchwühlte er leise die Dachkammer nach der Beute, die sie gemacht hatten. Wo mochte Betim sie wohl versteckt haben? Es kam ihm vor, als suche er eine Nadel im Heuhaufen. Ab und zu spähte er nach unten, um sicher zu gehen, dass niemand früher als gewohnt nach Hause kam. Zudem musste er zu Hause sein, bevor sein Onkel und natürlich auch seine eigenen Eltern kamen. Allmählich schwanden seine Hoffnungen und er dachte ans Gehen. Plötzlich fielen ihm die Geräusche ein, die er an jenem Abend aus dieser Kammer gehört hatte. Es waren Schläge mit einem Stein oder einem ähnlich festen Körper gewesen. Hatte er etwas zugemauert oder etwa versperrt? Mersed schaute sich schnell nach einer Zange um, die er in der Werkzeugkiste seines Großvaters fand. Wenn sein Schicksal es gut mit ihm meinte, dann würde er das Versteck schon finden. Dafür wollte er jede Holzplanken einzeln überprüfen und die Nägel herausziehen. Nach einer Weile stand er mitten in einer großen Baustelle mit vielen lose liegenden Holzplanken um sich herum. Er besann sich an den Tag, an dem er mit Said den Schreiner Hüseyin in seinem Laden besucht hatte, und wofür dieser seine Utensilien brauchte. Hüseyin hatte den beiden Cousins erklärt, wie er beim Hämmern ein Filztuch verwendete, um kein Lärm zu erzeugen, der seine Nachbarn gestört hätte. Mersed fand in einer Kiste Reste von Filz und bediente sich. Bevor er die Nägel wieder in die Planken schlug, hielt er den Filzrest auf die Schlagfläche davor und hielt ihn fest. Anschließend nagelte er die entfernten Planken wieder fest und zog mit der Zange seines Großvaters die Nägel weiterer Planken. Es verging eine volle Stunde und jederzeit könnte er erwischt werden. Die dritte Planke hinter der großen Holzstrebe, die den Dachstuhl trug, gab ihm endlich das, was er sich wünschte. Als er sie herausnahm, lag darunter der Beutel, er schnürte ihn auf und erblickte die Goldmünzen, die einst der Stiftung gehört hatten. Ohne zu zögern, füllte er die Hälfte des Geldes nach Augenmaß in einen zweiten Beutel, den er mitgebracht hatte, und versiegelte mit hastigen Handbewegungen und zittrigen Händen die Öffnung im Boden. Plötzlich vernahm er von unten das Quietschen einer Tür im Obergeschoss und verschloss rasch die Dachbodenklappe, damit niemand Verdacht schöpfte. Als sich das Geräusch nicht wiederholte, hob er den Deckel leicht hoch und spähte in den Korridor. War es ihm mit Betim in der Stiftung nicht ähnlich ergangen, als die dunkle Gestalt ihren Rundgang gemacht und sie fast erwischt hatte? Mersed sah keine Menschenseele und hörte keinen Ton. Vorsichtig öffnete er die Klappe, steckte seinen Anteil unter seinen Gürtel und stieg die Leiter hinunter. Aus dem Vorbereitungsraum überraschte ihn eine Katze, die fauchend in den Korridor und von da aus in die Mittelhalle flitzte. Mersed erschrak durch diese plötzliche Bewegung des Tieres und fiel auf den Boden. Was hatte wohl diese Katze im Konak zu suchen? Sie gehörte nicht seinem Onkel, auch wenn er ein Tierliebhaber war. War das ein Zeichen für Mersed, das ihn seiner Untat wegen ermahnte? Langsam stand er auf, vertrieb diese abergläubischen Gedanken und wandte sich der Treppe zu.
„Ich kriege heute Abend einfach keine Ruhe“, brummte Betim im Hof und kam auf die Treppe zu. Hastig suchte Mersed nach einem Unterschlupf, um von Betim nicht gesehen zu werden. Wieso kam er so schnell wieder zurück? Er musste auch draußen einen Zank mit jemandem gehabt haben. Mersed floh wieder auf den Dachboden, denn Betim konnte im Konak in jedes Zimmer gehen, aber was hätte er um diese Zeit auf dem Dachboden gewollt? Er stieg die Leiter wieder hoch und hielt sich so lange oben auf, bis die Luft unten wieder rein war. Dabei versuchte er von oben zu verfolgen, womit sich Betim gerade beschäftigte. Als er von ihm nichts mehr hörte, öffnete er die Luke, kletterte die Leiter hinunter und machte sie vorsichtig wieder zu. Auf Zehenspitzen wandte er sich zur Treppe und blickte in die Mittelhalle. Betim lag mit dem Gesicht zum Fenster und bekam nichts von seinem Eindringen mit.
„Du hältst mir meinen Anteil vor, aber ich nehme ihn mir trotzdem, du Schlafmütze. Träum weiter von deiner Zukunft“, lachte Mersed in sich hinein und ging von dannen, um ähnlich wie Betim sein eigenes Versteck auf dem Dachboden ihres Konaks zu basteln.
Seine Eltern und seine Schwester waren nicht zu Hause. Das Schicksal meinte es heute einfach gut mit ihm. Es ging alles wie geschmiert. Aber die Umsetzung seines Planes verlief sehr mühevoll. Doch wenn man auf dieser Welt etwas erreichen wollte, dann musste man dafür etwas opfern. Sein Vater pflegte einst zu sagen, das Geld verdiene man nicht so einfach. Es koste einen Schweißperlen auf der Stirn. Mersed strich mit seiner Hand über die Stirn, wischte den Schweiß ab und gab seinem Vater Recht.
Kapitel 12
Wieder einmal wich die eisige Kälte des Winters einer kühlen, aber erfrischenden Brise des Frühjahrs. Die Stadt nahm erneut eine grüne Tönung an. Vögel zwitscherten wieder am Himmel und auf den Ästen, und die verlassenen Straßen wurden mit den herumtollenden Kindern lebendiger. Nicht nur die neue Jahreszeit sorgte für diese Stimmung, die auch im Viertel erkennbar war, sondern auch die Festtage, die die Menschen freudvoller werden ließen. Muslime hatten vor einigen Wochen ihr Neujahr gefeiert und die Aschura-Suppe gekocht. Sie teilten sie mit ihren Nachbarn, als Andenken an den Propheten Noah. Dieser hatte auf seiner Arche den noch übriggebliebenen Proviant in einem großen Kessel zu eben jener Suppe zusammengerührt. Die Mischung bestand aus Bohnen, Kichererbsen, Weizen, Reis, Rosinen, Mandeln und weiteren Zutaten. Die verschiedenartigen Aromen vermischten sich und vereinten sich zu einem wunderbaren Geschmack.
Im Viertel lebten neben den Muslimen auch Orthodoxe, Katholiken und Juden, die anders glaubten, aber in dieser Gesellschaft, wie es auch diese Suppe symbolisierte, zu einem einzigen Gemeinwesen zusammenwuchsen. So ließ sich aus der Verschiedenheit eine Gemeinsamkeit bilden.
An diesem Freitag dagegen feierten die Christen eines ihrer größten religiösen Feste und bereiteten sich für die Morgenmesse vor. Adil Bey, der seinen freien Tag genoss und nicht den Weg in den Palast einschlagen musste, hatte sich bereits gestern mit Garbis und Lisias verabredet, um dem Karfreitags-Gottesdienst in der Surp-Sarkis-Kirche beizuwohnen. Vor Jahren besuchte sein Bruder Ibrahim die Kirche und wurde Zeuge der großen Wasserweihe. Er erzählte seinem Bruder, wie viel diese gegenseitigen Besuche für die Verständigung der Andersgläubigen bewirkten. Garbis lud ihn auch zur Akoluthia der heiligen Leiden am Vorabend ein, mit der die Osterfeierlichkeiten der Ostkirche begannen. Vor der Huldigung des Kreuzestodes Jesu sollten nämlich in der Gemeinde aus den zwölf Evangelien gelesen und verschiedene Liturgien angestimmt werden. Aber Adil Bey entschuldigte sich bei seinem Nachbarn, er könne leider nicht kommen, weil er erst gegen Abend vom Dienst kam und dann sehr erschöpft sein würde.
Afife weckte neben Betim auch Said früh auf, damit er sein Versprechen Eleftheria gegenüber einlösen und sie zur Kirche begleiten konnte. Auch er war, wie sein Onkel, interessiert an den Riten und Messen ihrer Nachbarn, und wartete nicht auf eine Einladung, um den Gottesdienst zu erleben. Er zog seine feinsten Kleider an, doch Betim würdigte er keines Blickes. Ihm gegenüber empfand er einen immer größer werdenden Unmut und wartete sehnlich auf seinen Auszug aus ihrem Konak. Er eilte zu seinem Onkel. Als er gerade an der Tür klopfen wollte, ging die Tür des Konaks auf. Adil Bey erschien auf der Schwelle und grüßte seinen Neffen.
„Guten Morgen, Onkel“, erwiderte Said den Gruß Adil Beys.
„Du bist schon wach. Aber heute ist Freitag und du musst nicht in die Schule“, scherzte Adil Bey.
„Ich weiß Onkel. Ich wollte nur den Gottesdienst besuchen und habe von meiner Mutter erfahren, dass du auch hingehst. Ich komme mit.“
„Das ist sehr erfreulich. Ich wünschte, Mersed wäre auch begeistert von irgendetwas. Der hütet noch das Bett und zeigt kein Interesse“, erwiderte ihm sein Onkel.
In diesem Moment bogen Eleftheria und Hagop mit ihren Familien um die Ecke, an der der Konak von Adil Bey stand.
„Hallo Said“, grüßte Eleftheria als erste und sah tief in seine Augen.
„Hallo Eleftheria“, sagte Said und grüßte anschließend die anderen. Nachdem auch Adil Bey seinen Nachbarn einen guten Morgen gewünscht hatte, gingen sie gemeinsam über den Marktplatz in die Kirche.
Wieder einmal war die Kirche überfüllt von Gläubigen, die an den königlichen Stunden teilnahmen. Flankiert von seinen Subdiakonen und Pater Varujan leitete Vater Krikor am Altar die Messe vor der zum Bosporus zeigenden Apsiswand, an der Sänger und Ministranten aufgereiht