Der Ministerpräsident entkommt dem Problemkomplex damit eher gestärkt als geschwächt. Mit dem Aufschub bricht Lafontaine keine Versprechen – denn er hat keine gegeben. Außerdem zeigt er Bereitschaft, für den Erhalt der bedrohten Arbeitsplätze zu kämpfen und hierfür selbst vor einer Konfrontation mit der Bundesregierung nicht zurückzuschrecken. Und er schafft es, auch bei ökologiebewussten Wählern trotz seiner Verteidigung eines rückschrittlichen Wirtschaftszweiges nicht in Ungnade zu fallen. Denn zugleich erneuert er seine Kritik an Atomkraftwerken, zieht demonstrativ den umweltschädlichen Kohleabbau dem lebensgefährlichen Atomstrom vor. Damit gelingt Lafontaine das politische Kunststück, konservative Wirtschaftspolitik mit fortschrittlicher Energiepolitik zu vereinbaren, Arbeiterfamilien auf seiner Seite zu halten, aber gleichzeitig die ökologische Note seiner Programmatik zu wahren, kurz: materialistische wie postmaterialistische Befindlichkeiten parallel anzusprechen.
Auf diese Weise verschleißt er sich in der Regierungsverantwortung weitaus weniger, als dies möglich gewesen wäre. Lafontaines Ruf als zupackender und wirkungsvoller Ministerpräsident übersteht den Strukturwandel der saarländischen Wirtschaft. Trotz Stahl- und Kohle-Krise, einer wirtschaftlichen Zäsur also, hat sich Lafontaine in Amt und Würden nicht entzaubern lassen, ist er einem häufigen Effekt frisch gewählter Regierungen entgangen. Seine Resultate in der Kohle- und Stahlfrage erhöhen sogar eher seine Popularität unter den Saarländern, als dass sie sie verringern. Ironisches Detail der Geschichte: Hätte es sie damals gegeben, wäre der Ministerpräsident Lafontaine vermutlich mit allergrößter Härte von der LINKEN angegangen worden. Denn seine Regierung streicht Stellen im öffentlichen Dienst und verordnet allerorten Budgetkürzungen – in seiner ersten Legislaturperiode zwischen 1985 und 1990 spart das Lafontaine-Kabinett rund 260 Millionen Mark ein.36 Wichtig für seine politische Vita ist jedoch, dass Lafontaine keine Niederlage einstecken muss, dass er unter der Bürde ernster Probleme nicht zusammenbricht, sondern seinen Nimbus des politischen Siegers bewahrt. Besonders kurios: Obwohl sein Kultusminister als „Schulkiller“ verschrien ist, schadet Lafontaines Bildungspolitik keineswegs seiner Beliebtheit; denn er flankiert die Maßnahmen mit anderen Reformen, richtet z.B. Gesamtschulen ein und schafft das Sitzenbleiben nach der ersten Klasse ab.37 Auf diese Weise wirkt seine Politik nicht ausschließlich destruktiv, sondern tatsächlich reformatorisch, da sie einem erkennbaren Ziel verpflichtet wirkt.
Im Landtagswahlkampf 1990, dem naturgemäß große Symbolkraft für die nächsten Bundestagswahlen und einem möglichen Kanzlerkandidaten Lafontaine zugeschrieben wird, scheint die Wiederwahl des Ministerpräsidenten bereits nur noch reine Formsache zu sein. Die Saarländer fühlen sich mit „ihrem“ Oskar wohl, mit seiner resoluten Art und seinen provokanten Vorstößen in der Bundespolitik verleiht er ihnen Selbstbewusstsein und macht sie auch ein wenig stolz; er versprüht kosmopolitisches Flair und ist doch auch heimatverbunden und traditionsbewusst, sogar sein als opportunistisch ausgelegter Spürsinn für Gelegenheiten scheint der saarländischen Mentalität der Anpassung zu entsprechen – schließlich hat die Region seit dem Ersten Weltkrieg viermal die Nationalität gewechselt.38 Lafontaine und das Saarland passen gut zusammen und verleihen sich wechselseitig Stärke; die angesichts der regelmäßigen Wahlsiege unangefochtene Regentschaft untermauert Lafontaines politischen Status. Die vermeintliche Strukturschwäche seines Bundeslandes erweist sich für ihn letztlich als Vorteil.
Aus der Arbeiterfamilie in die Staatskanzlei
Darüber hinaus verfügt Lafontaine für seinen politischen Erfolg über eine Reihe von förderlichen Eigenschaften. Zunächst seine soziale Herkunft: Diese scheint wie gemacht für die Nachkriegssozialdemokratie. Er entstammt einer Arbeiterfamilie; seine Mutter arbeitete als Sekretärin, sein Vater – der als Wehrmachtssoldat den Krieg nicht überlebte – war gelernter Bäcker.39 In der Generation der Großeltern ging es noch proletarischer zu, der eine Großvater war Maschinist, der andere Bergmann. Nach dem Krieg – der Verbleib des Vaters war noch ungeklärt, das Familienhaus zerbombt – wuchs Lafontaine mit seinem Zwillingsbruder Hans und der Mutter in spärlichen Verhältnissen auf, womit er freilich das Schicksal vieler deutscher Familien in der Nachkriegszeit teilte: eine alltäglich improvisierte Lebensweise im ständigen Mangel.40 Es wäre daher zwar naheliegend und stimmig, aus der Sicht von Biografen auch verführerisch, jedoch keineswegs sinnvoll, anzunehmen, Lafontaines sozialer Aufstiegsdrang und seine Schwäche für kulinarische und materialistische Extravaganzen stammten allein aus dieser Erfahrung einer entbehrungsreichen Kindheit. Wie gesagt, in solchen Umständen aufzuwachsen, war damals kein Sonderfall. Und auch, ob der kindliche Oskar im Dillinger Stadtteil Pachten, in dem er aufwuchs, in Prügeleien mit anderen Kindern tatsächlich lernte, „sich selbst zu behaupten, als Einzelkämpfer zu überleben, gegenüber Älteren zu bestehen, oft allein, meist zusammen mit seinem verschüchterten Bruder“41, wie es Interpreten seiner Biografie vermutet haben, kann zumindest relativiert werden. Diese Umstände sprechen sicherlich nicht gegen den Charakter des späteren Politikers, der oft genug in die Kategorie „Alphamännchen“ eingeordnet wurde; doch daraus eine kontinuierliche Entwicklungslinie, ein frühzeitiges Merkmal abzuleiten, geht womöglich doch zu weit.
Und auch hier gilt: Allenfalls war das eine weitere Bedingung auf dem Weg zum späteren Spitzenpolitiker, jedoch keine entscheidende – waren doch höchstwahrscheinlich etliche Gleichaltrige ähnliche Raufbolde wie der junge Lafontaine. Die Notwendigkeit zur Behauptung in sozialen Rangeleien wurde im Übrigen noch dadurch abgeschwächt, dass die verwitwete Mutter viel Aufmerksamkeit und Kraft darauf verwendete, ihre beiden Söhne von den übrigen Kindern im Viertel abzuheben. Sie beschenkte sie mit ungewohnten Gaben wie Roll- oder Schlittschuhen, kleidete sie stets adrett und schickte sie sogar aufs Gymnasium, was im sozialen Umfeld der Lafontaines auch noch für einige Zeit danach außergewöhnlich war.42 Unwillkürlich tritt der spätere Lafontaine aber auch in den Worten einer ehemaligen Lehrerin desselben vor das geistige Auge: „Als Erstklässler war er schon ein Macher. […] Manchmal überraschte er mich mit Fragen und Antworten […] Viele Klassenkameraden haben unter ihm gelitten. Denn dieses kleine Kraftpaket benutzte schon früh die Ellenbogen und langte zu. Ehrgeiz war nicht sein herausragendster Charakterzug. Er wusste aber, was er wollte.“43 Doch derart prädestiniert sind politische Lebenswege kaum.
Neben der vermeintlichen sozialdemokratischen Musterherkunft kommt dem späteren Ministerpräsidenten zugute, dass er sich in unterschiedliche soziale Zusammenhänge begab. In seiner Schulzeit und während des Studiums traf Lafontaine auf vielfältige Sozialkontakte, die ihm Einblicke in unterschiedliche Bereiche der Gesellschaft gewährten. Als Schüler des Prümer Konvikts wuchs er inmitten katholischer Geistlicher auf; als Stipendiat des Cusanuswerkes konnte er auf verpflichtenden Ferienakademien während seines Studiums den Umgang mit Theologen nochmals vertiefen; an der Saarbrücker Universität experimentierte er zwei Jahre lang in einem physikalischen Labor; parallel saß er im Stadtrat; auch hatte er sich im Stahlbau und auf dem Finanzamt ein paar Mark dazu verdient.44 Diese Phase seines Lebens gab ihm die Gelegenheit, reichlich gesellschaftliches Kontextwissen zu sammeln und unterschiedliche Lebenswelten kennenzulernen.
Sofern es sich nicht um eine naturgegebene Fähigkeit handelt, resultiert daraus womöglich Lafontaines Geschick im Umgang mit Menschen, mit potenziellen Wählern. Denn Lafontaine ist einer der wenigen Politiker, denen der sichere Gang auf dem Parkett der Hauptstadtbühne ebenso gelingt wie die legere Teilnahme an Straßenfesten und der volkstümliche Besuch des lokalen Fußballstadions; er kann ebenso intellektuelle Debatten führen wie an der Biertheke bestehen. Die gleichzeitige Beherrschung des Provinziellen und Weltbürgerlichen ist jedenfalls eine wichtige Voraussetzung, um im Saarland Regierungschef zu bleiben, parallel aber in der Bundespolitik mitzumischen und auch mit ausländischen Staatsmännern zu verkehren.
Eine weitere zentrale Ressource seiner politischen Machtstellung sind eine fortschrittliche Programmatik und ein zeitgemäßer Habitus. In Saarbrücken profiliert er sich als ökologiebewusster Rathauschef, der die bundesweit erfolgreichen Grünen derart überflüssig erscheinen lässt, dass sie 1985 in Hessen unter dem Sozialdemokraten Holger Börner eine Regierungskoalition eingehen, im selben Jahr aber nicht einmal den Einzug in den saarländischen Landtag schaffen, dort überhaupt erst 1994 mit drei Abgeordneten vertreten sind: Der Oberbürgermeister Lafontaine pflanzt Bäume, lässt Energie sparen, legt Radwege