Gegen den Koloss. Achim Balters. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Achim Balters
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742752642
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kleine Junge im Trikot des 1. FC Köln, der jetzt über den Marktplatz geht, eine Zweieuromünze hochwirft und geschickt wieder auffängt, fühlt sich pudelwohl. Er hat den ganzen Morgen Fußball gespielt, zum Mittagessen gab’s superleckere Wiener Schnitzel und gleich kommt seine Oma, die ihm immer lustige Lieder vorsingt. Er glaubt, dass die Leute hier sein Trikot ganz toll finden. Hoch oben fliegt ein Flugzeug über ihn hinweg, vielleicht nach Amerika, da gibt es noch immer Indianer und viele Bären. Die Sonne blendet ihn, er kneift seine Augen zusammen, blickt zu dem langen Kondensstreifen hinter dem Flugzeug. Das ist alles weißer Rauch. Ganz viel, weil das Flugzeug so hoch und so schnell fliegt.

      Er denkt jetzt nicht daran, dass er bald mit seinen Eltern aus Anfelden wegziehen muss. Schon seit mehreren Monaten weiß er, dass böse Menschen hier alles kaputt machen werden, nur wegen der blöden Braunkohle. Er kann nicht verstehen, warum diese Menschen das tun dürfen und dafür nicht bestraft werden. Seine Eltern haben versucht, was hier passiert, kindgerecht zu filtern, um ihn nicht traurig zu machen. Sie haben ihm schon das Grundstück gezeigt, wo sie schon bald ihr neues Haus bauen werden. Er bekommt dann ein ganz großes Kinderzimmer, in dem er endlich mehr Platz für seine Eisenbahn hat. Darauf freut er sich schon, und er findet es ganz große Klasse, dass sein Freund Axel dann nur wenige Meter entfernt auch in einem neuen Haus wohnt. Was er von den Geschehnissen in Anfelden erfährt, beschäftigt ihn, aber er leidet nicht darunter. Die riesigen Schaufelradbagger, die er immer auf der Fahrt zu seiner Tante Ingrid sieht, die in Grevenbroich wohnt, sind ihm unheimlich. So groß wie Dinos.

      Einmal träumte er davon, dass er mit seiner Katze Micky allein zu Hause war, als plötzlich ein Schaufelradbagger, höher als die Kirche, langsam durch den Garten auf das Haus zusteuerte. Er stürmte auf die Terrasse, schrie entsetzt «Halt! Halt!» und Micky fauchte wie verrückt. Aber der Bagger ließ sich nicht stoppen, bewegte sich weiter auf das Haus zu. Er wollte weglaufen, zusammen mit Micky, doch sie war nicht mehr bei ihm, sondern stand vor dem Bagger, von ihm nur noch wenige Meter entfernt, fauchte weiter, wie ein Tiger. «Micky komm! Micky, komm doch!», schrie er, doch Micky bewegte sich nicht, gleich würde ihn dieser schreckliche Bagger zerquetschen. Er schlug die Hände vors Gesicht und wachte auf.

      «Nein», beruhigte ihn seine Mutter, die er sofort geweckt hatte. «So etwas kann hier nie passieren. Du brauchst vor den Baggern keine Angst zu haben. Die müssen noch lange in der tiefen Braunkohlengrube bleiben. Von dort können die gar nicht zu uns hinfahren.»

      «Ein Glück», seufzte der Junge und fühlte sich ganz geborgen. Seine Mutter blieb bei ihm. Er dachte noch kurz an sein neues, großes Kinderzimmer und schlief schnell wieder ein.

      Der kleine Junge geht jetzt an Blumenkübeln vorbei, die am Rand des Marktplatzes stehen, macht ein paar ausgelassene Hüpfschritte, nähert sich der Bäckerei, aus der sich gerade eine dicke fette Frau schiebt. Wenn die noch dicker wird, denkt er, passt die nicht mehr durch die Tür. Er wirft wieder die Zweieuromünze hoch, die in der Mittagssonne aufblinkt, fängt sie lässig-geschickt, summt fröhlich, hüpft, wirft noch einmal die Münze hoch, aber zu weit von sich weg. Er bekommt sie nicht mehr zu fassen, sie prallt gegen seine Handkante, fällt zu Boden, rollt auf einen Gully zu. Eine Schrecksekunde lang verharrt der Junge mit aufgerissenen Augen, dann rennt er hinter der Münze her. Zu spät, sie verschwindet ihm Gully. Er kniet sofort nieder, steckt seine Hand durch den Gully, bewegt sie mehrmals hin und her, fühlt nichts, nur eine schreckliche Leere. Er will nicht weinen, presst die Lippen zusammen, kann aber ein Schluchzen nicht unterdrücken; seine Schultern zucken.

      «Was hast du denn, Fabian?», hört er eine Frauenstimme über sich fragen. Er steht auf, wischt sich über die Augen, blinzelt zu der Frau hoch. Es ist Frau Lindner.

      «Ich habe», antwortet er stockend und zeigt zum Gully, «hier zwei Euro verloren. Sind jetzt weg.»

      «Ach, Fabian, das ist doch gar nicht so schlimm. Deswegen brauchst du nicht zu weinen», sagt Anna Lindner und stellt ihre Einkaufstasche auf das Pflaster.

      «Aber ich brauche … ich kann nicht … ich weiß nicht», stammelt er verstört. «Ich sollte doch … die zwei Euro … für ein Weißbrot. Papa wird bestimmt schimpfen.»

      «Deswegen? Das glaube ich nicht.»

      «Doch. Ganz bestimmt. Zwei Euro sind viel Geld. Wir müssen jetzt sparen. Für unser neues Haus.»

      Anna nickt bedächtig, sieht ihn einige Sekunden an, bückt sich und nimmt ein Portemonnaie aus ihrer Einkaufstasche.

      «Weißt du was, Fabian, du kannst das Weißbrot kaufen. Ich gebe dir die zwei Euro», sagt sie, während sie gütig lächelnd in ihr Portemonnaie greift.

      «Echt?», fragt der Junge verdutzt.

      «Ja. Hier hast du zwei Euro. Und ich gebe dir noch zwei Euro extra. Für dein Sparschwein.»

      Mit großen Augen sieht Fabian zu, wie Anna ihm die beiden Geldmünzen in die Hand legt. Er schließt die Hand fest um das Geld, das sich wunderbar anfühlt.

      «Danke, Frau Lindner. Das ist wirklich lieb von Ihnen», sagt er freudestrahlend.

      «Ist schon gut, Fabian», sagt Anna, die ihre Hand ausstreckt, als wollte sie ihm über den Kopf streichen, sie dann aber wieder zurückzieht. «So, ich muss jetzt gehen. Ich habe noch einiges zu besorgen.»

      «Ich auch. Ich geh jetzt zum Bäcker. Tschüss, Frau Lindner.»

      «Tschüss, Fabian.»

      Der Junge geht, die rechte Hand fest um das Geld geschlossen, auf die Bäckerei zu, dreht sich noch einmal um. Frau Lindner ist stehen geblieben und sieht zu ihm hin. Er winkt, sie winkt zurück. Er ist aufgewühlt, geht langsamer, Gedanken wirbeln durch seinen Kopf. Da hat er aber Glück gehabt. So eine liebe Frau. Soll er seinen Eltern sagen, was ihm passiert ist? Ja oder nein? Zwei Euro gehören ihm. Soll er sie wirklich in sein Sparschwein stecken? Oder sich etwas dafür kaufen? Oder seinen Eltern geben für das neue Haus? Er fühlt das Geld, öffnet trotzdem die Hand und vergewissert sich so, dass es tatsächlich noch da ist. Er schließt die Hand wieder und betritt die Bäckerei. Ein köstlicher Duft empfängt ihn. Oder soll er sich jetzt ein leckeres Teilchen mit Pudding kaufen?

      Anna Lindner wirft noch einmal einen Blick in Richtung Bäckerei, kann den Jungen aber nicht mehr hinter den spiegelnden Scheiben erkennen. Sie geht zur linken Seite des Marktplatzes, wo hinter einer Linde ein kleines Textilgeschäft um 20 Prozent reduzierte Waren anbietet.

      Ein reizendes Kerlchen, denkt sie. So einen Enkel hätte sie gern. Schöne braune Augen. Mit langen Wimpern. Weinte wegen lumpiger zwei Euro. Hat Angst vor seinem Alten. Bestimmt ein aufgeblähter Haustyrann. Schreinermeister. Kleinkariert. Auch seine Frau. Ziehen bald weg in eines dieser grässlichen Retortendörfer. Brave Umsiedler, die der Konzern problemlos entschädigen kann. Haben schon alles verkauft. Viel zu früh. Ein großer Fehler. Das wird ihr nicht passieren. Die haben sich von dieser Bande über den Tisch ziehen lassen. Das sind doch Kriminelle. Schlimmer geht’s nicht. Rauben und zerstören ihre Heimat. Es macht sie ganz fertig. Unfassbar. Hier regiert die Braunkohlemafia.

      Anna Lindner geht langsam über den Bürgersteig, der an kleinen, gepflegten Vorgärten vorbeiführt. Es kommt ihr so vor, als würde sie sich vorwärtsschleppen. Eine Müdigkeit, die sie in letzter Zeit öfter befällt, lastet auf ihr, eine seltsame Zerschlagenheit, die einfach da ist, nicht mit körperlicher Anstrengung zusammenhängt. Sie kann sie schon morgens beim Frühstück blockieren. Sie bleibt dann länger sitzen, als sie möchte, fühlt sich wie erstarrt. Sie glaubt, dass ihr tagtägliches Grübeln über das heimatvernichtende Unrecht, das hier herrscht, sie seelisch vergiftet.

      Ihre halb gefüllte Einkaufstasche scheint schwerer geworden zu sein. Sie klammert ihre Hand fester um den Griff, streckt ihren Oberkörper, will nicht wie eine alte Frau wirken, die sich mit gekrümmtem Rücken durchs Dorf müht. Sie muss sich zusammennehmen, darf sich nicht hängen lassen. Sonst geht es ihr noch wie Heike Weber, die wohl schon zu lange alleine lebt und immer schlampiger wird. Sie hat sie vor drei Tagen gesehen. Ein Bild des Jammers. Fettige Haare, die mit einem einfachen Gummiband zu einem stummeligen Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Und ein Schlabberkleid mit offenem Saum, das sie noch dünner machte. Schlurfte in billigen Latschen zur Apotheke.