Die wundersame Ablehnung des Parteivorsitzes
Am meisten dürfte jedoch für Lafontaines Zeit in den 1980er Jahren erstaunen, dass er nicht damals schon SPD-Parteivorsitzender geworden ist. Willy Brandt hätte ihn, seinen „Lieblingsenkel“, wohl in der Tat gerne an der Parteispitze als unmittelbaren Nachfolger gesehen;66 doch es wird Hans-Jochen Vogel – der mehr als 17 Jahre älter als Lafontaine ist, als SPD-Kanzlerkandidat in der Bundestagswahl 1983 gegen Helmut Kohl verlor und seit 1983 die Bundestagfraktion führt. Ganz abwegig ist Vogels Kür freilich nicht, schließlich gilt seine Kanzlerkandidatur 1983 als pflichtbewusste Aufopferung für die kriselnde Partei, außerdem scheinen innerhalb der SPD die Sympathien ihm zunächst noch stärker als Lafontaine zu gelten, gegen den die über 35-jährigen Parteimitglieder mehrheitlich Vorbehalte haben.67 Hier zeigt sich erstmals deutlich Lafontaines auf den ersten Blick gänzlich unkarrieristischer Hang zum Zaudern. Warum greift er damals nicht einfach zu? Ist der Bundesparteivorsitz nicht etwa das Ziel seiner Bestrebungen – eines Mannes, dem man ständig Züge absolutistischen Herrschaftsanspruchs nachsagt und der sich dadurch in eine historische Traditionslinie mit August Bebel, Friedrich Ebert und Willy Brandt stellen könnte? Muss es da nicht geradezu verrückt wirken, den Parteivorsitz auszuschlagen?
Doch man kann es auch anders sehen: Erstens befindet sich die SPD damals in einem Dauertief – wieso also soll sich nicht zuerst Vogel in dieser misslichen Lage verbrauchen, um dann von einem frischen Hoffnungsträger Lafontaine abgelöst zu werden? Zweitens benötigt er Amtsinhaber mit dem Profil Vogels als Kontrastfolie, durch die seine Wirkung umso positiver ausfällt. Denn der akribische, pflichtbewusste und fleißige Vogel ist in vielem das Gegenteil von Lafontaine. Das macht ihn aber auch langweilig und ermüdend. Als Vogel auf dem SPD-Parteitag 1987 redet, so erinnert sich der ehemalige Verteidigungsminister Hans Apel, spielt er lediglich „die alten Platten, die wir schon so oft von ihm gehört haben“, ab – „[a]lles abgerufen aus dem Personalcomputer namens Hans-Jochen Vogel, mit Kraft vorgetragen, ohne menschliche Wärme, ohne politische Perspektive […] Da kommt kein großer Jubel auf. Bei mir erst, als ich erfahre, dass St. Pauli gegen Braunschweig 1:0 gewonnen hat.“68 Wenig später, 1988, so schreibt Apel – der kein Lafontaine-Anhänger ist und dessen Aussagen daher wenig verdächtig sind: „Doch nun kommt Lafontaine und bestimmt die öffentliche Debatte. […] So wird man ‚Vordenker‘, wird man interessant und schafft sich das Maß an Glamour, das man braucht, um Kanzlerkandidat zu werden. Wie blass und bieder sieht dagegen Hans-Jochen Vogel aus, der sich auf das Zitieren von Parteitagsbeschlüssen beschränkt.“69 Und als Lafontaine einmal in Abwesenheit des Parteichefs Vogel eine Vorstandssitzung leitet, freut sich Apel, dass da „Bürokratismus, die penible Detailwut von Hans-Jochen Vogel“70 fehlten. Auch zu anderen Gelegenheiten wiederholt sich dieser für Lafontaine schmeichelhafte Gegensatz: „Vogel trägt seine bekannten, auf Statistiken beruhenden Argumente vor. Das beeindruckt die Gäste nur wenig. Lafontaine redet frei und wenig präzise, dennoch hängen sie an seinen Lippen.“71
Und drittens hätte Lafontaine mit der frühzeitigen Übernahme des Parteivorsitzes nicht nur seinen Erfolgsnimbus gefährdet, sondern sich auch einer seiner politischen Stilmittel beraubt: der furcht- und grenzenlosen Provokation. Denn politische Attacken, insbesondere gegen formelle Autoritäten wie den Bundesparteivorstand der SPD, begeht er, so der ehemalige Saarland-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, Klaus Brill, „aus einem geradezu animalischen Vergnügen am politischen Kampfgetümmel, am Gemenge und Geraufe. Es scheint, als sei ihm das Kräftemessen mit einem von ihm herausgeforderten Gegner vor gebanntem Publikum eine sportive Leidenschaft, ein Elixier, das er benötigt, um sich seiner selbst zu vergewissern. Seine Art gesellschaftlicher Fortbewegung ist die Rebellion.“72 Das zeigt sich etwa 1987: Ungeachtet zweier Anwärter auf den vakanten Posten des Bundesschatzmeisters, die unterschiedliche Unterstützer in der Parteispitze haben, bugsiert Lafontaine kurzerhand den ehemaligen Hamburger Regierungschef Hans-Ulrich Klose als seinen Kandidaten an Brandt, Rau und Vogel vorbei in diese Elite-Position. Dieses Manöver lässt die übrige Parteielite blamiert zurück und scheint ein vielsagendes Indiz für die mittlerweile bereits große Macht des Saarländers zu sein.73
Vermutlich ist diese Demonstration faktischer Macht ein Ersatz für die fehlenden offiziellen Befugnisse; vielleicht hat Lafontaine einen Punkt erreicht, an dem er sich zumindest seiner Durchsetzungsfähigkeit vergewissern muss, wenn er schon nicht das eigentlich dazugehörige Amt des Parteichefs einnehmen will. Mit der Klose-Personale demonstriert Lafontaine seine tatsächliche Macht, die in diesem Ausmaß durch kein Amt formell verbürgt ist und die er deshalb auch nicht mit einem entsprechenden Amt verbürgt sehen muss. Auch macht ihn dies zum heimlichen Parteivorsitzenden; heimlicher Vorsitzender zu sein, macht hin indessen wohl noch interessanter, faszinierender und ist daher vermutlich auch die bessere Alternative, als das offizielle, satzungsmäßige Amt zu bekleiden. So kann er also auch weiterhin gegen übergeordnete Autoritäten aufbegehren und sich gegen das Parteiestablishment in Szene setzen.
Hinsichtlich einer Periodisierung von Lafontaines politischer Karriere bleibt an dieser Stelle festzuhalten: In den 1980er Jahren avanciert der Saarländer zum Star der SPD – womit er die Möglichkeiten, die sich ihm dargeboten haben, nahezu vollständig ausgeschöpft hat. Seine Macht ist groß genug, dass sich nahezu die gesamte SPD-Parteispitze über seine Volten aufregt, ihm aber trotz offener Widersprüche keine harte Kritik entgegenschlägt, er nicht einmal intern im geschlossenen Kreis gerügt wird.74 Früh schon spricht man, gleichermaßen bewundernd wie verdutzt, von der „Lafontainisierung“75 der SPD, von der „Methode Lafontaine“76, die im Bund verlorene Macht schrittweise auf Kommunal- und Landesebene zurückzugewinnen. Andere aus Lafontaines Kohorte, den „Enkeln“ Willy Brandts, sollen es ihm in den folgenden Jahren gleichtun: Gerhard Schröder 1990 in Niedersachsen und Rudolf Scharping 1991 in Rheinland-Pfalz.
Kanzlerkandidatur, Parteivorsitz und Machtwechsel: die 1990er Jahre
Folgerichtig lässt sich Lafontaine zum Kanzlerkandidaten küren. So will er es haben: Die Partei ruft ihn, womit er misserfolgsvermeidend nicht in der Rolle des Drängenden, sondern Gedrängten steckt, zumal er sich durchaus in der Lage sieht, Kohl im Kanzleramt abzulösen. Bis 1990 hätte man die Geschichte von Lafontaines politischer Karriere auch als vorgezeichneten Weg zur Kanzlerschaft erzählen können. Denn was lag näher, als dass ein Mann vom politischen Profil Lafontaines – ökologiebewusst, pazifistisch, insgesamt progressiv, dabei aber auch sozialstaatlich – angesichts eines Kontrahenten vom Schlage Helmut Kohls nach der Bundestagswahl im Dezember 1990 Kanzler werden würde? Bis dahin ist Lafontaine ein faszinierender Siegertyp gewesen, jung, dynamisch, fortschrittlich, mediengewandt – oder wie die Konstellation in jenen Tagen beschrieben wird: Die SPD tritt an mit dem „sieggewohnten, managementerfahrenen Internationalisten aus Saarbrücken gegen den bräsig-nationalen CDU-Kanzler aus Oggersheim“77. Und tatsächlich scheint irgendetwas dran zu sein an der überschwänglichen These, Lafontaines Erfolge hätten „bei den Genossen zu fast mystischem Vertrauen in Fortüne und Fähigkeiten des saarländischen Lebenskünstlers und Tabubrechers geführt“78. Doch es ist Kohl, der am Ende gewinnt. Denn Lafontaines politische Biegsamkeit reicht für einen Wahlsieg im zwischenzeitlich wiedervereinigten Deutschland nicht aus. Lafontaines Kandidatur ist auf eine allein westdeutsche Wahl ausgelegt gewesen. Womöglich hat er sich in der neuen Situation der „Wende“ ganz einfach überschätzt, indem er irrtümlich annahm, Kohls Kurs der schnellen Verschmelzung zweier wirtschaftlich gänzlich konträr situierter