Er war müde. Der lange Weg durchs Gebirge hatte seine Spuren hinterlassen. Seim Mantel war verschmutzt, weil er auf einem steilen Abhang ausgerutscht und einige Meter abgeglitten war. Aber das war nicht das Schlimmste. Viel mehr störte ihn, dass er seit zwei Tagen nichts mehr gegessen hatte. Er fühlte, wie seine Kraft allmählich zu schwinden begann. So sehr er auch suchte, weder Augen noch Nase konnten etwas Essbares entdecken. Zwar hörte er ab und an Krähen schreien, doch es war unmöglich, ihrer habhaft zu werden. Selbst mit der Pistole konnte er keinesfalls auf Schussweite an sie heran kommen.
Und die Waffe wollte er auf gar keinen Fall einsetzen. Sechs Schuss befanden sich im Magazin, ein siebter im Lauf. Das war wenig genug, sollte er sich verteidigen müssen. Woran er nicht denken mochte. Dann war der letzte Schuss für ihn. Er würde sich nicht gefangen nehmen lassen, sondern sein Leben so teuer wie möglich verkaufen. Das schwor er sich immer wieder. Nein, er würde alles tun um zu verhindern, dass man ihn folterte. Dann sich lieber selbst die Kugel geben.
Ein paar letzte, von der Sommersonne getrocknete Beeren fanden sich vereinzelt auf den Sträuchern. Die steckte er gleich in den Mund, froh, etwas nahrhaftes zu sich zu nehmen. Für lange Suchaktionen hatte er keine Zeit. Er war auf das angewiesen, was er gerade so fand. Einige Hagebutten und Schlehen hatte er außerdem sammeln können und sie in den Manteltaschen verwahrt. Dazu ein paar einigermaßen genießbar aussehende Pilze.
Er beschloss, sich einen Platz für die Nacht zu suchen. Unter einem überhängenden Felsen fand er trockenen sandigen Boden. Tau und Regen konnten ihm an dieser Stelle nichts anhaben. Aber wie wollte er sich vor den eisigen Temperaturen in der Nacht schützen? In der Nähe fand er einen schilfbestandenen kleinen Weiher. Ki Su zückte sein Messer und begann mit der scharfen Klinge die festen Halme des mehr als zwei Meter hohen Schilfes zu durchtrennen. Er wünschte sich eine Sichel für diese Arbeit, doch auch mit der Messerklinge ließen sie sich leicht durchtrennen. Nach einer knappen halben Stunde hatte er ein Bündel mit einem Durchmesser von mehr als einem halben Meter geschnitten und zum Lagerplatz geschafft.
Nun begann er, trockenes Holz und Gras zu sammeln, um ein Feuer zu entzünden. Die Nacht würde kalt werden, so viel war klar. Die Furcht, sich eine schlimme Erkältung mit Fieber zu holen, überwog seine Bedenken. Natürlich bestand durch das Feuer eine erhöhte Gefahr, entdeckt zu werden. Aber er hatte keine Wahl.
Auch wenn er kein Papier hatte, gelang es ihm mühelos, die trockenen Grasbüschel zu entzünden. Bald brannte ein kleines, knisterndes Feuer. Er ging zu dem Teich, um die Konservendose, die er aus dem verfallenen Bauernhof mitgenommen hatte, mit Wasser zu füllen. Als es auf dem Feuer zu kochen begann, füllte er die gesammelten Pilze, Beeren und Früchte hinein, um eine Eintopfsuppe zu bereiten. Er hoffte inständig, dass dies alles einigermaßen bekömmlich sein würde. Der Geschmack interessierte ihn zunächst weniger, es ging darum, sich nicht den Magen zu verderben. Deshalb ließ er die Brühe fast zwanzig Minuten vor sich hin köcheln.
Der knappe Liter Suppe sah nicht nur unappetitlich aus, sondern roch und schmeckte auch so. Aber längst nicht so schlimm wie der fürchterliche Fraß im Lager. Und so schluckte Ki Su das Gebräu tapfer hinunter. Er bedauerte, keine Maden und Würmer gefunden zu haben, die diesem dünnen Brei etwas Würze und tierisches Eiweiß hinzugefügt hätten. Einen Löffel besaß er nicht, er trank einfach aus der Dose.
Mit vollem Magen stellte sich schnell eine bleierne Müdigkeit ein. So nah wie möglich legte er sich an das Feuer. Hier in dem engen Bachtal würde der Schein nicht weit zu sehen sein. Er vertraute auf sein Glück und schlief schnell ein.
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Han Sorya war der Verzweiflung nahe. Nicht die geringste Spur von dem Flüchtling. Zwar gab es zahlreiche Hinweise aus der Bevölkerung auf Grund der ständig wiederholten Suchmeldungen in Fernsehen, Radio und mittlerweile auch in den Zeitungen, doch alle Nachforschungen verliefen im Sand. Man hatte ein paar Männer, die dem Fahndungsfoto ähnlich sahen, festgenommen, doch schon bald hatte sich ihre wahre Identität herausgestellt. So kamen sie jedenfalls nicht weiter. Alle Mitarbeiter taten ihr möglichstes, saßen an den Telefonen, verhörten die Festgenommen, steckten an der Wandkarte den Kreis ab, in dem sich der Gesuchte befinden konnte. Und dieser wurde immer größer.
Er beschloss, die Landgrenze im Norden weiter zu sichern. Dazu benötigte er rund eintausend Soldaten, die er in einem Streifen von fünf Kilometern davor in Stellung bringen wollte. Ausgerüstet mit Nachtsichtgeräten, Hundestaffeln und allem, was das moderne Kriegsarsenal sonst noch hergeben würde, müsste sie für einen Flüchtling absolut unpassierbar sein. Außerdem sollte der gesamte Grenzbereich intensiver als bisher mit Hubschraubern überwacht werden.
Han Sorya wurde bei seinem Vorgesetzten, General Lee Son Ok vorstellig.
„Ich vermute, dass der Gesuchte in diesem Grenzabschnitt versuchen wird, nach China zu gelangen. Wir müssen ihn stärker sichern!“.
„Wie stellen Sie sich das vor?“, ereiferte sich sein Vorgesetzter. „Woher soll ich die Verstärkung nehmen?“
„Ich brauche eintausend gut ausgebildete Männer, fuhr Han Sorya ungerührt fort. „ich muss doch nicht an die Bedeutung der Suchaktion erinnern!“
„Ich werde sehen, was sich machen lässt“, antwortete sein Vorgesetzter.
Mehr konnte Han Sorya im Moment nicht tun.
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Ki Su erwachte durch die Kälte, die ihm durch Mark und Bein ging. Dichter Nebel hing im Flusstal. Die Hinterlassenschaft des Herbstes, dürre Äste, braune Gräser und verlassene Spinnennetze waren mit einer dünnen Reifschicht überzogen. So gründlich es ging beseitigte er die Spuren seines Lagers. Würde man entdecken, oder auch nur vermuten, dass er hier gewesen war, war er so gut wie geliefert. Er zerstreute die Asche des Lagerfeuers mit einem Stock, warf sein Bett aus Schilfstroh in den Teich, verwischte mit Reisig die kaum sichtbaren Fußspuren und alles, was sonst auf seine Anwesenheit hindeuten konnte. Dann machte er sich auf den Weg.
Doch wohin sollte er sich wenden? Seine Uhr war als Kompass ohne Sonne nicht zu gebrauchen. Auch die hohen Berge zu beiden Seiten des Tales ließen sich als Landmarken nicht verwenden. Also beschloss er, den Bach zu durchwaten und das jenseitige Ufer zu erklimmen. Und sich dann in dieser Richtung weiter zu bewegen. Er hoffte, dass dies die richtige sein möge.
Mühsam kämpfte er sich das steile Flussufer hinauf. Als er den Bereich der nackten Felsen überwunden hatte, ging es etwas leichter voran. Dichtes Gras mit vereinzelten Büschen und Sträuchern folgte. Endlich hatte er den Rücken des Höhenzugs erreicht. Der zähe Nebel hatte sich etwas gelichtet, so dass er die kalte Wintersonne in ihrem milchigen Kreis erkennen konnte. Er richtete den Stundenzeiger, der jetzt kurz vor der Neun stand, in ihre Richtung, so dass er einen Orientierungspunkt festlegen konnte. Unter sich sah er eine langgestreckte Talmulde, durchzogen mit einzelnen Wasserläufen. Er musste dieses tückische Sumpfgebiet überqueren, wenn er nach Westen wollte.
Also machte er sich an den Abstieg. Als er die Ebene erreichte, blieb er mit dem rechten Fuß im klebrigen Modder stecken. Nur mit Mühe gelang es ihm, sich zu befreien. Nein, dieser Sumpf war nicht zu durchqueren. Er beschloss, ihn weiträumig zu umgehen. Auch wenn dies unnötig Zeit kosten würde, blieb ihm keine andere Wahl. Er wandte sich nach Norden. Bis zur Grenze waren es noch mindestens fünfhundert Kilometer.
Nachdem er bis zum späten Nachmittag marschiert war, erreichte er einen kleinen Bachlauf, der sich in der Senke verästelte. Wieder quält ihn der Hunger. Er beschloss, sich eine Angel zu bauen und sein Glück zu versuchen. Zuerst schnitt er mit der Sägeklinge seines Werkzeugmesssers einen
knapp