Das Hospital. Benno von Bormann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Benno von Bormann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738094824
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konnte, wenn’s zum Schwur kam, die Karriere retten. Gutachter hatten meistens nicht mehr zur Hand, als die Dokumentation. Bekker versuchte das seinen Mitarbeitern immer wieder einzubleuen, vor allem denen mit „Sauklaue“, deren Protokolle zwar vollkommen korrekt angelegt, jedoch für einen Dritten nicht lesbar waren.

      „Das kann Sie Kopf und Kragen kosten“, sagte Bekker in der Frühbesprechung immer wieder. Meist wedelte er dann mit einem Musterbeispiel an schlampiger Protokollführung.

      „Sie können alles richtig, ja perfekt gemacht haben – fehlerlos sozusagen. Wenn der Gutachter ihre Schrift nicht lesen kann und aus Ihren Hieroglyphen nicht schlau wird, dann verwendet er das gegen Sie. Was das bedeutet, wissen Sie hoffentlich. Dann kommt es zu dem, was die Juristen Beweislastumkehr nennen. Nicht der Patient hat zu beweisen, dass er durch Ihre Schuld zu Schaden gekommen ist, sondern Sie müssen beweisen, dass es nicht so ist. Und das nur, weil Sie ein bisschen Mühe gescheut haben. Also bitte, dokumentieren Sie sauber und leserlich. Protokolle sind Dokumente.“

      Die Operation hatte begonnen. Es würde ein langer Vormittag werden. Der Patient war bereits etliche Male voroperiert, und es konnte eine Weile dauern, bis Bach und die beiden Assistenten, die inzwischen hinzugekommen waren, soweit waren. Bekker war es recht. Er hatte sich mit Kunze so gut es eben ging arrangiert, konnte aber auf ihn verzichten.

       9. Kapitel Universitätsklinik

      Bekker hatte sich umgezogen und verließ eilig die Umkleide des zentralen Operationstraktes. Ruth Menzel saß auf der Besuchercouch in seinem Zimmer und erhob sich, als er eintrat, mit einem Blick aus Sorge und Erleichterung.

      „Alles okay“, er gab seiner Stimme einen munteren Klang, obwohl das nicht seiner Gemütslage entsprach, nahm sie dann in die Arme und streichelte geistesabwesend ihren Rücken.

      „Die Operation war ein bisschen kompliziert, aber nichts wirklich Dramatisches. Wir mussten allerdings ein paar Blutkonserven geben. Das ist natürlich kein angenehmer Eingriff. Dein Mann hat jetzt einen großen Turban aus Verbandsstoff auf dem Kopf, also bitte nicht erschrecken, wenn Du ihn gleich siehst.“ Sie löste sich von ihm und sah ihn fragend an:

      „Was war denn nun eigentlich? Es hat uns ja keiner etwas Genaues gesagt. Sie haben Jürgen stundenlang untersucht, ohne dass mit ihm oder mir ein Gespräch stattgefunden hätte. Nur kurz bevor es losging, da war dann plötzlich alles schrecklich eilig. Der Oberarzt, Weiss oder so heißt er“, Bekker nickte zustimmend, „tat furchtbar geheimnisvoll. Man müsse sofort operieren, das sei alles sehr kompliziert. Aber wir wären hier in den besten Händen und sollten eben noch unterschreiben. Wir waren natürlich wie vom Donner gerührt, zumindest ich. Der Jürgen hat ja vor lauter Schmerzen nicht mehr papp sagen können. Ich hab’ alles unterschrieben. Was hätte ich auch sonst machen können? Du warst nicht erreichbar, und ich hab’ doch von alledem keinen blassen Schimmer.“ Ihr Ton war vorwurfsvoll, obwohl sie es wahrscheinlich gar nicht so meinte.

      Bekker hatte wirklich nicht ahnen können, dass sein bester Freund ohne jede Vorankündigung plötzlich als Notfall aufkreuzen würde. Ausgerechnet heute war einer seiner Wissenschaftstage, an dem er sich im Stall bei den Versuchstieren aufhielt und sein Funk nicht eingeschaltet war. Seriöse wissenschaftliche Arbeit war ohne solche Auszeiten undenkbar, bei einem Zwölfstundentag und sieben bis zehn Bereitschaftsdiensten pro Monat.

      „Ein wenig gewundert hat es mich schon“, fuhr die junge Frau fort, „dass auf einmal eine solche Hektik ausbrach. Nach so vielen Stunden ging’s plötzlich um Minuten.“ Sie schüttelte den Kopf.

      Bekker schwieg. Er sah das alles ähnlich kritisch, hielt sich aber zurück. Es gab keinen Anlass, etwas zu beschönigen, aber Ruth und ihr Mann benötigten in den nächsten Tagen das Vertrauen in die Therapeuten, und das war erheblich wichtiger als Kritik, so berechtigt sie auch sein mochte. Beide sagten eine Weile nichts. Ruth versuchte offensichtlich sich zu sammeln. Bekker räusperte sich.

      „Jürgen hatte eine Veränderung einer Hirnarterie, eine Art Aussackung, Aneurysma genannt, das jederzeit platzen kann. Dann ist man tot, sorry. Besonders unangenehm, weil es keine typischen Symptome gibt, die auch ein Laie rechtzeitig erkennt. Manchmal reißt die Arterie nur ein wenig ein. Dann entwickeln die Patienten typische Zeichen eines beginnenden Hirndrucks, Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit.“

      Er hielt verdutzt inne. Verdammt! Haargenau diese Symptome waren bei seinem Freund Jürgen während der letzten Wochen mit zunehmender Frequenz und Heftigkeit aufgetreten. Und er, der große Experte, war nicht einmal auf die Idee gekommen. Typisch, bei Freunden, Bekannten und sich selbst kommen Ärzte oft nicht auf die naheliegenden Zusammenhänge. Er könnte sich ohrfeigen. Dabei war er nun schon mehr als vier Jahre in der Neurochirurgie tätig und kannte das Krankheitsbild in- und auswendig.

      Brücher war ein weltweit renommierter Experte für das Clippen eines intrakraniellen Aneurysmas. Er war der erste Neurochirurg überhaupt, der diese Operation gewagt hatte. Bis dahin war es Lehrmeinung, Patienten mit intrakraniellem Aneurysma seien nicht zu retten, sie verbluteten mit und ohne Operation, früher oder später. Brücher hatte die Fachwelt eines Besseren belehrt. Inzwischen kamen Patienten aus aller Welt, um von ihm operiert zu werden und Bekker hatte viele von ihnen betreut. Warum nur hatte er die Symptome bei seinem besten Freund übersehen?

      Er kratzte sich verlegen am Kopf. Ruth war nicht dumm. Ihr würden mit Sicherheit ähnliche Überlegungen durch den Kopf gehen. Bekker versuchte ganz gelassen fortzufahren, wie der Lehrer zu seinem Schüler, konnte aber das Schuldbewusste in seiner Stimme nicht unterdrücken.

      „Inzwischen ist der Eingriff Standard. Brücher ist da wirklich der beste Mann. Ihr seid hier sozusagen an der Quelle.“ Die letzte Bemerkung kam Bekker fehl am Platz vor. Erneut schalt er sich einen Idioten.

      „Bluten kann es natürlich immer, daran hat sich nichts geändert, aber man hat inzwischen bessere Methoden der Blutstillung, und durch die moderne Anästhesie eine optimale Kreislaufüberwachung.“ Das klang alles so lahm. Was wollte er eigentlich sagen? Vorbereitung auf den Gau? Warum? Alles war paletti. Schließlich, „Natürlich ist der Eingriff weiterhin nicht ohne. Die Indikation bedarf einer hieb- und stichfesten Diagnose, und das dauert halt eine Weile.“

      Bekker biss sich auf die Lippe. War das eine Vorlesung? Das Letzte war grundsätzlich richtig, eine allgemeine Floskel, die schließlich auf alles zutraf. Für den vorliegenden Fall war es ausgemachter Blödsinn. Für die Diagnostik eines intrakraniellen Aneurysmas benötigten die Neuroradiologen maximal eine Stunde und nicht einen halben Tag. Bei allen Aneurysma-Patienten wurden jedoch aus wissenschaftlichen Gründen etliche Zusatzuntersuchungen gemacht, unter anderem zwei Millimeter dünne Schichten im Computertomogramm.

      ‚Wer’s als Patient schnell und zielstrebig will, darf nicht an die Uni gehen‘, dachte Bekker bitter. Er fasste Ruth am Arm.

      „Komm, lass uns eben auf die Intensivstation gehen. Viel zu sehen gibt es zwar nicht, aber du kannst dann beruhigt nach Hause fahren. Ich nehme an, dass Jürgen morgen oder spätestens übermorgen auf eine Normalstation verlegt wird.“ Sie seufzte und nickte, holte noch einmal das Taschentuch hervor, um sich die Augen zu trocknen und die Nase zu schnäuzen.

      „Ich sehe bestimmt grässlich aus“, sagte sie.

      ‚Sind doch alle gleich, die Girls‘, dachte Bekker belustigt, aber auch ein bisschen erleichtert, und fürsorglich,

      „Der Jürgen sieht Dich jetzt sowieso nicht. Außerdem bist Du schön wie eh und je.“ Obwohl er das nur so dahin sagte, wurden sie beide rot.

      Die neurochirurgische Intensivstation war nur spärlich belegt; lediglich drei Patienten bei zehn Behandlungsplätzen. Jürgen Menzel, der gerade aus dem OP hineingefahren wurde, war für diese Nacht der vierte. Bekker und Ruth Menzel trafen auf dem Flur den diensthabenden neurochirurgischen Assistenten, Dr. Tanaka, der die Intensivstation bis morgen früh betreuen würde.

      Tanaka war Facharzt für Neurochirurgie. Er kam aus Kyoto und hatte das Stipendium eines japanischen Autokonzerns. Sein Deutsch war, wie bei den meisten Japanern, die hier lebten tadellos. Zudem war er außerordentlich kompetent, und Brücher hielt große