Am andern Morgen war Herr Wilhelm hastig ins Kloster gerufen worden. Ein Züricher Münzknecht hatte einem andern das Messer in den Leib gerannt. Frau Eis huschte noch vor Tags die vielen Treppen des hochgiebligen Hauses hinunter: das Pilgerhospital erwartete seinen Teil an Klostergästen zu früher Stunde. So blieb Theophrast allein in der Giebelkammer, von der man jenseits des Brühls das Türmlein der St. Gangolfkapelle und den Galgen sehen konnte. Er wußte, der Galgen stand leer. Der Änderle war abgefallen.
Von der Straße herauf schwärmte das Stimmengewirr, raunte das erste Pilgerlied derer, die in der Nacht schon aufgebrochen waren, um über das Fest einen sicheren Unterschlupf zu erlangen. Und mit dem ersten Wallerkreuz und Fähnlein, das dem Türmer sichtbar wurde, begann die Predigtglocke ihr winkendes Geläute. Sie sollte an diesem Tage kaum verstummen.
Theophrast gürtete sein gutes Schwert um, entleerte den Brotsack bis auf den Plappart und die Schelle, ehe er ihn umnahm, kletterte die finsteren Treppen hinunter. Das Neue und Bunte auf eigene Faust zu bestehen.
Den bemalten Wagen mit seinem Mast und Fähnlein fand er nicht mehr. Auch alles andere Fuhrwerk hatte seinen Nächtigungsplatz geräumt. Die Gasse war von Fußgängern, Reitern, Handkarren lebhaft durchströmt, ein größeres Gefährt drang nur langsam, unter lautem Geschrei des Lenkers durch.
Mit der Terzenglocke sollte der Wechsel des Klosters aufgetan werden. Ihm liefen die Kaufleute und Landesfremden zu. Es war untersagt und wurde scharf gehütet, Wallfahrtszeichen, Druckwerk, Kerzen und wächserne Weihbilder einzuführen, alles mußte aus dem Zeichenamt und von den Kerzenbänken des Klosters erstanden sein. Beide Kaufstellen gehörten zum Wechsel, wo auch die einzige Geldbank aufgeschlagen war. Wer sein Geld eingetauscht und seine Warenkisten gefüllt hatte, konnte in Ruhe die Bretterbude ausstatten und die ersten Käufer locken. Doch viele Krämer trugen noch das Kaufgeld vom gestrigen Tage her im Säckel, und es brannte ihnen, als hätten sie es gestohlen. Überdies war mit sinkender Nacht ein großer Nachschub eingetroffen.
Sie drängten mit ihren leeren Säcken und Koffern vor dem geschlossenen Tor, stießen einander, fluchten, schlugen zu und gaben der geharnischten Wache zu schaffen. Herr Diebold hatte geboten, daß nicht mehr als je ein Dutzend zugleich eingelassen würde.
Die Pilger waren bald zurückgeschoben, das fremde Geld sollte warten, bis die Krämer ihre Waren hatten. Wer eher mit vollem Sack und Pack kam, erlangte die bessere Bude. Es gab etliche, die einen Platz näher dem bewachten Tore zu erkaufen strebten; andere vereinbarten nach Art des Fußvolkes, das von Reiterei bedrängt wird, einen „Igel“ zu schließen und eng umschlungen, in gesammelter Wucht, durch die Vordermänner zu brechen, wenn es galt. Sie stellten sich zurecht, wurden durchschaut und dichter umlagert, man machte Miene, sie fortzuschieben, aber der Nachdrang war zu stark. Die Köpfe wurden röter, die Augen drohender, die Mäuler standen voll Schaum und platzten von Flüchen, die Finger zerrten an dem, was sie zu halten hatten, jede freie Hand war geballt, und die Ellbogen arbeiteten. Ein Schimpf und Knuff zählte nicht, sie hörten und fühlten drüber hinweg. Bisweilen sammelte sich die Ungeduld an einem Ruf. Der hinderliche Nebenmann wurde Genosse; sie brüllten einmütig: Uftun! Uf! Terzzit!“ Dann wurde der Schwarm dichter und schob einen Fuß breit vor, die Ordner wurden an das Tor gepreßt.
„Räudigs Kuttenvolk! Versoffen Plattenhengst! Schmeißet das Nönnle usm Bett! Ufton!“
Sie paukten mit den Stiefeln gegen das Holz. Die beiden verlorenen Ordner brüllten und schwuren allen die fallend Sucht, den hitzigen Ritt und die Franzosen in den Leib.
Endlich fiel die helle Stimme der Zeitglocke. Das Menschenknäuel verstummte, schwankte ein wenig zurück, als hole es aus. Die Riegelbalken scharrten an der Tür und fielen. Der Haufe brach ein. Die Ordner waren machtlos. Aber Herr Diebold hatte sich etlicher fester Hände versehen. Die packten und warfen, was da wie Kriegsfurie den Wechsel stürmte, auf gut schwyzer Art gegen Mensch und Mauer.
Und mit dem Schmerzgeheul aus einem Dutzend Kehlen war der wilde Eifer geschlichtet. Man zählte alle Glieder nach, die heil aus der Presse gekommen waren, fand den Schmerz der geprellten Stürmer gerecht, lobte die ordnende Gewalt, tat vor den Geldwechslern freundlich und bescheiden, um doch einen oder den andern verrufenen Schinderling unterzubringen. Man täuschte sich, versuchte vor der Kerzenbank und im Zeichenamt noch einmal sein Glück mit dem falschen Gelde, wurde übel angeblasen und ließ für diesmal allen Profit dem Kloster der lieben Frau und Ernährerin unbenagt. Im Hintergründe klafften die Eisentruhen und fletschten ihre Riegel. Neben jeder Eisenkiste standen zwei Klosterknechte, die kurze, blitzende Schwyzeraxt in der Faust.
***
In Gottes Namen fahren wir,
Siner Gnaden geren wir.
Nu helfe uns die Gotteskraft,
Der reinen Ilgen Mutterschaft.
Christ uns genade!
Kyrileis!
Die Heiligen all helfend uns!
Nah und fern entwuchs der eintönige, uralte Gesang den Staubwolken der Pilgerstraßen. Ein Kreuz zog voraus. Der Heiland hing grell bemalt daran, zuweilen blinkte sein Leib golden oder silbern in der Sonne, immer hielt er den Kopf sterbensmüde zur Brust geneigt, und es schien, als glitte sein lidverhangener Blick traurig über den Weg hin, den er getragen wurde.
Waren die dunklen Menschenzüge auf die Höhen des Etzel, des Schnabelbergs, des Haggenecks und Katzenstricks gekommen, flackerten sie auf wie von neuem Leben. Sie hielten, knieten nieder und winkten der Lilie in Dornen, der Rose im Himmelstau, dem Zederbaum ohne Wurm in hundertjährigen Gesängen und Gebeten zu.
Dort sahen sie das Heil vor Augen: von Türmen geschützt, in Geläute gehüllt, die breite Basilika, die den engelgeweihten Gnadenhort beschirmte. Die Träger entrollten das Fahnentuch, zuweilen kostbare Stoffe, deren Flammenspitzen von schweren Goldquasten gestreckt wurden. Auf dem Fahnenblatte blühten in bunten Farben die Namenssymbole Christi und Marias, die Gestalt eines Märtyrers, einer Heiligen. Der graue Zug hob sich, froh der ragenden Türme und winkenden Glocken. Bald, bald war die Buße in all der schweren Pilgrimsnot getan.
Seit Wochen schluckten sie Staub oder froren in durchnäßten Mänteln, während der Morast der Straße das Schuhwerk beschwerte und erweichte. Aus den Niederlanden, von der Ostsee, über die Vogesen, die Alpen, von der Donau her drangen sie durch Unrast der Tage und Unbill der Nächte, starrend vor Schweiß und Schmutz, übel verlaust, auf wunden Sohlen, von Bast zu Rast stumpfer und müder. Sie sahen nicht mehr die Lieblichkeit der oberdeutschen Länder und nicht die fürstlichen Berge; ihr Gehör war am ewiggleichen Tonfall der Gesänge und Gebete stumpf geworden. Das Gewissensfeuer, das sie aufgejagt hatte, schlug nicht mehr lechzend gen Himmel, sein Qualm kroch auf den Niederungen der Landstraße, erstickte und beklemmte die Herzen. Der helle Freiheitsschrei ihrer Seelen war ein dumpfes Stöhnen nach Gnade und Erlösung aus aller Erbärmlichkeit geworden. Die Sünde hatte ihre jagende Kraft verloren, sie blieb ein schleichendes, gemeines, willensfremdes Übel. Die Körper waren ausgeronnen, der Mut hing an den müden Schritten und matten Stimmen der anderen, die mitzogen, die längst nicht mehr von Haus und Arbeit sprachen, sich längst nicht mehr umsahen, nur das schwebende Kreuz oder die gleitende Landstraße im Blick hielten, heiser sangen und murmelten.
Aber dort im Tale, von Engeln geweiht und unzähligen Gebeten seit Menschengedenken angehaucht, sprudelte der Gnadenquell. Das weite Hochtal war von seinem Segen fühlbar erfüllt. Die Pilger tauchten von den Paßhöhen nieder wie in einen heiligen See.
Was sonst ließ ihre Herzen laut werden, ihre Augen aufflackern? Was konnte ihnen sonst mit wundersamer Erquickung die gemarterten Glieder durchstrahlen?
Neu brannten die Sünden. Sie hatten Blut vergossen, Ehe gebrochen, gestohlen, betrogen, den Nachbar verlästert und vernichtet. Brandstifter, Schlemmer, Hurer, Verräter, Meineidige und die Feigen, deren Schuld ein Leben lang läßlich blieb, aber beklemmend wurde, da die Kräfte