Die Leiden des Henri Debras. Maike Braun. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Maike Braun
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742782502
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mein Lieber, später“, meinte Aupy und ging weiter.

      Tisson eilte dem Professor nach. Der Patient wollte ihm folgen, doch die Schwester hielt ihn zurück.

      „Bitte, Herr Doktor, ich bin nicht verrückt“, rief er Tisson hinterher.

      Der drehte sich noch einmal nach dem Mann um. Gern hätte er etwas Tröstendes gesagt, ihm aufmunternd zugenickt, doch die Schwester hatte ihn bereits zu seinem Bett zurückgeführt.

      „Für den Patienten mögen Sie schon Doktor sein“, sagte Aupy auf dem Korridor, wischte sich eine Strähne und das Lächeln aus dem Gesicht, „aber für mich sind Sie das noch lange nicht.“

      „Ich wollte nicht voreilig erscheinen“, sagte Tisson. „Der Mann schien mir interessant. Was ist über ihn bekannt?“

      „Ich vermute: Epileptiker“, sagte Aupy. „Sein Vater starb an Hirnerweichung. Es scheint in der Familie zu liegen.“

      Tisson folgte Aupy die Treppe hinunter und einen weiteren Gang entlang.

      „Ich würde mir den Mann gern genauer anschauen“, beharrte er.

      „Ich dachte, Sie sind hier, um die Hysterie zu studieren? Da werden Sie bei Männern nicht viel Glück haben.“

      „Ich weiß“, sagte Tisson. „Aber Sie behandeln doch auch andere Nervenleiden.“

      „Aber meine Forschung gilt der Hysterie. Und die meiner Studenten ebenso.“

      Aupy hastete weiter den Korridor entlang.

      “Wohin gehen wir?“, fragte Tisson.

      Aupy blieb abrupt stehen. „Werden Sie mir jetzt den ganzen Tag nachlaufen wie eines dieser Schoßhündchen, die gerade bei der Damenwelt so in Mode gekommen sind?“

      Tisson stieß die Luft aus. Dies war sein erster Tag. Er war auf die Unterstützung des Professors angewiesen.

      „Ja, schon gut. Kommen Sie mit. Ich will sowieso noch einmal mein Manuskript für die Vorlesung durchgehen.“

      Sie verließen das Gebäude, eilten durch den Garten. Aupys Arbeitszimmer befand sich am Kopfende der Frauenstation auf der Westseite des Hospitals.

      Tisson hatte sich das Untersuchungszimmer des Professors anders vorgestellt. Zwar gab es einen Tisch mit einigen Glasbehältern und Tiegeln, einem Mikroskop, vor allem aber gab es Bücher. Handbreite, griffeldünne, in Leder eingebundene, Atlanten, Pamphlete, Zeitschriften, alle nebeneinander eingepasst wie Ziegel eines Fachwerkshaus. Tisson sog die Luft ein. So viele Bücher und alle unter seinen Fingerspitzen. Er strich über Lederrücken, betastete Goldlettern. Über das Wesen und die Behandlung der Hysterie, las er. Charakteristik und Symptomatologie der Hysterie, Hypochondrie und Hysterie: Enthüllungen über die Natur derselben, Die Hysterie und ihre Heilung. Er zog den letzten Band heraus, schlug ihn auf. Das schwere Papier lag rau unter seinen Fingern.

      Die Hysterie, stand dort, sei eine schwer zu fassende Krankheit. Sie wandle ständig ihre Gestalt und finde neue Ausdrucksformen. Deswegen, so las Tisson weiter, sei es von allergrößter Bedeutung, die Hysterie in ihren mannigfaltigen Erscheinungsformen als solche zu erkennen.

      Tisson seufzte. Es gab noch viel zu lernen.

      „Hören Sie auf, so zu schnauben.“

      Tisson drehte sich um. Aupy kratzte mit seiner Feder über das Papier, als hätte er nichts gesagt.

      Tisson ertappte sich dabei, wie er langsam die Luft durch den Mund entweichen ließ. Er stellte das Buch zurück und betrachtete die Zeichnungen an der anderen Wand. Eine Kopie des Synoptischen Tableaus des großen, vollständigen und regelmäßigen hysterischen Anfalls von Richer. Man sah Miniaturen von Frauen mit verrenkten Körpern, die Arme hinter dem Rücken verknotet, den Kopf zurückgeworfen, den Leib aufgebäumt. Alle Posen waren einem der vier Stadien der Hysterie gemäß Charcot, dem Meister der Nervenheilkunde, zugeordnet.

      Tisson kannte das Klassifizierungsschema auswendig.

      „Muskelzuckungen, Konvulsionen des gesamten Körpers, leidenschaftliche Gebärden und schließlich Delirium“, sagte er und warf einen Blick über die Schulter auf Aupy, der immer noch schrieb.

      Tisson studierte die Photographie neben dem Tableau. Sie zeigte eine mit einem Anstaltshemd bekleidete Frau, die sich in ihrem Bett aufbäumte. Nur der Kopf und ihre Füße berührten die Matratze.

      „Bisher konnte niemand diesen arc-en-ciel, dieses Aufbäumen, außerhalb der Salpêtrière in Paris beobachten“, murmelte er.

      „Das wird sich jetzt ändern.“ Aupy warf den Federhalter aus der Hand und sprang auf. „Deswegen bin ich zurück nach Bordeaux gekommen. Ich werde Charcots Methoden hier einführen. Sie haben von der Pariser Schule gehört? Von der Salpêtrière, diesem Moloch von einem Krankenhaus?“ Er befeuchtete sich die Fingerspitzen mit der Zunge und zwirbelte die Enden seines Schnurrbartes. „Bald schon wird alle Welt von der Schule Bordeaux’ sprechen.“

      Aupy nahm ein Manuskript von einem Stapel Unterlagen und hielt es hoch. „Wir werden die Wissenschaft vorantreiben. Im modernsten Hospital, mit den modernsten Methoden. Uns wird gelingen, was keiner zuvor vermochte.“

      Er ging um den Schreibtisch herum, tippte sich an die Schläfe und flüsterte: „Wir werden den Sitz der Hysterie finden. Hier oben. Die Gelehrten werden nach Saint-André pilgern statt an die Salpêtrière. Zu mir statt zu Charcot.“

      Tisson musterte den schmalen Mann, wie er im Raum stand, die Füße schulterbreit, eine Hand zur Faust geballt, in der anderen das zusammengerollte Manuskript. Der jüngste Professor in der Geschichte Bordeaux’. Verfasser eines Standardwerkes über Sehstörungen bei Hysterischen. Wie man hörte, hervorragender Pianist. Busenfreund des Bürgermeisters. Dieser Mann konnte Charcot das Wasser reichen. Und er, Tisson wäre dabei, würde Seite an Seite mit ihm die Wissenschaft revolutionieren.

      Aupy drückte Tisson das Manuskript in die Hand, nahm den Talar vom Haken, und stürmte aus dem Zimmer, Tisson hinterher.

      „Gehen wir zur Vorlesung?“

      Ohne seinen Schritt zu verlangsamen, zog Aupy die Robe vollständig über und sprang die Treppe hinunter. „Legen Sie das Skript auf dem Pult ab und dann halten Sie sich im Hintergrund“, rief ihm Aupy über die Schulter zu.

      Tisson stieß die Luft aus und setzte Aupys Talar nach.

      Der Vorlesungssaal befand sich im Erdgeschoss direkt unter dem Speisesaal. Allerdings war er nur halb so groß. Die deckenhohen Fenster gaben den Blick auf einen der kleineren Gärten zwischen den Gebäudetrakten frei. Gaslampen erhellten zusätzlichen den Raum. Auf der linken Seite ging eine schmale Tür zu einem Nebenzimmer ab.

      Etwa zwanzig Studenten standen in Grüppchen beieinander und plauderten, kippelten auf ihren Stühlen oder kritzelten vor sich hin.

      Aupy stürmte auf das Rednerpult zu. Augenblicklich verstummten die Studenten, stellten ihre Stühle aufrecht, zupften an ihren Anzugärmeln und schlugen frische Seiten in ihren Notizbüchern auf. Ihr Blick war auf Aupy geheftet.

      Dieser klopfte mehrmals mit den Handknöcheln auf das Rednerpult. Tisson legte das Manuskript vor ihm ab, trat zur Seite. Alle Sitzplätze waren belegt. Er ging auf einen der für die Patienten reservierten Stühle hinter dem Pult zu.

      Aupy zog unter dem Pult ein Schemel hervor und stieg darauf.

      „Meine Herren“, begann er, „ich werde Sie mit der modernen Nervenheilkunde vertraut machen.

      „Möglicherweise“, sagte er und räusperte sich, „möglicherweise, sind Sie aus anderen Vorlesungen muntere Plauderstunden gewöhnt. Das wird jetzt anders. Möglicherweise sind Sie es gewohnt, monotone Vorträge zu hören. Auch das wird jetzt anders.“

      Er wippte ein paar Mal auf dem Schemel auf und ab und setzte dann seinen Vortrag fort.

      „Wir sind hier zwar – aus Pariser Sicht – in der Provinz. Aber deswegen sind wir noch lange nicht provinziell.“