Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen.
Verehrter Müderris, Ibrahim Efendi. Nach meinen Erkundungen über den Naib, der Sie und Garbis Efendi vor einiger Zeit verhörte, und wie Sie sich äußerten, auch folterte, habe ich meine Ermittlungen abgeschlossen. Es ist erwiesen, dass die Person, die sich als Naib ausgab, in Wirklichkeit ein Schwindler war, der auch in anderen Vierteln ähnliche Rechtswidrigkeiten begangen haben soll. Er handele bereits seit Jahren im Namen unseres Reiches und des Sultans. Vor zwei Tagen soll er im Stadtteil Eyüp bei der Versiegelung eines Scheidungsaktes aufgespürt und festgenommen worden sein.
Des Weiteren möchte ich Ihnen die erfreuliche Nachricht übermitteln, dass Ihr Antrag zum Amt des Naibs vom Kadi von Istanbul (auch Bürgermeister) bewilligt worden ist. Sie können in den nächsten Wochen ihren Lehrstuhl an der Hochschule abgeben und sich für den Einführungsdienst vorbereiten. Über den Bezirk, in dem Sie eingesetzt werden, bekommen Sie in den nächsten Wochen ein weiteres Schreiben von mir. Der Palast wird erst seine Entscheidung treffen müssen.
Hochachtungsvoll
Kadi von Galata
Das Schreiben erzeugte bei Halil Agha ein mulmiges Gefühl. Er freute sich zum einen über das Richteramt seines Sohnes, zum anderen suchte er Trost für dessen Abwesenheit. Er wusste, was eine Einführung in dieses Amt bedeutete. Der Balkan oder der Nahe Osten würde die neue Heimat seines Sohnes sein. Erst nach vier Jahren sollte er wieder in die Hauptstadt zurückbeordert werden, jedoch aus dem Grund, ihn in anderen Provinzen und Bezirken einzusetzen. Für Afife und die Kinder würde es keine einfache Entscheidung sein. Doch für das Wohl der Allgemeinheit opferte sein Sohn sich und seine Familie. Sollte er als Vater ihn doch noch überreden und ihn von dieser Entscheidung abbringen? Er wusste es nicht. Er wusste aber, dass er seiner Schwiegertochter nichts von dieser Zustimmung erzählen würde. Er erzählte ihr nur vom ersten Teil des Schreibens über den falschen Naib. Den Rest wollte er später beim Abendessen im Konak von Adil Bey ansprechen.
***
Adil Bey, der sich mit dreiunddreißig Jahren sechs Sprachen bediente, schleppte sich nachmittags erschöpft nach Hause. Die Länder, mit denen das Osmanische Reich kurz vor einem Krieg stand, sandten ihre Botschafter an die Hohe Pforte, um diplomatische Gespräche zu führen. Sie waren auf die Übersetzungen Adil Beys im Diwan des Sultans angewiesen. Ihr Reich war an einem Krieg genauso wenig interessiert, weil das Militär in den letzten Jahren sehr undiszipliniert wirkte und auch die Waffen, die sie im Krieg einsetzten, veraltet waren.
An Fasttagen wie diesem machte die Diplomatie keine Ausnahme, und Adil Bey war an diesem Tag wieder knapp zum Abendessen erschienen, zu dem Ibrahim und seine Familie eingeladen waren.
Das Schreiben des Kadis in seinen Saum gesteckt, berichtete Halil Agha über dessen Inhalt. Er verkündete zunächst den ersten Teil des Schreibens und verschwieg den Rest, den er lieber nach dem Essen ansprechen wollte.
„Das ist sehr erfreulich, dass so ein Schwindler gefasst ist“, bemerkte Adil Bey. Auch Nadire und Afife bekundeten ihre Freude. Nach dem Essen machten sie es sich auf dem Diwan in der Mittelhalle gemütlich, die ähnlich wie im Konak Ibrahims ausgestattet war, und genossen heißen Kaffee. Mit sichtbarer Besorgnis im Gesicht schnitt Halil Agha das zweite Thema an und sprach von der Bewilligung des Antrages seines Sohnes.
„Das ist ja herrlich, Vater“, freute sich Ibrahim, ohne die Reaktion der anderen abzuwarten. Er dachte, Afife würde sich auch freuen, dass er ein neues, zudem höheres Amt bekleiden würde als jetzt. Adil Bey meldete sich zu Wort
„Aber für die Einführungsphase musst du doch vier Jahre in einem anderen Bezirk verbringen.“
„In der Tat. Aber das muss ich in Kauf nehmen“, entgegnete ihm Ibrahim.
„Musst du das unbedingt?“, fragten Said und Destegül ihren Vater voller Wehmut.
„Ja Kinder, für das Wohl unserer Gesellschaft“, sagte Ibrahim.
„Uns geht es doch gut. Haben wir etwas zu beklagen, dass du für vier Jahre fortgehen musst?“, fragte Said sodann.
„Denk doch an die Schwindler, die den Staat unterwandern und im Namen des Staates handeln. Was wird aus dem Rechtswesen, wenn wir seriöse Menschen nichts für dessen Aufrechterhaltung tun?“, wollte Ibrahim wissen.
„Ja ja, Bruder, der Naib ist zwar ein Beispiel dafür, aber denk doch mal an deine Familie. Du hast zwei Kinder“, protestierte Adil Bey erneut.
„Ich tue es für meine Familie, Bruder.“
„Wie denn, wenn du doch fortgehst?“
„Neulich habe ich von der Gerechtigkeit erzählt. Und dass diese das größte Gemeingut ist. Warum heißt der höchste Turm des Topkapi-Palastes ‚Turm der Gerechtigkeit‘? Weil die Gerechtigkeit das höchste Gut in unserem Land ist. Nehmen wir mal an, nicht nur der Naib, sondern der Kadi von Galata wäre auch so ein Schwindler. Glaubt ihr, dass Said und Destegül ihren Vater in zwei Tagen wiedersehen würden?“, fragte Ibrahim und fuhr fort:
„Wo kämen wir hin, wenn sogar der Kadi von Istanbul, ja sogar die Wesire und der Sultan nicht Gerechtigkeit walten lassen würden? Was würde aus Said und Destegül? - Es gibt Tausende von Saids, Destegüls, Merseds, Hayrunnisas und Dilrubas in unserem Land, die alle danach streben, dass ihren Eltern und ihnen selbst kein Unrecht angetan wird. Dafür muss sich jemand opfern und die vier Jahre in Kauf nehmen. Wer, wenn nicht ich, könnte so ein Amt bekleiden? Ich besitze die Grundlagen und muss euch nur für vier Jahre verlassen.“
„Ich hatte ja von Anfang an nichts gegen deinen neuen Dienst, Ibrahim Efendi“, mischte sich Betim ein. „Außerdem ist der Balkan kein schlechter Ort. Ich komme aus der Gegend. Es ist genauso wie hier.“
Ibrahims Predigt ließ die Familie umdenken, und so stimmten sie seiner Entscheidung, wenn auch misstrauisch, zu. Nur Afife ging an diesem Abend mit gemischten Gefühlen in die Moschee, um das Nachtgebet mit den anderen zu verrichten.
Der Marktplatz tobte an diesen Tagen. Die kostümierten Volksschauspieler und Meddahs amüsierten die Kinder nachmittags mit ihren lustigen Vorführungen. Die Passanten hatten ebenfalls teil an diesen Attraktionen. Während Said mit Eleftheria und Hagop den Schauspielen zusah, lud Ibrahim die Männer des Viertels ins Kaffehaus ein, um ihnen von seiner Entscheidung zu berichten. Neben Sami als Besitzer saßen Garbis, Lisias, David, Hüseyin und Salih Hodscha auf Schemeln und hörten Ibrahim gespannt zu. Emrullah, der für das abendliche Fastenmahl seiner Kundschaft mit frischen Fodlas nachkommen musste, war der einzige, der fehlte. Die Nichtmuslime tranken an Ramadantagen aus Respekt gegenüber ihren muslimischen Nachbarn nie öffentlich einen Kaffee oder verzehrten Nahrung. Ähnlich ging es ihnen an Ostern: Wenn viele Christen fasteten, aßen und tranken die Muslime heimlich.
„In deinem Namen freue ich mich über diese Einwilligung, Ibrahim. Aber wird es nicht schwer für deine Familie sein?“, fragte Garbis.
„Schon. Aber ich lasse meinen Vater als Familienoberhaupt zurück. So kann ich unbesorgt in den Balkan ziehen“, antwortete Ibrahim.
„Vier Jahre ohne Ibrahim. Womit hat unser Viertel das verdient?“, fragte David.
„Mein lieber Freund David. Du weißt es am besten zu schätzen. Schließlich studiert dein Sohn Elias im Ausland für das Rabbineramt. Balkan ist ja kein Ausland. Es gehört zu unserem Reich“, hielt ihm Ibrahim entgegen.
Elias, der inzwischen vierundzwanzigjährige Sohn des reichen Geschäftsmannes, legte in Amsterdam sein Studium ab. Die Familie gehörte den sephardischen Juden an, deren Vorfahren von der iberischen Halbinsel geflüchtet waren und bis vor kurzem im Viertel Dschibali am anderen Ufer des Goldenen Hornes gelebt hatten, bis es einem Großbrand zum Opfer gefallen war.
„Mein Schicksal ist seinem ähnlich, David. Er wird bald von seinem Studium zurückkehren, und ich nehme einen ähnlichen Ferndienst auf. Ich werde als künftiger Kadi das Recht nach der Scharia aussprechen und er wird als Chacham