Der raumlose Raum. Peter Mussbach. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peter Mussbach
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737537735
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ihn gesetzt hat. Sofort spürt er dessen angenehme Wärme, die ihm eigentümlich vertraut vorkommt, bleibt liegen, ohne aufzuschauen und kuschelt sich ein.

      Du weißt doch ganz genau, dass man auf dich wartet!

      Woher weißt du das denn?

      Das weiß man eben, wenn man einen Winzling in der Nacht im Park sitzen sieht.

      Wie kann man denn jemanden nachts im Park sehen, wenn er ein Winzling ist?

      Ich habe eben gute Augen!

      Ich auch; aber ich habe dich nicht gesehen, wie du dich neben mich gesetzt hast!

      Dann hast du keine Ohren.

      Oh doch, und auch gute Augen; vielleicht bist du der Winzling, den man gerne übersieht.

      Lass den Quatsch; willst du oder willst du nicht!

      Nein, ich will nicht!

      Was heißt das, du willst nicht; willst du hier etwa die ganze Nacht über sitzen bleiben?

      Vielleicht!

      Was heißt das, du musst nach Hause!

      Das sagst du! – Ich bleibe hier!

      So ein Angeber!

      Was heißt hier Angeber; ich habe keine Angst!

      Musst du ja auch nicht haben.

      Du kannst mich ja mitnehmen, wenn du Angst um mich hast!

      Wohin?

      Nach Hause!

      Ich will nicht nach Hause!

      Du auch nicht?

      Nein! – Aber du musst nach Hause!

      Warum gerade ich? Du kannst ja gehen, wohin auch immer, ich bleibe hier!

      Warum?

      Weil es zuhause langweilig ist.

      Langeweile ist das Schlimmste!

      Ja, dann ist alles leer!

      Dann steckt man in der Falle.

      Wie ein Teddybär!

      Die Warnung zur rechten Zeit

      „Soll ich dir eine Geschichte erzählen?“ fragt ihn der Junge. Schulter an Schulter sitzen sie eng aneinander gelehnt, die fernen Straßenlampen haben sich beruhigt, winzigen Sternen gleich blinzeln sie durch die Äste herüber. „Ja doch“, antwortet er gespannt wie ein Flitzebogen, „das ist doch mal eine Idee, toll, eine spannende Geschichte mitten in der Nacht im Finsteren, also leg los.“

      Seine Eltern, erzählt er, hätten etwas vor mit ihm, denn sie wüssten nicht mehr aus noch ein. Sie würden sich große Sorgen machen, dass er nicht zur Vernunft kommt, ganz aber hätten sie noch nicht aufgegeben, denn schließlich sei er das einzige von drei Kindern, das ihnen geblieben wäre. Sie wollten nicht zum Äußersten schreiten, denn sie liebten ihn wirklich, obwohl ihnen das manchmal schwer falle, denn er werde immer widerspenstiger wie ein Kasperle.

      Irgendetwas müsse geschehen, schließlich seien sie für ihren Sohn verantwortlich, den sie nicht länger wie einen Teddybären durchs Leben zerren wollten, dazu hätten sie nicht mehr die Kraft, irgendetwas müsse geschehen.

      Nun hätten sich seine Eltern beraten lassen, denn alleine, ohne fremden Rat wüssten sie nicht mehr weiter, bei einem Professor in der Großstadt nämlich, der seinen Fall schon kennen würde, schließlich hätte er ihn vor einigen Jahren ja schon einmal behandelt, damals schroff und rücksichtslos, mit den Mitteln der Pädagogik des Neunzehnten Jahrhunderts, als er seiner Mutter empfahl, ihn kopfüber windelweich zu schlagen, damit sie ihm in Ruhe die Windeln wechseln könne, ohne jedes Mal einen Tobsuchtsanfall und eine Ohnmacht zu ernten. Daran aber könne er sich sicher nicht mehr erinnern, denn da wäre er ja erst ein halbes Jahr alt gewesen, also sei keine falsche Vorsicht geboten.

      Der Professor, immerhin ein berühmter Kinderarzt, wolle seinen Fall jetzt spielerisch angehen und ihn mit eigenen Waffen schlagen. Seine Assistenten seien schon dabei, an einem Ritter zu arbeiten, der ihn zur rechten Zeit – gleichsam überraschend – von einem besseren Leben überzeugen solle. Das Ganze wäre zwar ein höllisches Spiel, das aber sei letztendlich jede Therapie, selbst wenn sie auf der Höhe der Zeit und wissenschaftlich abgesegnet wäre: Eine Höllentherapie.

      „Was du nicht alles weißt“, ruft er erstaunt aus, „neunzehnhundert Jahre alt, was für ein Ritter soll das denn sein?“ Als er sich Stirn runzelnd umwendet, hat sich der Junge schon einige Schritte von ihm weg ins Dunkle entfernt.

      Was für ein verdammter Ritter denn, so sag doch!

       Es ist ein Ritter, mehr weiß ich nicht!

       Also ein Ritter, aber wie und wann denn?

       Keine Ahnung, in jedem Fall ein Ritter!

       Und mit eigenen Waffen, gegen mich, was soll das heißen?

       Spielerisch!

       Was?

       Spielerisch!

       Und wann, bei welchem Spiel?

       Keine Ahnung! Wann der Ritter kommt, ist schwer zu sagen!

       Der Ritter kommt, meinst du!

       Er wird kommen, so oder so!

       Na, wie auch immer, danke!

       Pass auf!

       Ich werde aufpassen, ich verspreche es dir!

      „Gut, dass wir uns getroffen haben, ein toller Kerl war das“, denkt er, als er spätnachts wieder in seinem Bett liegt und vor Freude und Angst nicht einschlafen kann. „Es ist warms!“, sagt er sich und die Wärme, die ihn durchströmt, wappnet ihn von innen, da kann der Ritter mit seiner Ritterrüstung ruhig kommen. Das wird sein letzter Alleinsonntag gewesen sein, da ist er sich sicher, denn jetzt ist er ein richtiges Kasperle geworden. Für den Fall des Falles aber steckt er sich vorsichtshalber sein Kasperle auf den Zeigefinger, wer weiß, wann der Ritter kommt. Dann schläft er endlich ein.

      Als das Zweite Dienstmädchen ihn am nächsten Morgen weckt, weil er zur Schule muss, klingelt das Telefon und er darf weiter schlafen: In der Schule brennts, obwohl er nicht zum Gremlin geworden ist.

      Der Kampf mit dem Ritter

      Zu dritt haben sie ein Kasperletheater gegründet, das heißt, Benjamin, Christian und er. Und heute ist ihr großer Tag. Davon aber wissen sie noch nichts.

      Durch die Vorhangschlitze drängt die nicht zu bändigende Sonne in die gespenstische Villenwohnhalle, so dass der kühle Fünfzigerjahreluxus unwirklich in nachtschwarze und gleißendhelle Orte unterteilt ist wie in lauter Himmel und Höllen. Es klopft, rüttelt, quietscht und hämmert und klingt manchmal schief: „Wieder daneben gehauen!“ „Scheiße!“ hört man hier und dort oder: „Autsch, mein Daumen!“

      Christian, Benjamin und er sind gerade dabei, ihr Kasperletheater zusammenzuzimmern, was ihnen heute nicht so recht gelingen will, denn sie sind höllisch aufgeregt wegen der Premiere ihres neuen Stückes, da trifft man den Nagel nicht immer auf den Kopf – irgendwie alles schief! Warum ihm sein „schiefer“ Großvater, der Vater seiner Mutter, in den Kopf kommt, er hat keine Ahnung. Außerdem ist man erst fünf, da darf man doch aufgeregt sein.

      Seit ein paar Monaten spielen sie auf Geburtstagsfeiern anderen Kindern ihre Geschichten vor, die sie bei ihm im Keller zuhause einstudieren dürfen, „denn sie spielen ja nur“, sagt seine Mutter lächelnd und tut so, als hätte sie keine Ahnung, während sie schon das Schlimmste vermutet.

      Schon nach den ersten Vorstellungen sind sie überall eingeladen: „Einmal etwas anderes“, sagen die Eltern. Und Benjamin, der kleinste von ihnen, lispelt dasselbe: „Mal etwas anderes, statt immer nur Topfklopfen, die Reise nach Jerusalem oder Schlagsahne, in welcher Form auch immer“ – zum Lachen komisch und unschlagbar gut imitiert er die Eltern, die sie eingeladen haben, so dass man glaubt, sie vor sich stehen zu sehen. Benjamin hat eine