Aus der Sicht des SPD-Kanzlerkandidaten ist es aber auch eine frustrierende Situation: Die plötzlich hereingebrochene Wiedervereinigung verdichtet sich zu einem politischen Ereignis, das als überraschende Zäsur das politische Programm von Lafontaine mit einem Mal obsolet werden lässt.85 Und ob es nun Trotz oder Überzeugung ist: Die Persönlichkeit des Kandidaten ist nicht in der Lage, sich dem gewandelten Umfeld anzupassen; hier ist der Saarländer, dem häufig Opportunismus unterstellt wird, alles andere als opportunistisch. Lafontaine trifft nicht die politische Stimmung der Vereinigungsromantik, Kohl schon. Unter diesem holen die Unionsparteien (43,8 Prozent) zehn Prozent mehr als die SPD (33,5 Prozent) – obendrein erhalten die Sozialdemokraten sogar 3,5 Prozent weniger, als sie 1987 mit Johannes Rau an der Spitze erreichten. Hätte Lafontaine lautstark in den Wiedervereinigungschor eingestimmt, wäre er zwar noch immer nicht automatisch Bundeskanzler geworden; doch zweifelsohne hätten sich seine Chancen enorm verbessert. So aber ist er in der Tat der „falsche Mann zur falschen Zeit“86. Und wer Stoff für gerechtfertigte Politikverdrossenheit sucht, kann Lafontaines Niederlage als einen Beleg auffassen für die politikverdrießliche Annahme, dass sich skeptischer Realismus in der Politik eben nicht auszahlt. Die Erwartungshaltung der Wähler, so zukunftsvergessen diese auch sein mag, will bedient, zumindest nicht ignoriert werden.
Für Lafontaine ist 1990 ein knallhartes Jahr: Am Abend des 25. April sticht ihn in der Köln-Mühlheimer Stadthalle die psychisch kranke Adelheid Streidel – eine 43-jährige Arzthelferin, die nach eigener Aussage von Jesus den Auftrag erhalten habe, einen Politiker zu töten87 – mit einem Messer in den Hals. Das lebensbedrohliche Attentat und die missglückte Kanzlerkandidatur markieren den Beginn einer Pechsträhne in Lafontaines bis dahin weitgehend im kontinuierlichen Aufstieg begriffener Karriere. Einen weiteren Rückschlag erleidet er dann 1992: Im Mai thematisiert ein Spiegel-Bericht die Pensionsregelungen saarländischer Politiker – am Beispiel Lafontaines. Der Ministerpräsident, obwohl aktiver Politiker, beziehe bereits Pensionszahlungen aus seiner Amtszeit als Saarbrücker Oberbürgermeister. Dem Anschein nach ein unerhörter Vorgang. Lafontaine sieht sich hingegen im Recht, argumentiert, langfristig würden ihn die Regularien mitnichten begünstigen.88 Nicht wenige Beobachter des politischen Geschehens dürfte diese Angelegenheit indes empört haben, bestätigt sie doch ein allgemeines Unbehagen gegenüber der politischen Elite und deren Umgang mit vermeintlichen Privilegien. Lafontaine ist jedenfalls Gegenstand öffentlicher Kritik, Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth anberaumt eine Parlamentssitzung, in der Abgeordnetenbezugsregelungen überprüft und hinterfragt werden sollen.
Im Januar 1993 ist es erneut der Spiegel, der Lafontaine in die Bredouille bringt: Diesmal werden Lafontaine, und seinem politischen Kompagnon Reinhard Klimmt, Kontakte in die Unterwelt nachgesagt.89 Ein im französischen Metz wegen Mordverdachts einsitzender Nachtclubbetreiber soll Lafontaine und Klimmt um Hilfe gebeten haben, ansonsten würde er kompromittierende Fotos in der Öffentlichkeit lancieren. Und Klimmt, der den Delinquenten persönlich kennt, soll mit diesem tatsächlich korrespondiert und Hilfe geleistet haben. Für Lafontaine ist das ein Desaster. Nun steht neben der noch frischen „Pensions-“ mit der „Rotlichtaffäre“ abermals ein Imagekiller im Raum. Obendrein übt der saarländische Ministerpräsident mit der Bundesratspräsidentschaft gerade ein höchst respektables und repräsentatives Amt aus, was den Rücktrittsdruck verstärkt. Aber Lafontaine tritt nicht zurück. Erst zwei Jahre später, im Januar 1995, stellt sich heraus, dass es offenbar gar keine delikaten Bilder des saarländischen Regierungschefs gibt. Aber die fiktiven Bilder der „Milieu-Affäre von Saalermo“90 sind in der Welt: Demnach sahnt Lafontaine Staatsgelder zum privaten Vergnügen ab und unterhält Beziehungen zu gemeingefährlichen Ganoven; der saarländische Ministerpräsident und Ex-Kanzlerkandidat – ein zwielichtiger Typ, gierig und erpressbar, aber von der Justiz unbehelligt.
Plötzlich ist aus dem Reformer Lafontaine, zumindest was die Klischeevorstellung der politischen Elitenmoral anbelangt, ein Politiker wie jeder andere geworden.91 Die Skandalserie blamiert und entzaubert die politische Figur Lafontaine und bedeutet einen der seltenen Tiefpunkte in seinem Leben. Die politische Presse fügt den jahrelangen Aufsteiger sogleich in das Muster gescheiterter Spitzenpolitiker ein: „Hohe Sterne fallen tief.“92 Es ist das einzige Mal bis zu seinem Rücktritt im März 1999, dass Lafontaine nicht mehr als Hoffnungsträger und Wunderheiler gesehen, sondern zweifelsfrei als Belastung für die SPD empfunden wird. Keiner der sozialdemokratischen Ministerpräsidenten nimmt ihn in Schutz, die wenigen Solidaritätserklärungen aus der Parteispitze wirken wie diplomatische Pflichtübungen ohne eigentliche Aussagekraft.93 Unter Demografen macht die Rede vom „Lafontaine-Effekt“94 die Runde, der die SPD in Meinungsumfragen einige Prozentpunkte koste.
Zwischen Bonn und Unterwelt
Nach den schwerwiegenden Verfehlungen, die im Hinblick auf seine früheren Sottisen auf die „Sesselfurzer“ der öffentlichen Verwaltung umso schwerer wiegen, scheint der einstige Politstar nun vor dem Karriereaus zu stehen. Was, in August Bebels Namen, hat sich dieser vorgebliche Sozialdemokrat da geleistest? Muss er jetzt nicht den Hut nehmen, ist Rücktritt nicht die einzig gebotene Reaktion, sind Renommee und Integrität nicht auf ewig ruiniert? Diese – zweifelsohne naheliegenden und nicht ungerechtfertigten – Fragen stehen damals jedenfalls im Raum. Umso mehr muss der Ausgang dieser politischen Episode verblüffen. Denn in Lafontaines politischem Leben bleibt dieser Vorgang tatsächlich nur eine Episode, seine Karriere geht vergleichsweise unvermindert weiter. Ja, sie soll sogar noch auf einen Höhepunkt zusteuern, auf den Parteivorsitz und den Wahlsieg 1998, ganz abgesehen von seiner maßgeblichen Beteiligung an der Parteigründung der LINKEN in den Jahren 2005 bis 2010. Denn ganz ehrlich: Wer hat sich denn noch erinnert an jene Fehltritte der frühen 1990er Jahre, als Lafontaine – Populist und Wunderkind der Politik – 2005 seine Rückkehr in die Tagespolitik antrat und sich einem kühnen Projekt, der Gründung einer neuen Linkspartei, verschrieb?
Die Halbwertszeit des politischen Skandals um Lafontaine ist sogar gering genug, um das Ganze nur ein Jahr später bereits vergessen zu machen. Denn da handeln die politischen Deutungseliten den Delinquenten bereits wieder für höchste Führungsämter in der SPD.95 Mit der Barschel-Affäre und Björn Engholms Verwicklung darin hat nämlich längst ein anderer, weitaus größerer und demnach sensationeller Skandal den Lafontaine’schen überdeckt. Außerdem rückt die öffentliche Meinung wieder auf die Seite des Saarländers, nachdem sich neuerliche Skandalvorwürfe des Spiegels als offensichtliches Resultat übermütiger Schlussfolgerungen in tendenziösen Berichten herausstellen.96 Dass z.B. der Ministerpräsident mit dem ehemaligen Rocker-Kneipier Totila Schott einen vorbestraften Schläger in die Staatskanzlei geholt und seinen „Kumpel aus dem Rocker- und Zockermilieu mit einer großkalibrigen Schusswaffe ausgerüstet“97 habe,