Die Leiden des Henri Debras. Maike Braun. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Maike Braun
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742782502
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sie durch Arlettes Arm.

      Tisson stieß einen Schrei aus. Ein Stuhl polterte zu Boden. Der Rotschopf sprang herbei, reckte den Kopf über Arlettes Arm.

      Und Arlette lächelte. Offen. Sichtbar.

      Den Blick fest an Aupy geheftet. Doppelgestirn, um das die Welt rotierte. Die Nadel als Achse. Quer durch das Fleisch. Tisson war es, als spüre er den Stich in seiner eigenen Brust.

      Der Rotschopf streckte die Finger nach der Wunde aus. Suchte nach Blut. Es kam keines.

      Tisson wischte seine Hand zur Seite. Der Rotschopf zuckte zusammen. Stierte ihn an. Maß ihn mit den Augen. Wich zurück.

      Mit einem Ruck zog Aupy die Nadel wieder heraus. Entließ Arlette aus seinem Blick. Strich sich über den Schnurrbart und ermahnte seine Zuhörer zur Ruhe.

      Er trommelte gegen das Pult, während die Studenten wieder ihre Plätze einnahmen. Arlettes Blick war ausdruckslos, wie zuvor, wie der ihrer Gefährtinnen, erloschen.

      Aupy sprach: „Sie sehen also: Die Hysterie kann sehr viele Formen annehmen und zu erstaunlichen Resultaten führen.“ Er bedeutete Tisson, die Patienten wieder hinaus zu bringen.

      Zurück in seinem Arbeitszimmer fragte Aupy Tisson, wie ihm die Darstellung gefallen habe.

      Tisson dachte an Arlettes lächelndes und doch nicht lächelndes Gesicht und suchte nach einer geeigneten Antwort, als Aupy fortfuhr: „Die heutige Demonstration war erst der Anfang. Wir werden jede Woche neue Fälle vorstellen, Statistiken aushängen, Hysterische in den verschiedenen Stadien eines Anfalls vergleichen.“

      Er schob die Hand unter seine Weste, die Lider halb geschlossen.

      „Die Schule Bordeaux’. Das klingt gut, finden Sie nicht? Ich werde für Bordeaux sein, was Charcot für Paris ist. Sind Sie bereit dazuzugehören?“

      Tisson nickte.

      „War ja auch nicht anders zu erwarten.“

      Er solle sich von Schwester Marguerite die Krankenakten der Frauenstation geben lassen und sie studieren. Wenn er damit fertig sei, könne er wieder kommen und Bericht erstatten.

      „Worauf warten Sie? Ich bin beschäftigt. Gehen Sie, gehen Sie.“

      „Ich habe noch kein Arbeitszimmer.“

      „Kein Arbeitszimmer, kein Arbeitszimmer. Fragen Sie Schwester Marguerite, die kümmert sich darum.“

      Tisson betrat die Frauenstation. Schwester Marguerite sei gerade im Keller bei den Unheilbaren, er solle später wieder kommen. Er versuchte zu erklären, dass das nicht ginge, da er nicht wissen, wo er sich in der Zwischenzeit aufhalten solle.

      „Es ist schönes Wetter. Gehen Sie in den Garten“, sagte die Schwester. „Hier können Sie jedenfalls nicht bleiben.“ Man habe schon genug Ärger mit herumstreunenden Stallburschen.

      „Ich verstehe“, sagte Tisson. Aber er sei kein Stallbursche, sondern der neue Assistent des Professors und als solcher benötige er ein Arbeitszimmer.

      In diesem Moment hörte er eine Stimme, von der er nicht sagen konnte, ob sie zu einer Frau oder einem Mann gehörte. „Wer sind Sie? Was wollen Sie hier?“

      Eine Schwester, das Gesicht wie das Gewand in graue Falten gelegt, stand vor ihm. Ihre buschigen Augenbrauen schoben sich aufeinander zu wie zum Kampf zweier Raupen.

      Er stellte sich vor. Die Raupen entspannten sich.

      „Ihr Arbeitszimmer befindet sich hinter der Tür am Ende der Männerstation“, sagte sie.

      „Aber da ist doch nur die Arrestzelle.“

      „Und die Wäschekammer.“ Sie lächelte. „Wir haben die Arrestzelle für sie frei geräumt. Ein Schreibtisch und ein Regal sind schon drin.“

      „In der Arrestzelle?“

      „In der ehemalige Arrestzelle, jetzt Ihrem Arbeitszimmer. Das Schloss habe ich entfernen lassen. Sie können also nicht von außen eingeschlossen werden.“

      „Das liegt auf der anderen Seite des Hospitals. Das ist meilenweit vom Professor entfernt. Weiß er davon?“

      „Der Professor befasst sich nicht mit Nebensächlichkeiten. Ich schlage vor, Sie beziehen Ihr Zimmer – bevor jemand anderes auf die Idee kommt.“

      Tisson presste seine Tasche gegen den Leib und eilte durch den Garten, stieg die Treppen hinauf, durchquerte die Männerstation, schloss die Tür am Ende der Station auf, betrat den winzigen Vorraum und stieß die eisenbeschlagene Tür der ehemaligen Arrestzelle auf.

      Ein Schreibtisch, ein Regal und Gitter vor den Fenstern. So also sah sein Zimmer im modernsten Hospital Frankreichs aus. Hier also sollte er die Wissenschaft vorantreiben, seine Entdeckungen machen, den Ruhm der Schule Bordeaux’ begründen. Er trat ans Fenster. Es stank nach Bleichlauge. Im Gebäude gegenüber war die Wäscherei untergebracht.

      Tisson wischte den Staub vom Schreibtisch, holte einen Bogen Papier aus seinem Ranzen und schrieb an Lantier.

       Lieber Doktor,

       mein erster Tag als Assistent von Professor Aupy ist vorüber. Abgesehen von einer Rüge seitens des Professors, ich solle mich bitteschön nicht mit männlichen Patienten abgeben, einer Vorlesung, in der ich mich vor allem durch Mitgefühl für die Patientinnen statt wissenschaftlicher Neugier auszeichnete, und einer ehemaligen Arrestzelle als Arbeitszimmer, verlief der Tag ohne nennenswerte Zwischenfälle.

      Er strich das Wort Rüge durch, das klang zu streng, schrieb Hinweis stattdessen, las den Brief noch einmal, ersetzte Arrestzelle durch Besenkammer. Auch das klang zu dramatisch. Er zerknüllte den Brief. Lantier würde ihn beim nächsten Besuch darauf hinweisen, dass er als Landarzt über eine ganze Villa verfügen könnte.

      Tisson nahm einen neuen Bogen, als es an der Tür klopfte.

      „Herein“, sagte er und fuhr mit der Feder über das Blatt. Es blieb blank. Er schüttelte den Federhalter. Nur ein Kratzen.

      Wieder klopfte es.

      „So kommen Sie doch herein.“

      Als es ein drittes Mal klopfte und niemand eintrat, marschierte Tisson zur Tür und riss sie auf.

      Vor ihm stand Henri Debra.

      Kapitel 2

      Der Doktor hat ein grobes Gesicht, ein gutes Gesicht. Seine Hände packen zu, halten fest. Das mag ich.

      Er fragt, was mich hierher bringt und schraubt seinen Federhalter auseinander. Er füllt ihn mit schwarzem Blut. Dann setzte er den Deckel wieder auf. So etwas habe ich noch nie gesehen.

      „Was ist das?“, frage ich und deute auf das seltsame Schreibgerät.

      Ein Lächeln spaltet das breite Gesicht des Doktors.

      „Eine ganz neue Erfindung“, sagt er. Ein Geschenk von einem guten Freund, der viel herumkommt.“

      Ich komme auch viel herum. Mehr als mir lieb ist.

      Man brauche die Feder nicht ständig in Tinte zu tauchen, erklärt er. „Der Füller trägt gewissermaßen sein Tintenfass mit sich.“

      Eine schöne Idee: alles bei sich zu haben, das man braucht. Er reicht mir den Federhalter. Ich schüttele den Kopf.

      „Ich kann nicht schreiben.“

      Außerdem habe ich Angst, dass sich das Ding von mir nicht zähmen lässt, mit mir macht, was es will.

      „Das kann man lernen“, sagt er und wie zum Beweis wird die Feder lebendig, rast über die Seite, zuckt wie ein Dämon.

      Er legt den Füller wieder zur Seite. Ich stoße ihn mit dem Finger an. Er rührt sich nicht.

      Ich