«Das sehe ich dann nicht privat, sondern rein beruflich. Ich abstrahiere dann.»
«Und heute? Musstest du abstrahieren?», fragt er.
«Ging so», antwortet sie. «Nicht der Rede wert. Heute habe ich auch einen Kollegen behandelt. Einen Internisten. Hatte eine allergische Reaktion.»
«Auch Ärzte werden krank.»
«Und machen auch krank. Leider. Hüte dich vor den Ärzten.»
«Mache ich. Und vor Ärztinnen.»
«Es gibt Ausnahmen. Bei mir bist du in guten Händen.»
«Zweifellos. Als Patient und auch privat.»
Körper auf Körper genießt Richard in Birgits Schlafzimmer ihr erotisches Spiel, das noch immer den Reiz des Neuen hat, aber auch schon vertrauten Abläufen der Lust folgt. Eine Sinnlichkeit, die sich leidenschaftlich und im Gleichklang äußert. Theatralisches Beiwerk haben sie nicht nötig. Sie reden wenig, flüstern.
Birgits Freude am Sex überraschte Richard, als er zum ersten Mal mit ihr schlief. Vorher, es dauerte fast drei Wochen, schien sie auszuweichen, aufflammende Lust zwischen ihnen schnell zu drosseln oder gar zu neutralisieren. Er stufte es als Zurückhaltung und Vorsicht einer Medizinerin ein, die zum Körper ein anderes Verhältnis hat als er. Analytischer, mit anatomischem Blick, mehr auf die Funktion bezogen, nüchterner und damit weniger sinnlich, ziemlich antiseptisch, so vermutete er, würde sie sich beim Sex verhalten. Weil sie weitaus besser als über den Körper Bescheid wusste, kam er sich im Vergleich dazu naiv vor. Seine Spekulationen verunsicherten ihn zunächst, lösten sich auf, als er ihre anfängliche Reserviertheit verstand.
Ihr Körper steht für sie, so nennt sie es, unter Naturschutz. Ein einmaliges, kostbares Gut, das sie lebenslang bestmöglich pflegen und erhalten will. Mit einer strengen Zugangskontrolle wacht sie darüber. Das gilt für Ärzte ebenso wie für Männer, die sie kennenlernt. Liebeleien geht sie aus dem Weg. Ihr Körper ist für sie ein Privatgelände, in dem sich diejenigen aufhalten dürfen, die ganz bestimmte Voraussetzungen erfüllen und denen sie vertrauen kann. Frauen, die eine Art offenes Haus sind, in dem Männer ungeprüft verkehren, versteht sie nicht. Sie testet gründlich, wählt rigoros aus. Sie will nicht, dass ihr Körper für einen Mann ein Gebrauchsgegenstand ist. Dann würde sie sich entwertet fühlen. Sex ist für sie ein Geschenk, das sich ein Paar mit seinen Körpern macht. Er sollte ein Fest sein und dafür verlangt sie Exklusivität. Männer aus der 08/15-Liga stoßen sie ab. Von diesen Typen erwartet sie nur primitives Gestochere, Kerle, die beim Vögeln den Stier spielen und barbarisch brüllen, aber nichts anderes als lächerliche Dackel sind. Das Tierische beim Sex muss für sie menschlich verfeinert werden. Erst wenn sie von der Qualität des Mannes überzeugt ist und schon ein gewisses Vertrauen gewonnen hat, gibt sie sich hin. Wenn sie über Sex redet, neigt sie dazu, ihn mit etwas Pathos zu würzen. Richard, der sich bislang nach einem im Vergleich zu Birgit lässigeren sexuellen Auswahlverfahren gerichtet hat, schmunzelt nicht mehr darüber, sondern ist nun von ihrer Einstellung beeindruckt. Für ihn hat der Sex mit Birgit dadurch einen besonderen Reiz bekommen, in dem jetzt immer etwas Festliches mitschwingt.
Und auch heute Nacht erlebt er mit ihr zusammen wieder einen erotischen Festakt. Eine Intensität, die ihn überwältigt und alles andere vergessen lässt. Ihre Hingabe hat etwas Pures, Selbstverständliches. Sie sieht sich dabei nicht zu, wie er es schon bei anderen Frauen, besonders bei Iris, erlebt hat, sondern überlässt sich ganz ihrer Begierde, bewegt sich, als würde sie einem inneren harmonischen Rhythmus folgen. Sie redet kaum, flüstert nur einige Male seinen Namen oder kurze Sätze. Mal dirigiert sie, dann wieder er. Erotische Variationen spielen sie neugierig durch. Für Richard ist es ein scheinbar zeit- und grenzenloses Treiben in gemeinsamer Lust.
Am nächsten Morgen sieht ihn Birgit beim Frühstück prüfend an. Sie hat beide Arme auf den Tisch gestützt, den Kopf etwas zur Seite geneigt und die Stirn hochgezogen. Aus ihrem seidenen Bademantel wölben sich ihre mittelgroßen Brüste hervor. Ein schöner Anblick für Richard, an dem er sich jetzt aber nicht erfreuen kann, denn ihr Blick und ihr Schweigen verunsichern ihn. Er versucht, in ihrem Gesicht zu lesen, aber es bleibt ihm verschlossen. Es kommt ihm so vor, als würde sie bei ihm etwas diagnostizieren. Aber was? Er weicht ihrem Blick aus, nimmt ein Brötchen aus dem Brotkorb, schneidet es auf.
«Ich sehe dir an, dass dich etwas beschäftigt», sagt er.
«Es ist wegen uns. Es gibt da ein Problem», sagt sie ruhig.
«Was für ein Problem?», fragt er leise. Er ist beunruhigt, sein Herzschlag beschleunigt sich. Er weiß nicht, wie er sich verhalten soll, streicht Marmelade auf sein Brötchen.
Sie antwortet nicht sofort, schenkt sich eine Tasse Tee ein, trinkt einen Schluck.
«Gestern, Richard, das war ein so schöner Abend und eine noch schönere Nacht. Ich will mehr davon», sagt sie.
«Ach! Das kannst du haben. Mit Vergnügen. Nichts lieber als das», sagt Richard erleichtert.
«Wir werden also öfter zusammen sein?», fragt sie mit forschendem Blick.
«Natürlich. Was für eine Frage! Ich finde ja auch, dass wir uns zu wenig sehen. Höchste Zeit, das zu ändern», antwortet er.
«Wirklich?»
«Ja. Ich kann gar nicht genug von dir bekommen.»
«Wie meinst du das? Rein sexuell?», fragt sie und lacht leise.
«Rein sexuell», antwortet er, sich auf ihr Spielchen einlassend.
«Dachte es mir.»
«Und individuell», sagt er, ihre Hand streichelnd. Ihr Blick ist sanfter geworden.
«Gut, dass dir das noch eingefallen ist. Da hast du aber Glück gehabt. Du hast die Probe bestanden. Möchtest du noch Kaffee?»
«Ja, gern. Eine Tasse trinke ich noch.»
«Schön, dass du bis morgen bei mir bleibst», sagt sie den Kaffee einschenkend. «Dann fühle ich mich nicht so wie deine heimliche Geliebte.»
Überrascht sieht er sie an. Was geht heute Morgen bloß in ihr vor? So kennt er sie noch nicht. Es ist ein Wechselbad der Gefühle. Er weiß nicht, wie er sich verhalten soll.
«Du sollst dich nicht so fühlen», sagt er.
«Wie denn?», fragt sie. Er sucht nach einer Antwort, sein Denken scheint blockiert zu sein.
«Provoziere ich dich heute Morgen?», fragt sie.
«Ziemlich», antwortet er.
«Das ist auch beabsichtigt.»
«Warum eigentlich?»
«Ich brauche Klarheit. Nennen wir es einmal so.»
«Die kannst du haben. Sollte kein Problem sein.»
«Na schön. Bin ich etwa nicht deine Geliebte?», fragt sie.
«Nein. Das bist du auf keinen Fall», antwortet er.
«Was denn?»
«Die Frau, mit der ich zusammen bin. Meine Frau, meine Noch-Frau hat –», er unterbricht sich, sucht nach Worten, die ihr gefallen könnten.
«Ich höre.»
«Birgit, du bist für mich die Frau Nummer eins.»
«Nett. Und deine Frau die Nummer zwei.» Sie überlegt kurz. «Mit der du dann hin und wieder eine Nummer schiebst.»
«So kann man’s auch ausdrücken», meint Richard, der sich in die Enge getrieben fühlt. «Schon. Aber im Grunde ist ja meine Frau meine Geliebte«, sagt er und ärgert sich sofort, dass ihm das herausgerutscht ist. Birgit lacht sarkastisch.
«Charmant. Was für ein feiner Unterschied! Eine Frage der Perspektive. Du hältst dir also deine eigene Ehefrau als Geliebte.»
«Birgit, ich kann dich ja verstehen.»