Schnell stand er auf. Er musste das saubere Wasser nutzen. Es gab zwar mit großer Wahrscheinlichkeit einen Brunnen auf dem Hofgelände. Es war jedoch völlig ungewiss, ob er Wasser enthielt und dieses auch genießbar war. Er suchte nach einem Gefäß zum Auffangen des Regenwassers, das in dünnen Schnüren vom Dach lief. Im Wohnhaus fand er in der ehemaligen Küche einen verbeulten Blechtopf und außerdem einen Holzeimer. Schnell reinigte er sie so gut er konnte. Im Topf würde er Trinkwasser sammeln, im Eimer Waschwasser. Denn Körperpflege hatte er bitter nötig.
Nun suchte er schnell wieder sein Lager im wärmenden Stroh auf. Nachdem er unter den Mantel gekrochen war, lauschte er noch ein paar Minuten dem Prasseln des Regens. Schließlich fielen ihm die Augen zu und er fiel in einen tiefen, totenähnlichen Schlaf.
So kam es, dass er sogar das Knattern der Rotorblätter des Hubschraubers überhörte. Denn der hatte eine Wärmebildkamera an Bord. Doch er flog relativ hoch, um eine möglichst große Fläche absuchen zu können. So entdeckte der Copilot auch nicht den winzigen Fleck, der für den Bruchteil einer Sekunde auf dem Bildschirm erschien. Das nasse Scheunendach, der dicke Wattemantel und vielleicht die fehlende Konzentration der Hubschrauberbesatzung hatten Ki Su davor bewahrt, entdeckt zu werden.
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„Sie haften mir mit ihrem Kopf dafür, dass der Kerl wieder eingefangen wird“, donnerte der Chef der Geheimpolizei, General Lee Son Ok wütend. Han Sorya nickte ergeben.
Seit 15 Jahren war er Chef des Spezialkommandos zur Sicherung der Einsatzbereitschaft des Militärs. Er hatte über die Disziplin der Soldaten, vor allem aber über die politische Zuverlässigkeit der Männer zu wachen. Jeder Defätismus war auf der Stelle mit Haut und Haar zu eliminieren. Wurde ihm von abweichenden Meinungen, abweichendem Verhalten einzelner in der Truppe berichtet, schritt er ein. Mit der ganzen Härte, die ihm zur Verfügung stand, erpresste er Geständnisse, ermittelte er Gleichgesinnte und zog sie in den Folterkellern zur Rechenschaft.
Natürlich hatte er dafür seine Leute und brauchte sich nicht selbst die Finger schmutzig zu machen. Aber bei besonders dreisten Vergehen wie Beleidigungen des Staatsführers, selbst wenn diese nur sehr leise und im Verborgenen geäußert wurden, war er höchstpersönlich bei den Befragungen zugegen. Und sorgte allein schon durch seine Anwesenheit dafür, dass sie gründlich und mit allen zu Gebote stehenden Mitteln durchgeführt wurden.
Wäre dies anders, wäre er erfolglos oder stünde sogar im Verdacht, zu gnädig mit den Verdächtigen umzugehen, würde ein anderer bei der nächsten Säuberung seine Stelle einnehmen. Das wusste er. Und daran musste er denken, als er den Auftrag bekam. Ho Ki Su zu suchen.
Ruhelos schritt er in seinem Büro auf und ab. Auf dem mächtigen Schreibtisch aus Eichenholz stapelten sich die Unterlagen des Strafgefangenen. Immer wieder hatte er sie eingehend studiert und hatte so fast alle Details über die Person des Flüchtenden im Kopf.
Er betrachtete das Fahndungsfoto. Ein großgewachsener Mann in Uniform. Pisspottfrisur unter der Schirmmütze. Wie sie bei allen Soldaten üblich war. Genau die Frisur, die auch der Große Staatsführer trug. Und natürlich Han Sorya selbst.
Ein Mann von 35 Jahren. Sicher noch in guter körperlicher Verfassung nach der relativ kurzen Lagerhaft. Bewaffnet. Und gefährlich, weil er verstand, mit Waffen aller Art umzugehen, sollten sie in seine Hände gelangen.
Doch das war das Problem seiner Häscher, seiner Agenten. Die mussten dafür sorgen, dass der kerl schnellstmöglich eingefangen wurde. Tor oder lebendig. War egal. Nur unschädlich musste er gemacht werden.
Er würde alles tun, um der gestellten Aufgabe gerecht zu werden. Ihm unterstand ein Team von Fahndungsspezialisten. Das sie jederzeit vergrößern konnten. Auf Abteilungen der Koreanischen-Volks-Armee hatte er ebenfalls Zugriff, sofern er weitere Unterstützung benötigte. Und die KVA bestand aus mehr als einer Million Soldaten, nach der chinesischen die größte in Asien. Dies allein schon dadurch, dass der Dienst je nach Waffengattung drei bis sieben Jahre dauerte. Jeder Soldat wurde während seiner Ausbildungszeit so indoktriniert, dass er es als seine heilige Pflicht ansah, für die Verteidigung des Landes und die Wiedervereinigung Koreas bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen. Wiedervereinigung natürlich unter der Vorherrschaft des Nordens. Auf die Soldaten war Verlass. Auf die meisten jedenfalls.
Hinzu kam die modernste technische Ausrüstung, über die man zur Zeit verfügte. Darunter gab es neben den Kampfhubschraubern und Düsenjägern vom Typ MIG 29 aus russischer Produktion auch hochmoderne Kommunikationstechnik. Damit musste es doch möglich sein, einen isolierten, hilflosen, umherirrenden Strafgefangenen zu erwischen.
Um sicherzugehen, dass alle von der Bedeutung dieser Aufgabe überzeugt waren und daher alles in ihrer Macht stehende tun würde, ließ er die Chefs der einzelnen Abteilungen zu einem Treffen laden.
Im Konferenzraum vor dem Ölgemälde des Kim Sung Il hatte er den Tisch an der Frontseite der Konferenzrunde inne. Wie immer bei solchen Anlässen trug er die makellos gebügelte olivgrüne Uniform seines Ranges mit all den Orden und Abzeichen, die ihm bislang verliehen worden waren. Auf dem Kopf trug er die große Schirmmütze in den rot-schwarzen Farben der übrigen Uniformteile. Zahlreiche Teilnehmer waren in Zivil erschienen. Nur in Ausnahmefällen trugen sie Uniform. Fast alle Angehörigen der Geheimdienste, sowohl der Polizei, des Militärischen Abschirmdienstes und der Auslandsaufklärung waren normalerweise in graue Dienstanzüge gekleidet, die sie nicht auf den ersten Blick als Angehörige des Polizeiapparats erscheinen ließen.
Er führte ihnen vor Augen, welche Gefahr der Entflohene für die Sicherheit des Landes, Ihres Landes, darstellte. Dass alle Errungenschaften gefährdet wären, dass der Feind ungestraft seine Hand nach ihnen ausstrecken konnte, dass sie wehr- und hilflos alle, ausgeliefert wären, was dann auf sie zukommen würde. Und dass jeder einzelne damit rechnen müsse, vor ein Gericht dieser ausländischen Hunde gezerrt zu werden, wo mit Sicherheit der Kopf rollen würde.
Deshalb sei alles, wirklich alles daran zu setzen, um diesen Burschen wieder einzufangen. Niemand musste geschont werden. Übergriffe gegen jedermann waren erlaubt, wenn sie im weitesten Sinn der Sache dienten. Kollateralschäden in der Bevölkerung, auch bei Frauen und Kindern, stellten kein Hindernis dar. Niemand würde zur Rechenschaft gezogen werden für das, was bei dieser Jagd nach dem Flüchtling auch immer passieren würde.
Er redete nicht nur so daher, das spürten alle. Ihr Chef stand hinter dem was er sagte. Hinter jedem einzelnen Wort. Weil es seiner tiefsten Überzeugung entsprach, dass er das richtige tat. Dass er das richtige wollte. Dass alles dem Ziel, der Ergreifung des Verräters unterzuordnen war.
Eigentlich war Han Sorya kein schlechter Mensch. Das glaubte er nicht von sich. Er hatte eine Aufgabe, bei der jede menschliche Regung wie Mitleid oder Emphatie nichts verloren hatte. Grausamkeit, Härte, Brutalität waren, richtig eingesetzt, ein wichtiges Mittel, um zu guten Resultaten zu kommen. Privat war er anders. Seine Frau liebte seine sanften Augen, die Art, wie er mit den beiden Kindern spielte oder die Liebe, die er selbst dem grauen Mischlingshund entgegenbrachte, der ihnen vor drei Jahren zugelaufen war. Manchmal wünschte er sich einen anderen Beruf. Indem er so sein konnte, wie er eigentlich war, wie es seinem Leben entsprach. Vielleicht wäre er besser auf den ärmlichen Feldern ihres Dorfes, auf dem heimatlichen Hof geblieben. Aber das war vorbei. Er hatte Pflicht zu erfüllen.- Mittlerweile war er 54 Jahre alt und keinerlei berufliche Alternativen. Schnell wischte er die Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf das, was er zu tun hatte.
Er informierte die Teilnehmer über die Person des Gesuchten, ohne einen Blick in die Unterlagen werfen zu müssen. Geboren 1982, also im besten Mannesalter. Nach der obligatorischen siebenjährigen Schulzeit Besuch der Universität für Wissenschaft und Technik in Pjöngjang. Dies war möglich, weil er einer linientreuen Familie entsprang. Der Vater war Dezernent im Landwirtschaftsministerium, mittlerweile aber verstorben. Seine Mutter lebte seither in der Familie ihrer Schwester. Geschwister hatte er keine.
Nach Abschluss des Studiums als Waffentechniker Wechsel in den Militärdienst mit Grundausbildung, und Spezialtraining