„Herr Doktor, hier oben“, rief er. Es war Henri.
„Geh schon mal vor, Joaquin“, sagte Tisson zu seinem Freund und lief über die Straße. Dabei rempelte er einen Mann mit einem Blumenstrauß an. Tisson entschuldigte sich, fragte sich, woher ihm der Kerl bekannt vorkam, und blickte die Fassade hinauf.
Henri steckte seinen Lötkolben zurück in das Kohlebecken und schlitterte ein Stück das Dach hinunter, wobei er sich am Kamin festhielt.
„Herr Doktor, hier oben“, rief er erneut und winkte. „Henri!“ Tisson lief sofort auf ihn zu. „Wie geht es Ihnen? Nehmen Sie Ihre Medizin?“
Henris legte schnell den Finger vor den Mund, blickte sich verschreckt nach dem anderen Mann um.
„Rosalie, die Kleine meines Bruders ist krank“, rief Henri vom Dach herunter. „Können Sie vielleicht nach ihr schauen, Herr Doktor? Es ist ganz in der Nähe. Wenn Sie Zeit haben?“
Tisson nickte Henri zu. Ein Krankenbesuch bei seiner Nichte. Dem konnte auch Aupy nichts entgegensetzen. Wenn er jemals davon erfahren sollte. Er erkundigte sich nach der Adresse.
„Es macht Ihnen doch nichts aus, oder?“
„Ich habe es doch versprochen: Ich helfe Ihnen. Aber nennen Sie mich nicht immer Herr Doktor, das bin ich noch nicht.“
„In Ordnung, Herr Doktor – Monsieur.“ Henri schaute, als habe er ein Geschenk bekommen, mit dem er nicht mehr gerechnet habe. Dann kletterte er wieder das Dach hinauf.
Eine Hand legte sich auf Tissons Schulter.
„Was ist denn nun?“, fragte Laçao.
„Ich muss noch einen Patienten besuchen“, antworte Tisson und schwang sich auf sein Véloziped.
Er bog in die Straße mit dem Hutmacher, dem Fleischer ein, schob sein Véloziped in den Hof, nahm die Stiege in den zweiten Stock und klopfte an die Tür. Eine hagere Frau öffnete einen Spaltbreit.
„Madame Debra?“
„Wer sind Sie? Was wollen Sie?“
„Ihr Mann, Henri Debra, schickt mich.“
„Das ist nicht mein Mann. So einen hätte ich nie geheiratet. Was ist mit ihm? Ist er wieder ausgebüxt? Wer sind Sie überhaupt?“
Tisson erklärte den Grund seines Besuches.
„Sie sind Arzt. Sagen Sie das doch gleich. Kommen Sie herein.“
Nicht Arzt, wollte er sie korrigieren, doch die Frau schlurfte bereits weiter, stieß die Tür zur Stube auf, bedeutete Tisson einzutreten.
„Warten Sie einen Moment, ich hole Rosalie.“ Sie schloss, das Fenster, das sie weit aufgerissen hatte, und verschwand im Nebenzimmer.
Tisson behielt seinen Mantel an und blickte sich um. Die Fensterscheiben waren trüb, der Vorhang davor auf einer Seite eingerissen. Zwischen Kommode und Tür war ein Bett gezwängt, auf dem Tisch lagen Seidenbänder, Metalldrähte und zu Blütenblättern geformtes Seidenpapier, auf dem Boden ein Haufen schmutziger Wäsche. Es stank nach Abtritt, obwohl die Frau gerade gelüftet hatte. Tisson schob vorsichtig mit dem Fuß den Wäschehaufen zur Seite.
In dem Moment kam Madame Debra mit einem vielleicht zehnjährigen Mädchen zurück, stieß es in Tissons Richtung.
Das Kind konnte sich kaum aufrecht halten. Seine Wangen waren eingefallen, die Haut wirkte pergamentartig. Wie ein Tier aus seiner Höhle stierte es Tisson an.
Er fühlte seine Stirn. Eiskalt. Er zwickte das Mädchen in den Arm. Die Hautfalte blieb stehen. Es stöhnte nicht einmal.
„Das Kind ist völlig ausgetrocknet“, sagte er.
„Was soll ich machen?“, fragte die Frau. Vor vier Tagen habe sich das Mädchen erbrochen und dann Durchfall bekommen. „Sie macht mir die ganze Bude voll. Dabei gibt es im Hof einen Abort. Aber sie kackt in die Ecke!“
„Madame Debra, das Kind ist schwer krank.“
„Ich meine ja nur. Wir haben hier kein fließend Wasser wie die feinen Herrschaften. Ich muss jedes Mal zum Brunnen im Hof laufen. Ich bin den ganzen Tag nur damit beschäftigt, den Dreck wegzumachen. Und dann habe ich noch keinen Sous verdient.“
Tisson zog das Mädchen zu sich heran und hörte es ab. Wenigstens waren die Lungen frei. Er wies die Mutter an, ein Glas Wasser und etwas Zucker zu bringen.
Die Alte blieb neben dem Stuhl stehen. „Ich hab’s Ihnen doch gerade gesagt: Hier gibt es kein fließend Wasser.“
„Dann bringen Sie mir Wein und einen Löffel.“
Die Frau murmelte, „Wein soll ich bringen, hat man das gehört?“, schlurfte aber in die Küche.
Sie kam mit einer blassroten Flüssigkeit zurück. Tisson hielt das Glas gegen das Licht. Flocken trieben darin.
Madame Debra rang die Hände. „Was soll ich denn tun? Wir trinken alle den Wein mit Wasser gestreckt. Dass Leute wie Sie das nicht verstehen.“
Tisson roch an dem Wasser, befand es für ausreichend und begann dem Mädchen löffelweise den Wein einzuflößen.
Madame Debra ging im Zimmer auf und ab, warf immer wieder einen Blick auf das Mädchen in Tissons Arm.
„Sie sehen doch, wie wir leben“, sagte sie. „Da hilft es nicht, wenn man einen Mitesser hat, der keine regelmäßige Arbeit findet, weil er ständig auf Wanderschaft geht. Und jetzt auch noch das Kind krank.“
„Jetzt seien Sie endlich still.“ Die Frau war nicht zu ertragen. Kein Wunder wollte Henri lieber im Hospital bleiben.
Das Mädchen drückte Tissons Hand. Hatte sein harscher Tonfall es erschreckt? Er stellte das Glas ab, streichelte die Wange des Kindes, bis sich dessen Griff wieder löste, und gab ihm den Rest zu trinken.
„Wo schläft das Kind?“, fragte er, woraufhin Madame Debra ins Nebenzimmer huschte.
Tisson folgte ihr, das Mädchen auf dem Arm. Im trüben Licht einer Petroleumlampe, konnte er gerade noch sehen, wie Madame Debra Kissen und Decke von zwei aneinander gestellten Stühlen nahm, die offensichtlich als Schlafstatt für das Mädchen dienten, und auf dem einzigen Bett im Raum ausbreitete.
„Hier“, sagte sie und klopfte mit der Hand auf die Matratze.
Tisson legte das Mädchen vorsichtig darauf ab.
Wieder in der Stube sagte er zu Madame Debra: „Wenn Sie sich nicht um das Kind kümmern, wird es sterben.“
„Sagen Sie doch so etwas nicht. Herr Doktor, bitte. Natürlich kümmere ich mich um sie. Was soll ich nur tun? Was soll ich nur tun?“
Sie schlug die Hände vors Gesicht.
„Sie haben gesehen, wie ich ihr gerade den Wein eingeflößt habe?“
Die Frau nickte in ihre aneinander gelegten Hände hinein.
„Jede halbe Stunden geben Sie ihr Wein mit Zucker. Und eine Kante Brot. Haben Sie das verstanden?“
In ein paar Tagen werde er wiederkommen. Wenn noch jemand im Haushalt erkranke, solle sie ihm unverzüglich Bescheid geben.
„Herr Doktor, wie stellen Sie sich das vor? Jede halbe Stunde. Ich bin jetzt schon hinterher. Hundert Sträuße hätte ich heute Morgen abliefern sollen. Die Kiste steht auf der Kommode und es sind nur fünfzig Sträuße darin. Und jetzt, wo das Kind mir nicht helfen kann, fehlt das Geld an allen Ecken und Enden.“
„Machen Sie, was ich Ihnen gesagt habe. Dann wird Rosalie auch bald wieder gesund und kann Ihnen helfen.“ Die Schrunden an den Fingern des Mädchens waren ihm nicht entgangen.
Madame