Der raumlose Raum. Peter Mussbach. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peter Mussbach
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737537735
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die nur darauf warten, wo er seine Erinnerungsbilder und Bücher abzulegen und zu stapeln gedenkt: Die Hefte kommen natürlich in die Bibliothek, die Bilder an die Wände, in Kommoden, neben die Bar mit ihren in Glasregalen schwebenden Flaschen und Karaffen und auf den Konzertflügel. – Bald hängt alles voll und überall stapelt es sich.“

      „Die Bilder also an der Wand und die Bücher in der Bibliothek, eine tolle Ordnung“, sagt Onkel Kurt beeindruckt, „das hätte ich von dir nicht erwartet!“ „Das kannst du von mir auch nicht erwarten“, murmelt er vergnügt, „denn meine Bibliothek steht im Keller, da vermutet sie keiner und findet sie niemand!“ „Im Keller also, na gut, aber bitte nicht im Schlafzimmer, da hat man doch anderes zu tun als zu lesen, oder etwa nicht?“ Onkel Kurt lacht Tränen: „Ich glaube, in deinem Schloss herrscht ein ziemliches Chaos, die Bibliothek im Keller und die kitzligen Bilder auf dem Flügel, wo jeder sie finden kann, eine verkehrte Welt, alles offen und nicht heimlich – wunderbar! Und die Bilder deiner Träume, wo liegen die denn herum? Jetzt sage mir bloß nicht, im Schlafzimmer!“

      „Nein, natürlich nicht, mein Lieber“, antwortet er verschmitzt. „Traumbilder gehören zum Traum, der träumt! Das sind nicht meine Bilder, die gehören mir nicht. – Und apropos „Schlafzimmer“: Meine heißen Bilder liegen auf dem Flügel, das weißt du doch! Und wenn du es unbedingt wissen willst: Sex mache ich ohnehin lieber im Freien, weil man sich da bis in alle Ewigkeit hin ausdehnen kann!“

      Ein Zimmer jedoch, von dem er auch seinem Onkel nicht genau verraten will, wo im Schloss es sich befindet, ist ein verborgenes Zimmer, ein Zimmer, dass es vielleicht gar nicht gibt: „Rate mal was da drin ist, Onkel Kurt, da wirst du sicher nicht so schnell drauf kommen!“ „Nun, also, mach es kurz und lass mich nicht so lange hängen“, drängt Onkel Kurt neugierig.

      „Dort bewahre ich meine Zukunftserinnerungsbilder auf, jetzt sagst du nichts mehr, oder!“ – „Bitte?“ Onkel Kurt lächelt ihn ungläubig an. „Zukunftserinnerungen?“, fragt er augenzwinkernd nach, „was soll das denn für ein Erinnerungsraum sein?“ „Nun, dort hätte ich alle Skizzen und Zeichnungen von Erlebnissen gestapelt, die mir später einmal widerfahren werden!“ „Später einmal!“, Der Onkel schaut ihn verdutzt an. „Ja“, antwortet er, „ja, das ist der „Deja-vu-Raum“, damit ich später nicht auf den Kopf falle, wenn ich mir denke, das hast du doch schon einmal erlebt.“

      „Zukunft, Vergangenheit oder Gegenwart – alles wirkt in mir ohnehin durcheinander … schon als Kind konnte ich mich manchmal gar nicht mehr daran erinnern, ob ich mich nun im Morgen, im Gestern oder im Heute befinde: Alles ist gleichzeitig!“

      Riesenrad

      Es nieselt und trotzdem herrscht Hochstimmung. Er ist gerade mal vier Jahre alt und hat seine „Alleinstadtexpeditionen“ noch eine (lange) Weile vor sich – er hat noch keine Ahnung, was das Wort überhaupt bedeutet: Alleinstadtexpedition.

      Für Anfang Oktober – warms in Obernbayern beim Altweibersommer – ist es noch angenehm lau draußen. Alles drängt auf den Marktplatz, weil dort Kirchweih ist und die Altstadt tanzt. Selbst die älteren Häuser halten mit.

      Ruckartig fällt das Getriebe des Riesenrads seinem Treibriemen in die Arme und los geht's: „Am liebsten immer, immer nur Riesenrad, immer wieder“, spuckt er aufgeregt in die kleine bunte Gondel, die eigentlich zu einer Barocktheatermaschine gehört, wie Tante Emmi ihm erklärt, aus der sie von einem lustigen Riesen herausgeschraubt und mit vielen anderen ihresgleichen zu einem Riesenrad zusammenmontiert wurde. Jetzt wirbeln die aufgeregten Gondelhäuschen wunderlich blinkend im aufrechtem Bogen durch die Luft und alle Mitfliegenden, die sich krampfhaft festhalten, damit sie nicht hinaus in den Himmel geschleudert werden, quietschen und johlen, weil sie vor lauter Bauchkitzeln Pusteln kriegen und rasch jede Orientierung verlieren und ins Ungewisse fortgerissen werden, als sei das Ganze eine einzige, nie enden wollende Reise ins Nirgendwohin.

      Wahnsinn im vertikalen Taumel: Start nach oben in die Wolken, aberwitziger Flug über Dächer und sich rasch entfernende, staunend offene Mäuler drunten, freier Fall, der einem den Atem nimmt, so dass im Bauch Mücken und Schwalben tanzen, und dann, wie bei der versuchten Landung eines großen Vogels, eines Storchs zum Beispiel, sofort wieder nach oben, in einen offenen heiteren Himmel, als wäre der Landeplatz für den Riesenvogel doch nicht der richtige gewesen.

      Wenn jetzt noch das Riesenrad zu einem riesigen Rad würde, könnte man im süßesten Taumel über die Welt rollen, in wunderbaren Schleifen auf und nieder torkeln und infolge der tollen Dreherei bis übers Gebirge kommen, aus purer Lust über alle schroff hochragenden Gipfel hinweg, wie mit Siebenmeilenstiefeln andere Länder besuchen, ohne sich die Sohlen aufzureißen.

      „Jedes Glück hat einmal ein Ende“, brüllt ihn seine Mutter entnervt an. Sie ist erschöpft und ihr ist übel. Außerdem möchte sie nicht so weit weg. Andere Länder sagen ihr sowieso nichts, Italien vielleicht, aber dann nur im Bikini! – „Schluss jetzt!“, ruft sie mit blassem Gesicht und zerrt ihn schon nach dem dritten Mal Taumelvertikale aus dem Riesenrad, woraufhin er in einen Schreiwutanfall verfällt, weil sie gerade schon Obernbayern hinter sich gelassen haben und in fremde geheimnisvolle Landschaften vorgedrungen sind. „Immer zurück und ewig dableiben“, schleudert er seiner Mutter ins Gesicht. „Nach Hause jetzt“, kreischt sie zurück, „jetzt reicht es mir mit dir!“

      Bei dem Gezeter bleiben unwillkürlich manche der drängelnden Kirchweihgänger stehen und blaffen seine Mutter an, „dass man mit kleinen Kindern nicht so umgehen darf“, was ihre Explosion zur Folge hat: Sie verpasst ihm eine saftige Ohrfeige, dass die Nase blutet, und fordert wutentbrannt die Besserwisser dazu auf, „ihre Nasen nicht in fremder Leute Angelegenheiten zu stecken!“

      Als er mit seiner rotroten Nase dasteht wie ein trauriger Clown und die Welt nicht mehr versteht, die ihm verbieten will, mindestens zehn Mal Riesenrad zu fahren, weil es ihm gut tut – viel besser zum Beispiel, als mit seiner Mutter Kirschkuchenessen zu üben wie in England, nur weil sie gerade in der Zeitschrift Andere Länder Andere Sitten davon gelesen hat, dass man dort den Kuchen mit Messer und Gabel verspeist – wird ihm wieder einmal klar, dass mit seiner Mutter nicht gut Kirschen essen ist.

      Morgen wird er es alleine versuchen, dann fährt er hundert Mal Riesenrad und kann nicht mehr zurückkommen, weil er schon viel zu weit davon gerollt ist, um den Weg nach Hause noch finden zu können.

      Alleinstadtexpedition

      So schwer es ihm auch fällt, sich vernünftig auf den Beinen zu halten, bald wissen die von allein, wohin sie laufen sollen, denn das Riesenrad rückt näher. Er kann es jetzt schon über den Dachgipfeln wie hinterm Gebirge sich drehen sehen: Die knallbunt zwitschernden Schwalbengondeln wirbeln durch die Wolken, bevor sie in die Tiefe stürzen und gellende Lustangstschreie die Luft erfüllen, und der würzige Bratwurstgeruch überall macht ihm doppelten Appetit: Riesenrad und Bratwurst gleichzeitig – das wär's!

      „Fährst du mit?“, fragt ihn ein Winzling, der an der Hand seiner Mutter neben ihm steht und die modernisierte Barocktheatermaschine bestaunt, als wäre sie kein Riesenrad, sondern ein Ufo.

      Ufos sind in aller Munde; er weiß sogar schon, was das ist, ein „Ufffooohhh“: „Das sind Untertassen, die mit Rosenthal nichts zu tun haben“, erklärt ihm eine böse Nachbarin, „mit denen kommen alle Kinder vom Mann im Mond runter geflogen auf die Erde und sind bitterböse und lebensgefährlich – Außerirdische!“ Das allerdings will ihm nicht so recht einleuchten, „denn Kinder sind harmlos“, meint er, „selbst wenn sie vom Mond kommen.“

      „Es ist toll, da lernt man fliegen!“, sagt der Junge, der haargenau seine Größe hat, er könnte sein Zwilling sein. „Wieso?“, fragt er, „wie kommst du denn darauf, glaubst du etwa, dass man für ein Ufo einen Führerschein braucht?“ „Was hast du gesagt? … das ist ein Radriese, mein Lieber, das sieht doch jedes Kind, damit lernt man fliegen, aber davon verstehst du nichts!“, antwortet der Junge stolz, „bist du da etwa schon mitgefahren?“ „Ja, klar“, sagt er, „nicht nur im Riesenrad, sondern schon mit ganz anderen Sachen, aber davon verstehst du nichts!“

      „Fahren