„Dennoch wirst du mir versprechen, es nur dann zu tun, wenn einer der Männer dich dabei festhält, ja?“
„Ich bin aber schon groß“, erwiderte Neliana ernsthaft. „Ich kann schon alleine hinauf.“
Nedeam seufzte leise. Es war nur natürlich, dass ein Kind Stolz empfand, wenn es zum ersten Mal alleine ein Hindernis überwand. „Siehst du den guten Herrn Brasmut, der auf dich achtgeben sollte?“
„Brasmut ist lieb.“ Neliana strahlte die Schwertmänner an. „Die Männer mit den blauen Haaren sind alle lieb.“
Sie spielte auf die blauen Rosshaarschweife an, die an den Helmen der Männer befestigt waren und die als das Kennzeichen der Schwertmänner der Hochmark dienten. Die Männer Nedeams grinsten erfreut.
„Ja, sie haben dich auch alle lieb“, sagte Nedeam leise. „Aber sieh dir den guten Herrn Brasmut genauer an. Er hat sich sehr erschreckt, als du auf die Mauer geklettert bist, und sehr viel Angst um dich gehabt.“
„Oh, wirklich?“
„Ja, wirklich.“
Neliana überlegte kurz und ging dann zu dem verwirrten Schwertmann hinüber. „Du brauchst keine Angst haben. Ich gehe nur mit dir auf die Mauer.“
Der Kämpfer strich dem Kind verlegen über das lange Haar und sah Nedeam und Llaranya dabei an. „Es wird nicht wieder geschehen, ganz gewiss nicht.“
„Macht Euch keine Vorwürfe, guter Herr Brasmut. Es hätte ebenso leicht geschehen können, während Llaranya oder ich bei ihr gewesen wären“, erwiderte der Pferdefürst. „Wir sollten diesen Schrecken vergessen, und ich denke, Neliana könnte jetzt eine Erfrischung gebrauchen.“
Nedeam zog die Kleine aus Llaranyas Arme und nahm sie huckepack. Er wusste, wie sehr sie es liebte, auf seinen Schultern zu reiten und dabei seine Haare in Unordnung zu bringen. Vorsichtig ging er unter dem Türsturz in die Knie, damit sich Neliana nicht den Kopf stieß, betrat seinen Arbeitsraum und setzte sich in seinen Stuhl. Erst dann ließ er das Mädchen langsam von seinen Schultern auf seinen Schoß gleiten.
Llaranya war ihnen gefolgt und sah ihre Tochter skeptisch an. „Ich glaube, du solltest sie mir geben.“
„Warum?“ Er grinste breit. „Eifersüchtig?“
„Nun, sie hat diesen speziellen konzentrierten Gesichtsausdruck …“
„Oh.“ Nedeam hob die Zweijährige an, doch es war schon zu spät. „Sie hat mich genässt.“
„Nun, dies geschieht gelegentlich, wenn Väter ihre Töchter auf dem Schoss haben. Eigentlich bemerkt sie immer rechtzeitig, wenn es so weit ist. Sie ist ein kluges Kind.“
„Ja, ich weiß, sie ist eine halbe Elfin. Dennoch hat unser Augenstern mich nass gemacht.“
„Nur weil das liebevolle Antlitz ihres Vaters sie ablenkte“, versicherte Llaranya.
„Hm.“ Nedeams Unmut wandelte sich in Verlegenheit. „Nun ja, es ist nur ein wenig Nässe“, räumte er ein. „Eigentlich kaum zu bemerken.“
„Du solltest dennoch deine Beinkleider wechseln, mein geliebter Gemahl“, riet die Elfin lächelnd. „Fangschlag und Arkarim werden gleich hier sein, und es schickt sich nicht für den Pferdefürsten der Hochmark, mit genässten Beinkleidern vor ihnen zu stehen.“
Llaranya nahm Neliana lächelnd entgegen und verließ den Amtsraum durch die Tür, die in die privaten Gemächer führte. Noch bevor Nedeam folgen konnte, um sich umzuziehen, pochte es an der vorderen Tür, und der Ehrenposten blickte herein.
„Der hohe Herr Arkarim, Erster Schwertmann der Mark, und Fangschlag, äh, Berater des Pferdefürsten“, meldete er.
Es war ein ungewöhnliches Gespann, welches den Raum betrat.
Fangschlag war wohl gut anderthalb Köpfe größer als Arkarim und musste sich unter dem Türsturz bücken. Obwohl seine Figur der eines Menschen entsprach, gab es eine Reihe von Unterschieden. Alles wirkte ein wenig kantig und grob, und die Haut war rot und grün gescheckt. Die Fingerkrallen waren schwarz, die Lippen von dunklem Grün. Die Augäpfel waren tiefrot und besaßen gelbe, schlitzförmige Pupillen, die sich, je nach Stimmungslage, kreisrund weiten konnten. Aus dem kräftigen Gebiss ragten lange Fangzähne und das Lächeln ihres Besitzers konnte ebenso beeindruckend wie furchterregend sein. Fangschlag war ein Ork, eines der mächtigen und stolzen Rundohren, die den Menschen in der Schlacht mit schweren Rüstungen und gefährlichen Schlagschwertern entgegentraten. Er war sogar der Befehlshaber mehrerer Legionen gewesen und hatte den Pferdelords in mancher Schlacht gegenübergestanden. Schon damals war sein ungewöhnliches Ehrempfinden auffällig geworden, denn als einer der Pferdelords seine Waffe verlor, wartete das Rundohr ab, bis sein Gegner wieder bewaffnet war. Fangschlag hatte den Vorstoß der Orks in die Öde von Rushaan befehligt und dabei viele seiner Krieger durch den Verrat des Spitzohrs Einohr verloren. Dies hatte ihn dazu bewogen, sich in auswegloser Situation den Pferdelords zu ergeben und an ihre Seite zu treten, mit dem Ziel, den Verräter Einohr zu stellen und persönlich abzuschlachten. Er erwies sich als zuverlässiger Waffengefährte, und doch wusste niemand zu sagen, wie er sich verhalten mochte, wenn er seine Rache endlich vollendet hatte. Es war möglich, dass er dann abermals die Seiten wechselte, und diese Vorstellung behagte keinem der Pferdelords.
Arkarim hingegen war ein typischer Pferdelord, der in den Diensten der Hochmark stand. Er hatte sich vom einfachen Scharführer bis zum Ersten Schwertmann, dem Bannerträger seines Pferdefürsten Nedeam, hochgedient und manches Abenteuer mit ihm bestanden. Der Aufstieg zum Ersten Schwertmann hatte es ihm endlich ermöglicht, seine Etana zu heiraten, denn eigentlich war es den Schwertmännern verboten, sich an eine Frau zu binden. Arkarim war schlank und ein überaus fähiger Kämpfer. Für Nedeam war er mehr als ein treuer Gefährte, auf den er sich bedingungslos verlassen konnte. Arkarim war, obwohl den Traditionen eng verbunden, Neuem gegenüber aufgeschlossen. In diesen Zeiten der Veränderungen war dies eine wichtige Voraussetzung, um gegen den erstarkenden Feind zu bestehen.
Diese beiden außergewöhnlichen Waffengefährten hatten Nedeam ihren Besuch angekündigt und ihm eine Neuigkeit versprochen. Vor allem Arkarim machte ein großes Geheimnis daraus, und der Pferdefürst war gespannt, was der Freund ihm offenbaren wollte.
„Lasst sie herein“, sagte Nedeam lächelnd zu der Ehrenwache und trat den Freunden entgegen, um sie zu begrüßen. Er bemerkte den Blick, den Arkarim auf die nasse Stelle an seinen Beinkleidern warf, und lachte auf. „Neliana hat uns gerade ein wenig in Atem gehalten. Ich fand noch keine Zeit, die Kleidung zu wechseln.“
„Eine süße Kleine“, meinte Fangschlag und bleckte die Fänge. „Sicherlich ist sie ausgesprochen schmackhaft.“ Als er Nedeams Blick bemerkte, stieß er einen bellenden Laut aus. „Ein Scherz, Pferdemensch, ein Scherz. Ich würde niemals die Fänge in das zarte Fleisch deines Jungwurfs schlagen.“
„Sehr beruhigend“, knurrte Nedeam, den der misslungene Scherz des Kampfgefährten daran erinnerte, dass Orks Menschen durchaus als Bestandteil des Speiseplans betrachteten.
„Ich bin jetzt zivilisiert“, versicherte das riesige Rundohr. „Ich fresse keine Menschen mehr und würge auch nicht mehr so stark, wenn ich euch an dem verbrannten Fleisch nagen sehe, welches ihr so liebt.“
„Ich weiß, wie schwer dir das gelegentlich fällt“, meinte Arkarim mit breitem Grinsen, „und wie sehr du deine Portion frisch und blutig schätzt.“
„Ein Krieger muss sich richtig ernähren, sonst verliert er an Kraft.“
Nedeams Amtsraum war größer als der seines Vorgängers. Der Boden war mit grauen Steinplatten ausgelegt. Dort, wo eine Sitzgruppe stand, wurde er von einem dunkelgrünen Teppich bedeckt, in den das Wappen des Pferdevolkes eingewebt war. An der Stirnseite, gegenüber der Eingangstür, stand der große Schreibtisch mit seinem bequemen hochlehnigen Polsterstuhl. An der Wand hing eine elfische Karte der erforschten Gebiete, in einer Halterung war die Lanze mit dem Banner Nedeams befestigt. Das Banner