Unsere Lehrerin bezeichnete, die vier von ihr geförderten Schüler, als ihr Kleeblatt, oder ihr Quartett. Wir Kleeblattkinder wollten keine Neider und hatten besprochen, dass wir unsern Schulkameraden nichts von Kakao und Kuchen erzählen, sondern von Diktaten, Aufsätzen und Rechenarbeiten. Die Besonderheit des Kleeblatts wurde in der Klasse kaum noch wahrgenommen. Bei unseren Lehrgängen, in die nahen Wälder durften wir auch auf Bäume klettern. Frau Kofer sagte: „Jungs, ihr könntet uns mal die noch grünen Tannenzapfen vom Baum holen, damit wir sehen, wie Tannen und Fichten ihre Samen bilden und wie sie später ihre Samen aus Tannen- und Fichtenzapfen schütteln, damit neue Bäume entstehen. Rosanna fragte: „Darf ich auch klettern.“ Frau Kofer antwortete: „Natürlich dürfen auch Mädchen klettern, sie sind leider durch ihre Kleider etwas benachteiligt. Rosanna, achte bitte auf dein schönes Kleid. Rosanna war ein sportliches Mädchen, die ihre Bewegungen gut koordinieren konnte. Beim Klettern auf Bäume ist es schwierig, die Entfernung und die Stärke der Äste einzuschätzen und dies mit den Bewegungen zu koordinieren. Ich fand das Klettern auf Bäume toll, auch weil es in Baumgipfeln fantastisch nach Holz und Harz roch. Endlich hatte ich die ersten grünen Tannenzapfen, die intensiv nach Harz rochen, erreicht. Ich riss welche ab und warf sie runter. Langsam und vorsichtig kletterte ich wieder nach unten. Rosanna kletterte genau über mir. Als ich nach oben sah, wurde ich verlegen, denn ich sah ihren gelben Schlüpfer und ihre langen Beine. Rosanna bemerkte meinen Blick, ich wollte nicht unter ihren Rock schauen, es geschah spontan. Rosanna bemerkte meinen Blick, deshalb sah ich sofort nach unten und kletterte weiter. Frau Kofer erklärte uns die verschiedenen Zapfen, grüne noch unreife, braune, verschlossene und trockene geöffnete Zapfen, aus denen man Samen schütteln konnte. Wie Fichten ihre Samen verteilten und sich fortpflanzten. Sie sagte: „Wir haben hier nur Fichtenzapfen, denn Tannenzapfen stehen senkrecht, wie Kerzen des Weihnachtsbaums, und lassen vom Wind die Samen verbreiten. Wir reden von Tannenzapfen und meinen immer Fichtenzapfen, denn Tannenzapfen finden wir keine. Wir beschäftigen uns im Biounterricht noch damit. Wer von euch kann wohl auf eine Kiefer klettern?“ Als sich niemand meldete, sagte ich: „Frau Kofer, die Kiefer hat ihre Äste ganz oben, so hoch kann keiner klettern.“ Frau Kofer hatte sich vorbereitet, denn sie hatte heute keinen Rock, sondern eine dreiviertellange Hose an. Aus ihrer Handtasche nahm sie ein stabiles Seil mit zwei Griffen. Sie schlang das Seil um den Baum, stemmte sich mit den Füßen gegen den Stamm, schob das Seil an dem sie sich festhielt immer höher und kletterte mit den Füßen weiter. Wir standen staunend am Baum und sahen, wie unsere Lehrerin nach oben kletterte. Als sie wieder unten war, sagte sie: „So klettern Menschen in Afrika. Wer von euch möchte es versuchen. Ich hatte die Technik erkannt, wollte mich jedoch nicht blamieren. Erhard meldete und blamierte sich. Frau Kofer gab das Seil Rosanna und sagte: „Vielleicht kannst du es.“ Rosanna kletterte etwa zwei Meter hoch und sagte: „Es isch arg anschtrengend, sie sind toll, denn sie sind sehr hoch geklettert.“ Rosa gab mir das Seil, deshalb musste ich es probieren. Ich kam nicht so weit, wie Rosanna und sagte: „So zu Klettern isch sauschwer.“ Frau Kofer lächelte und sagte: „Ihr seht, man kann es lernen.“ Auf dem Rückweg ging Rosanna neben mir und fragte: „Hat dir mein Schlüpfer gfalle, als du mi aguckt hasch?“ Ich lachte sie an, als ich antwortete: „Es hätte mir gefallen, aber ich hab mich nicht getraut, deshalb sah ich weg, damit du nicht verlegen wirst.“ Rosanna nahm meine Hand und sagte: „I han dir doch im Kindergarte zeigt, wie mei Kätzle aussieht. Du warsch verlege, aber i doch nit, i weiß, dass i dir gfall.“ Wir lachten beide als ich antwortete: „Im Kindergarten waren wir noch klein, diesmal war's Zufall, i wollt es nit ausnützen. Aber wenn mir nomal klettret un du über mir klettersch, dann guck ich nicht weg, on dann fall i vielleicht vom Baum, weil du mir so saumäßig gfällsch, dass i mi nimmer ufs klettre konzentrieren ka, aber woher weisch du, wie du aussiehsch, wenn mr dir unters Kleid guckt?“ Rosanna lachte und sagte: „Ha Louis, weisch, i wollt wisse wie i ausseh, wenn jemand unter mein Kleid sieht, deshalb han i im Schlafzimmer von meine Eltern den große Spiegel uf de Fußbode glegt un bin drufgschtande. Seither hat der Spiegel en Riss, aber i weiß, wie i ausseh un zieh schöne Schlüpfer an.“ Ich sah Rosanna an, lachte und sagte: „Du bisch s'tollschte un s’schönste Mädle von der ganze Welt.“ Rosanna fragte: „Des hasch du mir im Kindergarte gsagt, denksch du es immer no?“ Als ich mich umdrehte bemerkte ich Frau Kofer. Wir wussten nicht, ob sie unser Gespräch gehört hatte.
Ich ging unverändert gern zur Schule, bei unserer Lehrerin lernten wir nicht nur für die Schule, sondern für's Leben. Unser Unterricht bestand leider nicht nur aus Lehrgängen, sondern auch aus trockenem, abstraktem Schulstoff mit Lernfächern. Frau Kofer gelang es, auch diese Fächer interessant zu gestalten. Wenn ich an nachfolgende Schulen und Lehrer denke, hatte ich erst in späteren Jahren in Berufs- und Handelsschule wieder Lehrer, die ihren Unterricht interessant gestalteten. Im Gymnasium erinnere ich mich an keine Lehrer, die den Schulstoff interessant gestalteten. Die Nachmittage, die wir bei Frau Kofer verbrachten, waren für uns unverändert interessant, obwohl wir Diktate schrieben, oder Übungsreihen multiplizierten, dividierten, subtrahierten und addierten, die für mich kompliziert waren, gefielen uns die beiden Nachmittage. Ich war erstaunt wie Lindtraud, komplizierte Rechenaufgaben löste und problemlos Ergebnisse fand. Gleichzeitig bewunderte ich Rosanna, die jedes diktierte Wort richtig schrieb. Frau Kofer zeigte uns eines Nachmittags eine Fotoserie. Es waren schöne schwarz/weiß Bilder, auf denen wir sehr gut aussahen. Mich störten meine vielen Sommersprossen im Gesicht, die auf den Fotos nicht zu sehen waren. Ich sagte: „Auf ihren Fotos sieht man meine Sommersprossen nicht.“ Frau Kofer fragte: „Louis, stören dich etwa deine Sommersprossen?“ „Ja natürlich“, antwortete ich. „Ach Louis“, sagte Frau Kofer, „dich liebt sogar die Sonne, denn sie küsst dich und hinterlässt Sommersprossen als winzige Knutschflecken. Sie passen zu dir, es wäre schade, wenn sie nicht in deinem Gesicht wären.“ Rosanna bestätigte es. Frau Kofer hatte im Esszimmer, was gleichzeitig unser Lernzimmer war, drei große Gruppenfotos von uns aufgehängt und sagte, als wir uns nach dem Kakao und Kuchen wieder verabschiedeten: „Wir schreiben bald einen Aufsatz, denkt mal über ein intensives Erlebnis nach.“ Frau Kofer hatte mit den Kleeblatteltern gesprochen, deshalb gingen wir an Donnerstagen nicht mehr zum Essen nach Hause. Frau Kofer kochte für uns. Es gab donnerstags immer eine Suppe, die sie vorbereitet hatte, danach Waffeln mit unterschiedlichen Zutaten. Sie stellte verschiedene Marmelade auf den Tisch, es gab Zucker mit Zimt und manchmal, wenn Lindtraud Sahne mitbrachte, gab es Schlagsahne. Frau Kofer hatte noch etwas Besonderes, Ihre Verwandten aus USA hatten ihr kanadischen Ahornsirup geschickt. Waffeln waren ein Festessen, obwohl wir aus unterschiedlichen Familien kamen. Rosanna war ein Einzelkind aus einer wohlhabenden Zahnarztfamilie. Sie sah ihrer Mutter sehr ähnlich. Ihre Mutter war groß und schlank, hatte kurze blonde Haare und war immer gut gekleidet, meist trug sie ein Kostüm mit engem Rock, der hinten