Bekker begrüßte ihn freundschaftlich. Er kannte hier alle, von der Putzfrau bis zu den Oberärzten. Obwohl er als anästhesiologischer Oberarzt für die Neurochirurgie zuständig war, machte er keine regelmäßigen Visiten auf der neurochirurgischen Intensivstation.
Professor Brücher schätzte es nicht, wenn andere Fachgebiete sich auf Stationen, die zu seiner Klinik gehörten, tummelten, und bei der Intensivstation war er besonders heikel. Gleichwohl und inoffiziell wurden zu sämtlichen Patienten mit schwieriger Beatmung Anästhesisten hinzugezogen. Jeder wusste das, wahrscheinlich auch Brücher selbst, aber man sprach nicht darüber, und es fanden sich dazu auch nie spezifische Eintragungen in der Patientenkurve. Fritsche duldete diesen Zustand zähneknirschend, obwohl es ihm Kopfschmerzen bereitete. Irgendwann würde etwas schiefgehen und wer war dann verantwortlich?
„Dies ist Frau Menzel, die Ehefrau des Patienten. Ruth, dies ist Dr. Tanaka, der diensthabende Arzt der Station.“ Bekker stellte die beiden einander vor.
„Du siehst, Jürgen wird heute Nacht von einem echten Samurai bewacht.“ Wieder so ein missglückter Scherz.
Tanaka lächelte freundlich. Wahrscheinlich fand er es nicht komisch. Was er wirklich dachte, wusste ohnehin niemand. Ruth Menzel lächelte nicht. Ihr war nicht danach zumute.
„Können wir hinein?“ fragte sie an den Japaner gewandt. Der nickte und ging voran. Bekker blieb dicht hinter ihr, um nah genug zu sein, falls sie schwach würde. Sie trat an das Bett ihres Mannes, der regungslos, den Oberkörper leicht aufgerichtet, im Bett lag, die Augen geschlossen. Aus seinem linken Nasenloch ragte ein daumendicker Silikonschlauch, der über ein Ziehharmonika artiges Zwischenstück mit den Schläuchen der Beatmungsmaschine verbunden war. Ein weiterer, dünnerer Schlauch, in dem eine grünliche Flüssigkeit stand, kam aus dem anderen Nasenloch und mündete in einen Plastikbeutel, der an einer seitlichen Leiste des Bettes befestigt war. Ruth Menzel war blass geworden, und man sah, dass sie kämpfte. Auf ihren fragenden Blick hin erklärte Bekker,
„Der dicke Schlauch in der Nase ist ein Beatmungstubus. Er reicht bis in die Luftröhre. Normalerweise legt man ihn durch den Mund. Wenn die Patienten aber in sitzender Position operiert werden, ist die nasale Intubation praktischer. Ich weiß, das sieht für den Laien grässlich aus, ist aber reine Routine. Jürgen spürt nichts. Morgen hat er das Ding sowieso nicht mehr im Hals. Das andere ist eine Magensonde. Kommt auch bald raus. Das Grüne ist Galle. Die produzieren wir alle ununterbrochen, zur Verdauung. Ganz normal.“ Er versuchte das Szenario als möglichst banal darzustellen, etwas vollkommen Alltägliches. Und das war es aus seiner Sicht auch.
Trotzdem schwankte die junge Frau. Bekker fasste ihren Arm, aber sie straffte sich und musterte ihren Mann, wie er dort hilf- und regungslos lag, angeschlossen an Maschinen und Überwachungsgeräte. Es war unfassbar, dass dies der gleiche Mann war, der am Wochenende noch fünf Tore für seinen Club geschossen hatte. Den sie letzte Nacht zärtlich in den Arm genommen hatte, als sie beschwipst nach Hause gekommen war.
„Halt Dich ran“, hatte sie ihm ins Ohr geflüstert, „ich bin noch ziemlich begehrt, mein Lieber.“
Tatsächlich hatte sie sich etlicher, teilweise derber Avancen bezechter Vorstadtcasanovas erwehren müssen. Es war ein unausrottbares Vorurteil, Frauen wären an Weiberfastnacht ausschließlich auf das Eine aus und warteten nur darauf, dass sich ein gestandener Kerl ihrer erbarmte. Jetzt hätte sie sich für ihre nächtliche Bemerkung am liebsten geohrfeigt. Sie liebte ihren Mann. Ein bisschen Flirten war erlaubt, na klar, aber ohne Anfassen. Da war sie eisern, und ihr Mann, davon war sie überzeugt, hielt es ebenso. Jetzt lag er in dem Bett mit den unnatürlich weißen Laken, so hilflos und verletzlich. So stumm. Er schlief offensichtlich oder stand unter der Wirkung starker Schlafmittel. Jedenfalls rührte er sich nicht. Der Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig im Rhythmus des Beatmungsgerätes. Wie Bekker angekündigt hatte, war sein Kopf mit einem dicken Verband umhüllt, der ein wenig an einen Turban aus Tausendundeiner Nacht erinnerte. Von Brustkorb und Hals gingen weitere Schläuche und Kabel ab. Ein dünner Schlauch kam direkt unter dem Kopfverband hervor, mit einer Blutsäule, die in permanenter Bewegung war, was man an den wandernden Bläschen gut erkennen konnte.
Ruth Menzel blickte Bekker erneut an, hilfesuchend. Es schnitt ihm ins Herz, sie so hilflos und verstört zu sehen. Aber auch ein Gefühl von Eifersucht nagte an ihm, und er schämte sich dafür.
„Das ist eine Redondrainage, ein kleiner Kunststoffschlauch, der im Operationsgebiet liegt, damit das Blut aus der Wunde ungehindert abfließen kann. Die Drainage mündet in eine sterile Plastikflasche mit Vakuum, sodass immer ein gewisser Sog vorherrscht. Auf diese Weise verhindert man nicht nur ein Blutgerinnsel im Gehirn, sondern hat auch eine gute Kontrolle für den Fall, dass der Blutverlust größer ist als üblich.“ Sie sah ihn voller Sorge an.
„Keine Angst, was da abfließt, ist ganz normal. Wundsekretion. Das wird noch eine Weile vor sich hin sickern und dann steht das Ganze von allein. Kein Grund zur Sorge, wirklich nicht. Ich denke, wir gehen jetzt. Du kannst ohnehin nichts für ihn tun. Ich bleib dran“, fügte er beschwichtigend hinzu.
In diesem Moment wurde ihm siedend heiß bewusst, dass er in weniger als vierzehn Stunden im Flieger Richtung Süden sitzen würde. Das wusste Ruth natürlich nicht, und er würde es ihr auch nicht sagen. Jedenfalls nicht jetzt. Hoffentlich war der postoperative Verlauf problemlos. Ruth nahm seinen Arm und wendete sich zur Tür. Er ließ sie für einen Moment los, um noch einmal an das Bett zu treten. Mit einer kleinen Lampe, die einen scharf umrissenen Lichtkegel warf, inspizierte er die Pupillen des Patienten. Sie waren eng und reagierten, kaum sichtbar, träge auf Licht. Das war normal. Opiate machten die Pupillen eng und davon hatte der Patient einiges bekommen. Tanaka würde die Untersuchung der Pupillen stündlich vornehmen, wie das bei Patienten mit frischer Hirnoperation Standard war.
„Rufen Sie mich bitte an, ganz gleich, um welche Uhrzeit, wenn irgend etwas nicht in Ordnung scheint“, sagte Bekker an den Japaner gewandt, und um der Sache Nachdruck zu geben,
„Die Ehefrau wäre dann sehr beruhigt.“ Ruth Menzel, die in der Tür stand, nickte heftig.
„Versprochen“, sagte Tanaka und verbeugte sich. Bekker zwinkerte ihm kurz zu und verließ mit der jungen Frau die Station. Die Flure waren leer und ihre Schritte hallten laut und fremd. Hin und wieder zwei weißgekleidete Gestalten, die ein Bett um die Ecke schoben oder in einen Aufzug oder heraus. Beide waren in Gedanken versunken. Sie näherten sich dem Parkplatz. Bekker sah sie an und zögerte. Schließlich bot er ihr an,
„Ich kann Dich nach Hause bringen, ’ist ja praktisch auf dem Weg. Ich meine“..., er räusperte sich, „falls Du jetzt nicht selber fahren möchtest...“ Obwohl die Situation wirklich nicht danach aussah, wurde ihm schmerzlich bewusst, wie sehr er sich noch zu ihr hingezogen fühlte, auch wenn sie seit vielen Jahren die Frau seines besten Freundes war. Verdammt, was sollte er machen? Scheinbar ahnte sie etwas, jedenfalls wurde sie ohne jeden äußeren Anlass rot.
„Nein Peter, wirklich nicht nötig. Lieb von Dir, aber ich bin wieder vollkommen okay. Vorhin war ich etwas .... na ja, die Aufregung, die Ungewissheit. Aber jetzt ist ja wohl alles unter Kontrolle, oder?“ Sie war nicht wirklich beruhigt. Das alles war so schnell gegangen. Eine Operation am Gehirn. Für einen Laien gab es kaum etwas Furchterregenderes.
„Absolut. Was jetzt kommt, ist nur noch Routine. In zwei Wochen spätestens ist der Jürgen wieder in der Firma, verlass Dich drauf.“ Es entstand ein kurzes Schweigen. Bekker überlegte, ob er sie noch auf einen Drink einladen könnte, aber das war wohl nicht der richtige Moment. Es war schon ziemlich spät. Sie würde ablehnen und es womöglich als geschmacklos empfinden, auch wenn sie gute Freunde waren. Andererseits mochte er sich nicht von ihr trennen. Sie war eine reife Frau und noch viel schöner als das dralle junge Mädchen von damals. Bekker hoffte, sie würde etwas sagen. Vielleicht, dass sie jetzt nicht alleine sein wollte. Aber sie schwieg.
„Danke, Peter“, sagte sie schließlich, trat kurz an ihn heran und gab ihm einen flüchtigen Kuss