Überdies wirken die noch tonangebenden Genossen der Nach-Schmidt-SPD im Unterschied zu Lafontaine optisch und rhetorisch wie Relikte einer vergangenen Zeit. Gestalten wie Hans-Jochen Vogel (Jahrgang 1926), Johannes Rau (Jahrgang 1931) oder Hans-Jürgen Wischnewski (Jahrgang 1922) stammen sichtbar aus einer anderen Politikwelt, die nicht so recht zu den postindustriellen Leistungseliten der späten 1980er und der 1990er Jahre passen will. Im Gegensatz zu ihnen befindet sich Lafontaine hinsichtlich seiner politischen Einstellungen, seinem Wertehaushalt und Erscheinungsbild näher an 2000 als an 1960. Auch das dürfte ihm in den Wahlkabinen Zuspruch verschafft haben.
Außerdem zeigen sich damals schon zentrale Elemente von Lafontaines Machtmethodik, die auch in Zukunft einen wesentlichen Beitrag zu seinem Erfolg leistet: erstens das Regieren im Umfeld von Vertrauten, die seine persönlichen Schwächen komplementär ausgleichen; und zweitens eine raffinierte Mediennutzung. Schon als Saarbrücker Oberbürgermeister, und wie später auch als Ministerpräsident, nimmt Lafontaine nach seinem Amtsantritt einen Personalaustausch vor, in dessen Folge er wichtige Positionen an den Schaltstellen der Macht mit Vertrauten besetzt.47 So macht er seinen Anwalt zum Justizminister und seinen Kultus- und Wissenschaftsminister hat er bereits Jahre zuvor als seinen Stellvertreter im SPD-Unterbezirk Saarbrücken-Stadt kennengelernt. Aus dem Rathaus nimmt er fähige und zugleich loyale Verwaltungs- und Exekutivexperten mit in die Staatskanzlei. Und zum Fraktionschef macht er seinen langjährigen Gefährten Reinhard Klimmt, der bei Abstimmungen die denkbar knappe Parlamentsmehrheit von nur einem Mandat sicherstellen soll. Das ist freilich keine ausnehmend geniale, sondern eher eine übliche Machtmethode, die schon seit Urzeiten von Politikern angewandt wird – doch ob sie auch der gegenwärtigen Politikkohorte im 21. Jahrhundert noch annähernd so selbstverständlich geläufig ist, kann zumindest bezweifelt werden. Lafontaine jedenfalls hat sie noch beherrscht, damit auch Kritik auf sich gezogen, doch diese geflissentlich ignoriert – womit er letztlich gut gefahren ist. Als er später SPD-Parteivorsitzender, noch später LINKE-Chef wird, erinnert sich niemand mehr an das „Geschmäckle“ seiner Personalpolitik im Saarland.
Doch Lafontaine schart nicht allein Persönlichkeiten um sich, auf deren Integrität er sich vollauf verlassen kann, die ihre Aufgaben zufriedenstellend erledigen und ihm nicht in absehbarer Zeit als Konkurrenten gegenüberzutreten drohen; darüber hinaus halten sie ihm auch – und vor allem – den Rücken frei. Erst dadurch kann er sich auf seine bundespolitischen Eskapaden, seinen Machtgewinn in der SPD und seine Rolle in der bundesweiten Öffentlichkeit konzentrieren. Der freche Oskar ist eine Folge des geschickten Machtinhabers Lafontaine. Neben Fraktionschef Klimmt zählt zu diesem Ensemble Staatskanzleichef Reinhold Kopp.48 Der bürokratisch versierte Jurist, den Lafontaine in eine großzügige Besoldungsstufe hievt, kontrolliert die Kabinettstätigkeit und setzt Lafontaines Willen um – auch er dabei stets loyal und zuverlässig. Daneben umgibt sich Lafontaine zwar mit etlichen Lakaien, von denen er keinen Widerstand zu befürchten, aber auch keine Inspiration zu erwarten hat, jedoch auch mit zwei „geistigen Sparringspartnern“49: dem Germanisten Hans-Georg Treib und dem Volkswirt Lothar Kramm. Wie kaum jemand sonst können die beiden sich in Lafontaine intellektuell hineinversetzen und ihn mit Gedankenimpulsen und Redemanuskripten versorgen. Ihnen ist wohl ein nicht unerheblicher Anteil daran zuzuschreiben, dass Lafontaine mit zahlreichen Büchern zu zeitgenössischen Gesellschaftsproblemen in der zusätzlichen Rolle eines politischen Intellektuellen auftreten kann.
Am wichtigsten ist dennoch Reinhard Klimmt: Kaum einem Beobachter bleibt verborgen, dass Lafontaine und Klimmt „in einer symbiotischen Beziehung“50 agieren, in Klimmts Worten „ein Kopf und ein Arsch“51 sind. Der nahezu gleichaltrige Klimmt ist einer der wenigen – manche würden sagen: der einzige –, deren Widerspruch Lafontaine duldet und sogar als Ratschlag aufgreift. Klimmt entlastet Lafontaine wie kaum ein zweiter: Vor schwierigen Entscheidungen besprechen sie sich; und wenn der Ministerpräsident mal wieder keine Lust auf zeitraubende, letztlich langweilige Kabinettsgespräche hat und entnervt von dannen zieht, übernimmt einfach der ebenfalls anwesende Fraktionschef Klimmt die Sitzungsleitung.52 Normalerweise ist Präsenz an Entscheidungsorten im politischen Geschäft eine unverzichtbare Grundlage von Machtsicherung und Machterwerb; doch bei Klimmt kann sich Lafontaine seine Abwesenheit erlauben, weil er weiß, dass dieser sie nicht zugunsten eigener Ambitionen ausnutzt, sondern die Regierungsgeschäfte in seinem Sinne führt. Derartig loyale Partnerschaften finden sich in der Politik tatsächlich selten – Lafontaine hat mit Klimmt an seiner Seite daher auch viel Glück. Denn Klimmt verschafft ihm Spielräume, die ihm ansonsten seine Persönlichkeit – die ihn gelegentlich selbstverliebter und unduldsamer als die meisten anderen Politiker sein, zumindest wirken lässt – verwehrt hätte. Während „der Oskar“ polarisiert und mancherorts in der Partei für Unmut sorgt, ist es „der Klimmt“, der versöhnt – eben ein mustergültiger Troubleshooter.53 Mithin: Ohne Klimmt wäre es wohl nicht (gut-)gegangen.
Insgesamt verfügt Lafontaine während seiner Zeit als saarländischer Ministerpräsident also über ein extrem schlagkräftiges, in sich komplementäres Team, das seine Schwächen ausgleicht und ihm viel Freiraum für politische Aktivitäten jenseits seiner unmittelbaren Amtspflichten verschafft. Denn er mag zwar ein politischer Tausendsassa sein, ein Alleskönner ist er aber dennoch nicht. Auch hier gilt: Dass politische Anführer der Unterstützung durch einen Mitarbeiterstab bedürfen, ist Standard nahezu jeder Herrschaftspraxis und schon immer so gewesen. Doch gibt es stets Unterschiede in der Funktionstüchtigkeit solcher „Küchenkabinette“, die erheblichen Einfluss auf Bestandskraft und Qualität von politischer Führung besitzen.54 Lafontaine beweist also entweder die Fähigkeit oder hat einfach das Glück, lange Zeit auf taugliches Personal zurückgreifen zu können.
Daneben setzt Lafontaine weiterhin auf die Medien als Machtinstrument. Noch ehe Parteifreunde und offizielle Gremien von seinen Ideen, Vorhaben und Forderungen erfahren, teilt er sie Journalisten mit. Das sorgt zwar häufig bei seinen Parteifreunden für unliebsame Überraschungen, doch hat er damit naturgemäß den Überraschungsmoment auf seiner Seite und sieht sich zudem nicht durch die zeitaufwändige Kommunikation mit anderen Ebenen blockiert. Nicht viele andere Politiker haben den inzwischen durchaus üblichen Austausch von Information gegen Publizität, der zwischen Politikern und Medienmachern stattfindet, derart häufig und drastisch praktiziert wie Oskar Lafontaine; Gerhard Schröder und Joschka Fischer mag dies noch gelungen sein. Davon zeugen insbesondere Lafontaines zahlreiche Gespräche mit dem in den 1980er und frühen 1990er Jahren auflagenstarken Spiegel: „Der Druck wird immer stärker“55, „Die Koalitionsfrage unverkrampft sehen“56, „Jetzt habe ich den Schnuller ausgespuckt“57, „Saarland – Asyl für linke Lehrer?“58, „Bonn hat heute kein Konzept“59, „Ich allein bin nicht die Mehrheit“60, „Wenn wir eine Mehrheit hätten…“61, „Ich habe nicht gekniffen“62, „Die traditionellen Rollen aufbrechen“63, „Man muß auch anstößig sein“64 – um hier nur einige zu nennen. Mit solchen Stellungnahmen in Leitmedien inszeniert er sich als Intellektueller unter den Politikern, als Impulsgeber und Reformer; zugleich setzt er andere Akteure unter Zugzwang, um seinerseits am Ende als weiser Avantgardist da zu stehen, wohingegen der übrige Politikertross ihm lediglich nacheilt.
Merkwürdigerweise ist Lafontaines unstetes Familienleben kein Malus für den Fortgang seiner Politikkarriere. Eigentlich müsste man annehmen, das mit inzwischen drei Trennungen auf den ersten Blick instabile Familienleben habe Lafontaine stark belastet. Schließlich kann man sich leicht vorstellen, wie viel emotionale Kraft solche Brüche in Partnerschaften beanspruchen können, wie schwer sie überdies als prominenter, noch dazu in staatlicher Verantwortung stehender Persönlichkeit der Öffentlichkeit zu vermitteln und unter dem Druck der Medienaufmerksamkeit auszuhalten sind. Zumal, dass im katholisch geprägten Saarland ein seit 1988 zweifach Geschiedener mit absoluten Mehrheiten regierte, ist zumindest nicht selbstverständlich, wenn man die Religionszugehörigkeit nicht endgültig als wahlrelevanten Faktor ignorierte. Im Gegenteil verschaffte ihm dieser Umstand vermutlich sogar Sympathien: Denn die Bürger – somit auch: Wahlberechtigten – sahen in ihm keinen leblosen Politikroboter, kein selbstverleugnendes, gefühlskaltes Konstrukt, sondern einen Menschen mit Fehlern, die dieser auch als solche freimütig eingestand65, statt sie hinter unechten Inszenierungen zu verbergen.
War eine offizielle Trennung nicht viel besser, weil aufrichtiger als eine künstlich