Die Leiden des Henri Debras. Maike Braun. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Maike Braun
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742782502
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„Ich habe gesehen, wie Sie hier eingezogen sind. Auf der Männerstation. Bleiben Sie lange?“

      „Wer weiß, jetzt vielleicht schon. Wurde Ihre Krankengeschichte bereits aufgenommen?“

      Ich weiß nicht, was er meint.

      „Dann machen wir das jetzt“, sagt er und schlägt eine frische Seite in seinem Notizbuch auf.

      Er fragt mich nach meinem Namen. Ich nenne ihn. Er fragt mich nach meinem Beruf, meiner Adresse. Ich nenne sie ihm. Er fragt nach meinem Alter.

      Ich erinnere mich nicht daran. Nicht an mein Geburtsjahr, nicht an den Monat und nicht an den Tag.

      „Vielleicht fällt es Ihnen später ein.“

      Er hat sanfte Augen, als er das sagt.

      Er fragt mich nach meinen Vater, ich mag nicht darüber reden. Nach meiner Mutter, wie sie im Bett lag, die Hände gefaltet, und das letzte Sakrament erhielt. Ich sehe sie vor mir in diesem Moment, ihr zartes Lächeln wie der erste Frühlingswind. Ich erzähle ihm davon.

      Der Doktor nickt, seine Augen sind fast geschlossen. Hört er noch zu? Das Schreibgerät schläft auf dem Tisch.

      Als ich ihm von meinen Kopfschmerzen berichte, richtet er sich auf.

      „Sprechen Sie weiter. Was passiert als nächstes?“

      „Die Welt verschwindet. Ich verschwinde.“

      Er hakt nach. Seine Feder duckt sich über dem Blatt wie eine Spinne vor dem Absprung.

      „Ich stehe in unserer Straße vor dem Gemüseladen“, erkläre ich. „Links davon befindet sich der Hutmacher, rechts der Fleischer.“

      Er nickt mir aufmunternd zu.

      Ich erzähle, wie die Welt von den Rändern her aufgefressen wird, bis sie sich ganz auflöst.

      Er schaut mich an. Ich sehe den Unglauben in seinen Augen. Er hält mich für einen Schwindler.

      Er kann es nicht verstehen. Er gehört hierher. Mit seinem neuartigen Federhalter. Er gehört in dieses Hospital mit den dicken Mauern und dem schönen Garten, an diese Schreibtisch, selbst wenn er staubig ist. Ihn treibt nichts davon.

      „Henri“, sagt er und seine Stimme klingt wie das Summen von Bienen an einem Lavendelstrauch. Ich soll ihm ganz genau erzählen, was passiert. Vielleicht kann er mir doch helfen.

      „Es ist nichts mehr da“, sage ich. „Kein Gemüse, keine Hüte, keine Kalbsköpfe.“

      Was ich stattdessen sehe, will er wissen.

      „Nichts“, sage ich. „Ich sehe nichts. Es ist alles wie von einer Tafel gewischt. Tage, Wochen, manchmal auch Monate später, wache ich in einer wildfremden Stadt auf.“

      Seine Feder gerät in Bewegung. Huscht über die Seite. Hinterlässt eine schwarzleuchtende Spur.

      „Haben Sie Kinder?“, frage ich.

      Er hält inne. Schaut mich an. Schüttelt den Kopf.

      Ich möchte gern Kinder. Mit Kindern ist alles anders. Sie vertäuen einen in der Welt.

      Ich erzähle ihm von einem Mädchen, das ich unten im Hof bei den Waschweibern gesehen habe.

      „Sie ist nicht wie die anderen“, sage ich und verstumme.

      Wie soll ich es ihm erklären?

      Über den Schreibtisch hinweg greift er nach meinem Arm, nimmt meine Hand in die seine. Er wird mich festhalten, wenn ich wieder weglaufen will. Das spüre ich.

      Er bittet mich, weiter zu sprechen.

      „Ich höre einen Namen. Von einer Stadt, von einem Land. Dann kommen die Kopfschmerzen, alles verschwimmt und ich marschiere los. Ich suche diesen Namen, diese Stadt, dieses Land. Als ob ein Fremder sich meinen Körper ausleiht. Mit ihm spazieren geht. Quer durch Europa.“

      Ich blicke auf, er nickt mir zu, ich fahre fort.

      „Wenn dieser Herumstreuner, dieser Dieb, genug hat oder in Schwierigkeiten gerät, lässt er meinen Körper am Straßenrand liegen wie einen ausgetretenen Schuh. Dort finde ich mich wieder.“

      „An mehr erinnern Sie sich nicht?“

      Ich schüttle den Kopf. Er lässt meine Hand los. Gleich wird er mich wegschicken. Doch er notiert nur etwas in seinem Buch. Die Feder tanzt über das Papier. Ein schöner Anblick. Ich möchte auch tanzen lernen.

      Die Tür fliegt auf. Eine Schwester marschiert herein. Nicht die von der Station. Eine andere. Mit Augenbrauen quer über das Gesicht wie ein Galgen.

      „Hier stecken Sie also“, sagt sie streng und knallt einen Stapel Akten auf den Schreibtisch des Doktors.

      „Schwester Marguerite, würde es Ihnen etwas ausmachen?“, sagt der. „Ich führe gerade ein Gespräch mit einem Patienten.“

      Eine ihrer Augenbrauen krümmt sich.

      „Das würde es“, sagt sie.

      Der Doktor sieht wütend aus. Seine Lippen ziehen sich in den Bart zurück.

      Aus einem an ihrem Gürtel befestigten Beutel holt sie ein braunes Glasfläschchen, streckt es mir entgegen. Es sieht aus wie das, aus dem sie dem Kranken auf der Station gegeben haben. Ich will nicht ruhig gestellt werden. Ich will nicht festgeschnallt werden.

      Ich stehe auf. Sie packt mich am Arm. Ich schüttle sie ab.

      „Jeden Morgen nehmen Sie davon einen Löffel. Dann fühlen Sie sich spätestens in einem Monat besser“, sagt sie.

      „Ich bin nicht wie der Mann heute Morgen. Ich bin nicht verrückt.“

      „Deswegen bekommen Sie ja auch etwas anderes“, sagt sie.

      „Was ist das?“, fragt der Doktor.

      Sie sagt etwas, das ich nicht verstehe, fügt „Gegen seine Fallsucht“ hinzu.

      Ich falle nicht, ich verschwinde. Ich hebe die Hand. Will sie aufklären.

      „Keine Widerrede. Sie gehen jetzt nach Hause und schlucken brav jeden Tag Ihre Arznei.“

      Nach Hause? Ich will nicht nach Hause. Dort kommt er wieder, der Dieb.

      „Ich möchte hier blieben - beim Doktor.“

      Die Schwester bleckt die Zähne. Sie sind schief.

      „Der Doktor ist noch gar kein Doktor“, sagt sie. „Der einzige Doktor, den es hier gibt, ist der Herr Professor. Und der sagt, Sie sollen nach Hause gehen.“

      Ich schaue den Doktor an, der keiner ist.

      „Ich rede mit dem Professor“, sagt er.

      „Trotzdem gehen Sie jetzt nach Hause“, sagt die Schwester.

      Ich drücke mich gegen die Wand. Ich will da nicht hinaus, wo sie mit Gurten warten und den Patienten Pech einflößen.

      Die Schwester faucht den Doktor an. Er schnaubt zurück. Mein Schädel pocht.

      Wie soll mich der Doktor heilen, wenn ich nicht im Hospital bin?

      „Henri, bitte tun Sie, was Schwester Marguerite sagt.“

      „Herr Doktor, Monsieur, lassen Sie mich nicht im Stich.“

      Der Doktor legt seine Hände auf meine Schultern, blickt mich an. Seine Augen haben die Farbe von Harz in der Sonne. Fast kann ich die Pinien riechen. Er verspricht mir, mich nicht im Stich zu lassen. Er gibt mir sein Wort.

      Die Schwester drängt mich zur Tür hinaus. Ich drehe mich zum Doktor um. Er wird mich heilen. Er muss mich heilen.

      „Sie haben es mir versprochen.“

      Ich stolpere über die Türschwelle. Die Tür fällt zu. Der Doktor ist verschwunden.

      „Tisson, was gibt’s denn