Mit dem Ärmel schob er den Müll vom Tisch zu dem, der bereits den Boden bedeckte. Er öffnete die Tragetasche und sah nach, was sie enthielt. Wie vom Kommandanten angegeben, fand er Lebensmittel. Zwei große Brote, ein Stück Schinkenspeck von einem halben Kilo, dazu etwas bröckeligen Kuchen und eine kleine Flasche mit Wodka. Das war mehr, als er zu hoffen gewagt hatte.
Wann hatte er so etwas zum letzten mal gesehen? Jetzt spürte er den Hunger, der seit Tagen, seit Wochen und Monaten in seinen Eingeweiden tobte. Die Anspannung der letzten Stunden begann von ihm abzufallen. Er schnitt ein dickes Stück von dem bereits trockenen Brot ab, dazu einen dünnen Streifen Speck. Langsam kauend genoss er das beste Essen seit langer Zeit. Er kaute langsam und bedächtig. Um zu genießen. Um alle Nährwerte des Brotes bereits im Mund vorzuverdauen und damit aufzuschlüsseln. Den Alkohol rührte er nicht an, auch wenn es ihn stark danach gelüstete. Er musste hellwach bleiben. Doch dann wurden seine Augenlider zusehends schwerer. Der Schlaf drohte ihn zu übermannen.
Der Kommandant wollte mit den Esswaren ein Gelage mit seiner Geliebten feiern. Oder sie für ihre Dienste bezahlen. Daraus würde nun nichts werden. Vergeblich würde sie auf ihn warten. Auf Ki Su wartete niemand mehr. Er durfte nicht weiter an seine Frau, seine Familie denken. Sie waren verloren. Für immer verloren, als wären sie wie Schiffbrüchige im Meer ertrunken, während er es auf eine unbewohnte Insel geschafft hatte. Er konnte nichts für sie tun. Würde es wohl nie mehr können.
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Draußen begann es zu dämmern. Jetzt, im Spätherbst, ließ sich der Tag Zeit, zu kommen. Er sah auf die Uhr, die er seinem Gefangenen vom Arm gestreift hatte. Halb sieben. In einer halben Stunde, so nahm er an, würden die ersten LKW vom Güterbahnhof aufbrechen. Dann musste er nach einer Mitfahrgelegenheit suchen. Offiziell war es den Fahrern verboten, Personen zu transportieren, das wusste er. Die Polizei sah jedoch darüber hinweg. Bahn und Busse fuhren unregelmäßig, standen zuweilen auf offener Strecke, weil entweder der Oberleitung der Strom ausgegangen war oder sich kein Treibstoff mehr im Tank befand. Von den ständigen Pannen, die allein schon aus Mangel an brauchbaren Ersatzteilen auftraten, einmal abgesehen.
Ki Su sprach den ersten Fahrer an. Nein, er würde nach Süden fahren, also in die entgegengesetzte Richtung. Der zweite lehnte es rundheraus ab, ihn mitzunehmen. Er hatte wohl schon einmal Ärger aus diesem Grund bekommen.
Er versuchte es ein drittes Mal.
„Ich muss dringend in den Nordwesten. Meine Mutter liegt im Sterben. Kannst du mich mitnehmen? Natürlich zahle ich dafür“, sprach er den Fahrer an.
„Kumpel, du weist doch, dass das verboten ist“, antwortete dieser ihm.
„Es kann jeden tag mit ihr zu Ende gehen. Ich muss sie ein letztes mal sehen“, beharrte Ho Ki Su.
„Ich habe keine Zeit, um einen Kleinbuss zu nehmen. Du weißt doch selbst, wie unregelmäßig sie kommen und wie unzuverlässig die Dinger sind“.
„Na, wenn das so ist, steig mal ein“ antwortete er, als ihm Ki Su eine Handvoll Scheine anbot.
Ob ihn der ansehnliche Geldbetrag, den er ihm anbot, den Mann wohl stutzig machen würde? Ki Su sah ja aus, als würde er Geld haben, als gehöre er der Partei an. Seine Stimme hatten jenen befehlsgewohnten Ton, den er sich während seiner Dienstzeit angewöhnt hatte. Auch die Kleidung deutete auf einen Militär- oder Polizeiangehörigen hin. Der Fahrer stellte keine weiteren Fragen.
Nach drei Stunden Fahrt tauchte die erste Polizeikontrolle auf. Obwohl Ki Si sie erwartet hatte, versteifte sich sein Nacken. Sein ganzer Körper war plötzlich unter Hochspannung. Wie würde der Fahrer reagieren? Was sollte er tun, wenn die Männer aus irgend einem Grund misstrauisch wurden?
„Wir suchen einen ausgebrochenen Gefangenen, aus dem Straflager. Habt ihr irgend jemanden bemerkt?“, frage einer der Polizisten den Fahrer.
„Nein, uns ist niemand begegnet“, antwortete der Fahrer gelassen.
Der Beamte fragte nicht weiter, sondern ließ sie passieren. In diese Richtung würde der Gesuchte sowieso nicht wollen.
Ki Su hatte versucht, sein Gesicht möglichst zu verbergen, indem er es vom gleißenden Licht der Taschenlampe abwendete, mit der der Polizist in die Fahrerkabine leuchtete. Wenn er ihn als den Gesuchten wiedererkennen würde, war sein Plan zum Scheitern verdammt. Dann würde man auch dort suchen, wo er sich für die nächste Zeit verstecken wollte. Er musste einfach hoffen, dass dieser Mann nur oberflächlich geschaut hatte oder ein besonders schlechtes Personengedächtnis besaß.
Wegen des Fahrers machte er sich weniger Gedanken. Sollte dieser ihn wiedererkennen, wäre nicht damit zu rechnen, dass er Meldung erstatten würde. Hier kam ihm das System zu Hilfe. Die ständige Angst, der Staatsgewalt in irgend einer Weise aufzufallen, würde ihn stumm bleiben lassen. Da war sich Ki Su sicher.
Schließlich hatten sie ohne weiteren Zwischenfall das kleine Dorf in der Nähe des Lagers erreicht, aus dem Ki Su letzte Nacht geflüchtet war. In dem die Geliebte des Kommandanten wohl nicht mehr auf diesen wartete. Er bat den LKW-Fahrer, ihn aussteigen zu lassen.
Die Straße war leer. Längst hatten sich die Bewohner zu ihren Arbeitsstätten aufgemacht oder waren unterwegs zu ihren Feldern. Die Kinder drückten bereits die harten engen Holzbänke der kleinen Dorfschule; nur die Alten, nicht mehr arbeitsfähigen hockten in ihren Häusern. Von ihnen drohte kaum eine Gefahr.
Dennoch musste er vorsichtig sein. Schnell verschwand er am Dorfrand von der Straße. Er wollte zum Schutz vor Entdeckung die verschlungenen Fahrwege, deren Ränder mit Gestrüpp bewachsen waren, zum Weiterkommen nutzen. Sollte ihm jemand entgegen kommen, musste Ki Su diese Person zuerst sehen und verschwinden. Auf keinen Fall durfte er jetzt das geringste Aufsehen erregen.
Vorsichtig ging er weiter. Vor jeder Wegbiegung verharrte er und inspizierte die Lage. War der Weg wirklich frei? Das hinderte ihn natürlich am zügigen Vorwärtskommen. Aber Sicherheit ging vor.
Sein Ziel war der verfallene Bauernhof, dessen Bewohner vor langer Zeit vertrieben wurden. Auf dem Weg in den Steinbruch hatte er ihn entdeckt, obwohl er ein ganzes Stück weit entfernt lag. Ihn musste er wiederfinden, um die nächste Woche dort zu verbringen. Er würde ihm nicht nur ein Dach über dem Kopf bieten sondern auch Schutz vor der kalten Witterung. Und vielleicht fand er Gegenstände, die für seine weitere Flucht hilfreich sein konnten.
Vorsichtig öffnete er das schwere, aus massiven Holzbrettern bestehende Eingangstor, das laut in den Angeln quitschte. Das Dach der Scheune war noch nicht eingestürzt, wie nur einige deutlich sichtbare Lücken auf. Wind und Regen fanden durch sie zwar ihren Weg ins Innere, ließen selbst die massiven Balken aus Eichenholz mit der Zeit verfaulen. Alle Winkel, die vom Sonnenlicht getroffen wurden, waren mit dicken Spinnennetzen verhangen. Hier war seit Ewigkeiten niemand mehr gewesen. Und das konnte seinetwegen auch so bleiben.
Natürlich konnte Ki Su es nicht wagen, ein Feuer zu entzünden. Die Gefahr, dass es jemandem durch einen dummen Zufall auffiel, war einfach zu groß. Also verzichtete er darauf, obwohl es ihm schwer fiel.
Er besah sich das Innere der baufälligen Scheune. An der hinteren Wand aus schweren Bruchsteinen schien das Dach noch in gutem Zustand. Auf einer Plattform, gebildet durch stabile Balken darunter, lag noch eine Lage Stroh. Sie schien noch nicht verfault zu sein. Schnell kletterte er mit der morschen Leiter hinauf. Er zog den Mantel und die Stiefel aus und legte sich auf das muffig riechende Lager. Hier konnte man es aushalten! Welch ein Gegensatz zu der Pritsche in der Gefangenenbaracke, die er noch mit dem Nachbarn teilen musste.
Jetzt erst einmal schlafen. Hier an diesem Ort würde ihn so schnell niemand suchen. Über das Stroh breitete er die Zeltbahn aus. Dann deckte