Damit war er am schmerzlichsten Punkt seiner schonungslosen Selbstanalyse angekommen. All die bisherigen Punkte wären nicht so tragisch, hätte er mehr Erfolg bei Frauen. - Unwillig zauste, zupfte und zippelte Stefan an seinem rechten Ohrläppchen. Aber tapfer setzte er seine Selbsterforschung fort.
Wenn er auch im Kollegenkreis manchmal mit seinen Erfahrungen prahlte und wenn er auch - von einem Schwips beschwingt - schon mal den Draufgänger spielte, im Grunde seines Herzens war er fast schüchtern. Und seine Attraktivität für das andere Geschlecht musste durchaus bescheiden genannt werden.
Angela verließ ihn kurz nach der Enttäuschung mit dem graumausigen Golf. Seitdem hatte er nur einige flüchtige Bekanntschaften gehabt. Und auch bei der neuen Mieterin schien er nicht gerade offene Türen einzurennen. Seit sie vor einer Woche in die Wohnung über seiner gezogen war, hatte er, wann immer er sie sah, ihr schöne Augen gemacht. Doch die Reaktion war unterkühlt bis eisig.
"N. Frohwein" hatte er auf ihrem Türschild gelesen. Er stellte sich vor, sie hieße Nicole, vielleicht weil ihn einmal eine Frau namens Nicole in einem Film völlig bezaubert hatte, und seine Nachbarin ähnelte jedenfalls äußerlich verblüffend dieser Nicole: die gleichen dunkelbraunen Augen, die so gut zur Farbe der lockigen Haare passen. Das Gesicht, das vielfältige und tiefe Gefühle erahnen lässt. Und ein Zauber, eine irgendwie geheimnisvolle Ausstrahlung.
Unglaublich, aber seine Vorstellung bewahrheitete sich noch am selben Tag, denn er sah ein Päckchen im Hausflur liegen, auf dem groß "Nicole Frohwein" prangte. Stefan war überzeugt: Dass ich ihren Vornamen intuitiv erraten habe, muss einfach ein gutes Omen sein. Und "Frohwein" klang in seinen Ohren wie eine Einladung. Aber offensichtlich galt diese Einladung nicht ihm. Oder noch nicht. So frostig, wie sie geguckt hatte.
Stefan stöhnte nach dieser Seelenpein schmerzlich auf.
"Gottseidank verkabelt", murmelte er und griff wieder zur Fernbedienung. Bei über 50 Programmen würde sich sicher eins finden lassen, das ihn seine missliche Lage und seine trübe Stimmung vergessen ließ. In der Phantasie in ein anderes Leben wegtauchen, sich in einen anderen, glücklicheren, erfolgreicheren Mann zu versetzen, das genau brauchte er jetzt. Doch gerade, als er einschalten wollte, meldete sich wieder die innere Stimme.
- Stefan, Flucht in die Fernsehwelt ist keine Lösung.
- Du schon wieder?! Kannst du mich nicht in Ruhe lassen!
- Ich will dir nur helfen.
- Danke. Du hast mir klargemacht, dass ich eine Niete bin. Das war sehr hilfreich.
Stefan genoss seinen Sarkasmus richtig.
- Ich kann dir aber auch eine Lösung deiner Probleme aufzeigen.
- So? Wie soll es denn für einen Verlierer wie mich eine Lösung geben?
- Jetzt ergehst du dich in Selbstmitleid.
- Ich will nichts mehr von dir hören!
Trotzig drückte Stefan den 1. Programmknopf. Gerade lief die Sendung "Frühstücksfernsehen". Ein Mann, etwa in Stefans Alter, erzählte, wie mies sein Leben verlaufen war, bis er die Methode des Positiven Denkens für sich entdeckte. Das brachte die große Wende, von nun an glückte ihm alles. Er sei sein Übergewicht losgeworden, habe beruflich Erfolg und - wie er augenzwinkernd versicherte - über seine Chancen beim anderen Geschlecht könne er sich nicht beklagen. Eigentlich gegen seinen Willen hörte Stefan gespannt zu, drückte dann aber missmutig das nächste Programm - in seiner depressiven Stimmung wollte er nichts von positiver Problemlösung hören.
Hier lief Pop-Musik, vielleicht tat ihm das ganz gut. Eine Band spielte eine bekannte Melodie. Der Song gefiel ihm, bis er auf den Text achtete. "You can get it, if you really want, but you must try, try and try .... " Man kann alles erreichen, wenn man es wirklich wünscht? Als ob das so einfach wäre. Unwillig, aber doch nachdenklich geworden, schaltete Stefan wieder ein Programm weiter.
Diesmal erwischte er eine Szene aus einer Therapie: Der Patient lag in entspannter Haltung auf einer Couch, die Augen geschlossen, das Gesicht ruhig und heiter wie ein schlafendes Baby. Der Psychologe saß neben ihm und sprach mit sanfter, aber eindringlicher Stimme auf ihn ein: "Es geht Ihnen gut, supergut. Sie fühlen sich zuversichtlich und optimistisch. Ihre Probleme fallen von Ihnen ab. Sie gewinnen neues Selbstbewusstsein. Ab sofort denken Sie stets positiv."
Stefan überlegte: Jetzt bin ich dreimal direkt nacheinander auf das Positive Denken gestoßen. Scheinbar zufällig, aber kann das noch Zufall sein? Doch wer oder was will mir hiermit einen Ratschlag geben? Das Schicksal?
Jedenfalls nicht die innere Stimme, denn die hatte bestimmt keinen Einfluss auf das Fernsehprogramm. Und das befriedigte ihn, denn er wollte sich nicht von dieser überheblichen Stimme dirigieren lassen. Vielleicht könnte er es ihr mit Positivem Denken zeigen. Und überhaupt, warum sollte er das nicht einfach mal ausprobieren?!
Stefan dachte an seinen zweiten Vornamen: Candidus: Der kam aus dem Lateinischen und bedeutete soviel wie "aufrichtig", "unverfälscht", "strahlend" und vor allem auch "glücklich", wie ihm sein Vater schon als 4-Jährigem erklärt hatte. Und dass es diesen Begriff ebenfalls in Englisch und Französisch gab: candid bzw. candide. In der Schule wurde Stefan oft als "Candyman" aufgezogen. Seitdem hatte er sich angewöhnt, den Zweitnamen zu verschweigen. Aber jetzt fand er neuen Gefallen daran: Mein Name Candidus ist eine Verheißung, ich werde "der Strahlende", "der Glückliche", "der Positive" werden. Ich will ausziehen, um das Positive Denken zu lernen.
Doch wie lernte man das?
Sofort musste er an seinen Freund Helmut denken. Nun, ein Freund war er eigentlich nicht, nicht mehr. Vor etwa zwei Jahren hatte er verschiedene Psychokurse zur Steigerung von Selbstsicherheit und Selbstbehauptung mitgemacht. Danach ließ er nichts mehr von sich hören.
Als Stefan ihn trotzdem einmal besuchte, warf Helmut ihm an den Kopf, er verbreite zu viele negative Schwingungen, ähnlich wie ein ungeleerter Mülleimer. Stefan war gekränkt gegangen und hatte sich seitdem bei dem allzu selbstsicheren "Frechling" nicht mehr gemeldet. Doch erinnerte er sich genau, dass Helmut immer wieder von der Macht des Positiven Denkens sprach, die ihn zum Erfolgsmenschen gemacht habe. Er war also ein Experte.
Stefan drückte seinen aufbegehrenden Stolz herunter und wählte die prägnante Telefon-Nummer, die er noch genau im Kopf hatte. 44 13 13. Kernig tönte es aus der Muschel:
- Hier Helmut Schmahl.
- Hallo Helmut, hier ist Stefan. Wie geht es dir?
- Welche Frage, natürlich bestens. Jedem positiven Menschen geht es doch blendend. Aber wie sieht es mit dir aus?
- Na ja, nicht so gut.
Stefan war etwas kleinlaut.
- Ich weiß, du musst noch deinen Mülleimer runterbringen.
- Wie bitte?
- Deinen Seelenmüll ausleeren.
Stefan stutzte. Schon wieder der Vergleich mit dem Mülleimer. Am liebsten hätte er den Hörer aufgeschmissen. Aber er wollte ja etwas von Helmut. So presste er mit zusammengebissenen Zähnen hervor:
- Du kennst dich doch aus mit diesem Positiven Denken. Auch ich möchte damit anfangen. Kannst du mir einen Rat geben, wie ich das am besten mache?
- Das freut mich aber, mein Alter, dass du jetzt endlich auch den richtigen Weg einschlagen willst. Am klügsten beginnst du mit dem Lesen wichtiger Bücher. Hol dir mal etwas zu schreiben, dann gebe ich dir eine Reihe von Titeln durch! - Fertig? Also dann los: "Die Superkraft Positiven Denkens", "Die Allmacht Ihres Unterbewusstseins", "Pack den Tiger in den Psychotank", "Du bist der Größte", "Der Kosmos gehört dir" ...
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