Wie gerne dachten die Ertls an dieses vormalige friedliche Zusammenleben im Dorf zurück.
Sie erinnerten sich, wie unbelastet sie vorher lebten und wie vertrauensvoll sich die Dorfbewohner untereinander in allen Dingen des Lebens anvertrauen konnten, einander selbstlos halfen, wenn Not am Mann war. Wie oft hatte Viktor Ertl unter seinem persönlichen Einsatz ehemalige Kontrahenten in seinen Bergkeller geladen und beim Uhudler-Wein zu vermitteln versucht. Unzählige Ungereimtheiten hatte Viktor Ertl als Bürgermeister oft mit viel Bauernschläue, ohne amtliche Wege begehen zu müssen, regeln können. Wenn sich eine Partei in die Gemeindestube beklagen kam, schickte er den Kloarichter (Gemeindediener) nach der anderen Partei, um dann in Ehe- oder Ehrenbeleidigungssachen, Grenzstreitigkeiten etc. zu vermitteln. Öfters zahlte der schuldige Teil die kleine Gebühr des anderen für die Amtshandlung mit, damit die Streitigkeiten beendet waren. Von jeher war das Bürgermeisteramt für Viktor Ertl eine Anlaufstelle, er hatte Autorität, sein Wort war Gesetz im Dorf. Die Dorfbewohner hatten Vertrauen zu ihm, er kannte alle Geheimnisse der Dorfbewohner, ohne diese anvertrauten Geheimnisse zu verraten oder zu missbrauchen.
Und jetzt wurde er von allem ausgeschaltet und musste hilflos zusehen, wie sich die neue, angsteinflößende Zeit stillschweigend, rücksichtslos ihren Weg bahnte und wie ein bösartiges Krebsgeschwür alle Institutionen und Lebensbereiche stillschweigend unterwanderte.
Dass er nun seines Bürgermeisteramtes, aus seiner Sicht schuldlos, enthoben wurde und die Anliegen der schutzbefohlenen Dorfbewohner nicht mehr vertreten konnte, kränkte ihn. Viktor Ertl freute es aber, wenn er unter der größten Geheimhaltung noch von vielen Dorfbewohnern als heimliche Anlaufstelle für ihre Probleme angesprochen wurde. Jeder wusste, dass er ein korrekter, verlässlicher Mann war, der nicht aus eigener Schuld sein Bürgermeisteramt losgeworden war. Sympathisanten des neuen Systems betrachteten dies missgünstig.
Auch fehlte ihm der Kontakt mit dem Lehrer Lorenz Schmid. Wenn er daran dachte, wie viele schöne Stunden er mit dem Lehrer sowohl in seinem Bergkeller als auch bei den Tour (Totenmahl), Hochzeiten, Taufen verbracht hatte und wie gute Freunde sie geworden waren, wurde er traurig.
Dazu kam, dass ihm seine wichtigste Einkommensquelle beim Juden Isidor Holz, Inhaber einer Greißlerei und eines Gasthauses, für den Viktor Ertl im Winter mit dem Schlitten, im Sommer mit dem Pferdegespann allerlei Fuhrwerksdienste gegen Entgelt geleistet hatte, durch das neue NS- Regime entzogen wurde. Auch einen Teil seines Weines hatte Viktor Ertl Isidor Holz zwecks Weiterverkauf verkauft.
Nachdem die nationalsozialistische Rassenpolitik die Menschen in „wertvolle“ und „minderwertige“ Rassen kategorisierte, die „nordische Rasse“ (Arier) zu „Herrenmenschen“ idealisierte, die Juden, Zigeuner, Menschen slawischer, afrikanischer und asiatischer Abstammung zu „Untermenschen“ deklassierte, jede Höflichkeit gegenüber Juden untersagte und der geschäftliche Umgang mit Juden bereits seit März 1938 verboten wurde, traute sich niemand mehr, das Geschäft des Juden zu betreten.
Viktor Ertl konnte nicht verstehen, warum alle nun den bisher unbescholtenen Juden meiden sollten. In seine Greißlerei kamen die Bauern und tauschten ihre Eier, getrocknete, geschälte Kürbiskerne, Schwammerl gegen Zucker, Salz, Malzkaffee, Soda, Petroleum, Zünder, Waschpulver, Salzleckstein, Laugenstein, Löschkalk, Blaustein, Feuerzeugbenzin zum Einfüllen in das Feuerzeug, Germ und Gewürze ein.
Er wurde von allen Dorfbewohnern immer als fleißiger, verlässlicher, gesetzestreuer Mann geschätzt.
Wie gerne kamen die Männer im Dorf abends zu ihm in die Schankstube, um mit ihm oder anderen Gästen zu trinken, Karten zu spielen und viele sahen dort ihre ersten Kondome. Sein legendärer, Generationen überdauernder Ausspruch war, wenn er am Fenster zur Straße stand: „Die Leute arbeiten immer, wann machen die ihr Geld?“ Allerdings ärgerten sich Ehefrauen oft über ihn, da er ihren betrunkenen Männern, obwohl sie kein Geld hatten, viele Zechen und Einkaufsschulden stundete und aufschrieb, Geld verlieh, Dollars von Familienangehörigen aus Amerika oft anstatt zum Zweck finanzieller Familienaufbesserung zweckentfremdend für Zechen annahm, Schuldscheine ausstellte und etliche Wälder und Liegenschaften zum Verdruss der Familienangehörigen in seinen Besitz brachte.
Isidor Holz war ein gewiefter Geschäftsmann, der zweimal wöchentlich in einem halbtägigem Fußmarsch mit seinem umgehängten Rucksack Tabakwaren von der nächsten Stadt holte.
Er war ein sehr sparsamer Mensch. Denn jedes Mal, wenn er das Stamperl Schnaps zu voll einschenkte, trank er herunter. Wenn die Gäste fortgingen und noch Reste in ihren Gläsern hatten, schüttete er die Norgl (Reste) zusammen und verkaufte sie wieder. Wenn er früher als sonst, vor dem Mitternachtsgang des Nachtwächters, oder wenn die Jäger von der Jagd spät heimkamen, schlafen ging, stellte er das Bier vor die Tür, um keinen Geschäftsentgang zu haben. Ebenso nahmen sich die Bauern beim Vorbeigehen morgens um 4.00 Uhr früh, wenn sie mit ihren Sensen, den Wetzsteinen im Kumpf, die Wiesen mähen gingen, das bereitgestellte Bier mit. Und die Kunden bezahlten am nächsten Tag mit ihren von Verwandten aus Amerika geschickten Dollars, welche ihrer Familie zugutekommen sollten, und tranken noch einige Stamperl Rum und Schnaps.
Genauso schickte der Jude seinen Buben sofort los, um seine guten Stammkundschaften zu holen, wenn der Bäcker und Fleischhauer ihre Waren lieferten, damit sie kostenlos zum Trinken kamen, denn nach ein paar Deziliter Wein zahlten die Lieferanten die ganze Zeche.
Nachdem Viktor Ertl den kleinen Sohn von Isidor Holz nach einem Pferdebiss mit seinem Pferdewagen ins Krankenhaus brachte, war ihm der Jude ein Freund geworden.
Diese besondere Freundschaft entwickelte sich an jenem Unglückstag im Winter, als er den vor Schmerzen wimmernden kleinen Sohn des Juden nach einem Pferdebiss ins Gesicht im Hof liegen sah. Die Zähne des kleinen Jungen waren herausgefallen und überall war Blut im Schnee. Der Jude wusch das Blut ab, während die Mutter des Buben über ihn gebeugt nur schmerzlich stöhnte. Nachdem die unbefestigten Fahrwege durch viele Schlaglöcher von Autos nicht befahrbar waren, beförderte Viktor Ertl mit dem Pferdeschlitten den Verletzten zum nächsten Krankenhaus. Er hatte auf seinem Pferdeschlitten eine dicke Federntuchent für den Sohn untergelegt und eine Tuchent zum Zudecken gebracht, ebenso warme Ziegel zum Aufwärmen zwischen die Tuchenten gegeben. Dann fuhr er mit ihm in das 15 km entfernte Krankenhaus.
Wie oft befürchtete er, wenn es heil (glatt) war, einen Achsenbruch und oft musste er wegen der vielen Schlaglöcher absteigen, mit dem mitgebrachten Krampen die Löcher zuhacken, Reisig darüberlegen, um weiterfahren zu können.
Wenn der Jude in der weit entfernten Synagoge bei Versöhnungsabenden, wo viele Christen dabei waren, den Rabbiner, welcher ein guter Freund des katholischen Priesters war, beten und predigen hören wollte, bat er öfters Viktor Ertl, ihn hinzubringen. Dann spannte Viktor Ertl seine Pferde vor die Kutsche des Juden und saß stolz auf dem Kutschbock, während er seine Pferde dirigierte. Dort bewunderte Viktor Ertl die Kales (Kaleschen) und Pferde der anderen Juden. Wenn der Jude zu den Gebeten nicht kommen konnte, schickte er dem Rabbiner oft Suppenhühner und anderes Geflügel mit.
Wie oft hatte Holz mit seinen Verdiensten als Soldat im Ersten Weltkrieg geprahlt und wollte und konnte sich die Verfolgung der Juden zuerst nicht vorstellen. Als den Juden und Zigeunern das Stimmrecht laut Runderlass des Bundeskanzleramtes vom 16. 3. 1938 für die Volksabstimmung am 10. 4. 1938 entzogen wurde, nach dem Anschluss vielfach Bargeld, Möbel konfisziert, etliche Juden von der Gestapo verhaftet, Ausgangssperren verhängt wurden, und er weitere Verfolgungen fürchtete, zudem feststellte, dass sich keine Kundschaft mehr in sein Geschäft traute, abends ein Stein durch sein Küchenfenster auf seinen Teller geworfen wurde, seine Hausmauer mit „Saujude verschwinde“ beschmiert wurde, war er, nachdem er seinen Sohn abends um die Adresse seiner entfernten Verwandten in Amerika schickte, aus dem Dorf verschwunden, was viele Schuldner im Dorf freute.
Bevor er ging, versteigerte er wie alle anderen Auswanderer im Dorf sein ganzes Inventar, jedes Backblech, jeden Kopfpolster, alles, was nicht niet- und nagelfest war, alles bewegliche und unbewegliche Inventar. Viktor Ertl ersteigerte beim Lizitieren eine